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Die Wahrheit des Krieges

Als ich etwa sieben Jahre alt war, wurde mir an den Tagen des 9. Mai und 22. Juni etwas anders. Es waren um die 30 Jahre vergangen seit dem Ende des „schrecklichsten Krieges der Menschheitsgeschichte“, wie uns damals beigebracht wurde. Die Großmütter und die Großväter aller meiner Klassenkameraden hatten an der Front gekämpft. Die einen kamen noch zu den feierlichen ersten Schultagen, die anderen lagen bereits unter der Erde. Aber es gab sie – die Helden des Zweiten Weltkrieges. Meine Großeltern waren nicht darunter. Drei von ihnen waren zu jung für die Front gewesen, und einer meiner Großväter war als Elektroingenieur und Leiter eines strategischen staatlichen Objektes vom Wehrdienst befreit. Ich war sehr neidisch darauf, dass alle jemanden hatten, der im Krieg gewesen war, und ich nicht.

Erst viele Jahre später habe ich verstanden, was für ein Glück das ist, wenn eine globale Katastrophe die eigene Familie verschont. Wenn die eigenen Verwandten am Leben sind, und Oma und Opa ihre eigene Geschichte dessen erzählen können, was passiert ist und was sie selbst gesehen und erlebt haben. Diese menschliche Wahrheit des Krieges stimmte oft nicht mit dem überein, was im Fernsehen gesagt, im Kino gezeigt und in der Schule als einzig mögliche Version der Ereignisse gelehrt wurde.

Natürlich gab es Filme und Bücher, die den Lügen der Propagandisten des sowjetischen Generalstabs widersprachen. Doch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es schien, als wüsste die Mehrheit der Leute, die in der Sowjetunion geboren wurden, nur das, was die Partei ihnen erlaubte zu wissen und woran sie sich erinnern durften. Doch zum Glück war dem nicht so. Zu Hause – oft mit der Mahnung „Sag das niemandem auf der Straße oder in der Schule!“ – erzählten Eltern und ältere Verwandte das, was nicht in den sowjetischen Kanon gepasst hatte. Und diese wahren Geschichten waren später die Saat für die Freiheit zu denken, zu sprechen und zu handeln.

Um den Zweiten Weltkrieg zu begreifen, muss man natürlich mehr lesen als eine wissenschaftliche Monografie oder die Memoiren Churchills, von Mansteins oder Schukows. Doch nicht jeder wird dafür Zeit haben. Manchmal reicht eine kleine Bemerkung, um die Lust am Nachdenken und Recherchieren zu wecken.

Meinerzeit hat mich eine Fotogeschichte unglaublich beeindruckt, die der bekannte Journalist und Fotograf Juri Rost auf den Seiten der damals sehr beliebten Moskauer „Literaturzeitung“ erzählt hatte. Er hatte in der ukrainischen Oblast1 Tscherkassy die Familie Lysenko kennengelernt: Mutter Jewdokija und zehn Söhne: Andrij, Pawlo, Mychajlo, Todos, Mykola, Petro, Oleksandr, Iwan, Stepan und Wasyl. Als der Krieg begann, zogen alle zehn – Andrij, Pawlo, Mychajlo, Todos, Mykola, Petro, Oleksandr, Iwan, Stepan und Wasyl – in den Krieg. Und als der Krieg vorbei war, kehrten alle zehn – Andrij, Pawlo, Mychajlo, Todos, Mykola, Petro, Oleksandr, Iwan, Stepan und Wasyl – zurück zu ihrem Elternhaus, denn dort wartete Mama.

Anschließend, nach dem Krieg, stellte man im Dorf Browachy im Rajon Korsun-Schewtschenko ein Denkmal für die Mutter auf. Und pflanzte zehn Pappeln zu Ehren der Söhne sowie fünf Weiden zu Ehren ihrer Töchter (insgesamt hatte diese Frau siebzehn Kinder geboren). Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit, dorthin zu reisen und mich vor dem symbolischen Denkmal für alle Mütter zu verbeugen, die Kinder für die Liebe und Freude geboren hatten, aber letztendlich auch für den Krieg. Wir suchen uns die Zeiten nicht aus.

Dieses Buch wurde Mitte April 2018 gedruckt. Im Frühjahr 2010 erschien auf den Seiten einiger populärer Webseiten und Zeitungen die Ankündigung des Projektes „1939 – 1945. Ungeschriebene Geschichte. Erzählen Sie, wie Ihre Familie den Zweiten Weltkrieg erlebt hat“. Dazu ein kurzer und einfacher Text:

Der Zweite Weltkrieg hat in jeder ukrainischen Familie Spuren hinterlassen. In der Regel wollen Teilnehmer dieser Geschehnisse, egal auf welcher Seite sie gekämpft hatten, nach wie vor keine Einzelheiten erzählen. Die Wahrheit über den Krieg hat man manchmal nur den engsten Verwandten anvertraut.

Wir bieten Journalisten der ukrainischen Medien an, vor dem Jubiläum des Sieges Familiengeschichten und Erzählungen darüber zu veröffentlichen, wie alle unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern den Krieg erlebt hatten.

Ebenso laden wir unsere Leser dazu ein, sich an dem Projekt zu beteiligen.

Aus dieser Idee waren mehr als hundert Publikationen entstanden. Es sprachen sowohl die, die noch lebten, als auch die, die schon lange nicht mehr auf der Welt sind. Zeugen der Ereignisse nahmen ihre Redefreiheit wahr: Soldaten verschiedener Armeen (der Roten, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und der Division „Galizien“2), Bewohner der von Nationalsozialisten, ihren Verbündeten und von Bolschewiki besetzten Gebiete, Ostarbeiter, Kinder, Frauen. Und was sehr wichtig war – Kinder und Enkelkinder fanden endlich die Zeit, sich hinzusetzen, ihren Familien zuzuhören und die Erzählungen einer Zeit aufzuschreiben, die scheinbar so fern und gleichzeitig doch nah ist.

Denn Ukrainer streiten nach wie vor darüber, ob es „Zweiter Weltkrieg“ oder „Großer Vaterländischer Krieg“ heißt, und ein Viertel der ukrainischen Staatsbürger sieht Stalin als effektives Staatsoberhaupt und Drahtzieher des nationalen Sieges. Zur gleichen Zeit erinnern sich viele Menschen an andere Dimensionen dieser Tragödie – vom Heldenmut der einen bis zur Niederträchtigkeit der anderen. Manch einer schweigt nach wie vor über das Gesehene: über Tod, Angst und Tränen. Das vergisst man nicht, auch wenn man nicht darüber redet.

Die Geschichten in diesem Sammelband sind nur ein Teil der Werke von Autoren der populärwissenschaftlichen Websites „Ukrainische Wahrheit“ | „Українська правда“, „TEXTE“ | „ТЕКСТИ“ und „Historische Wahrheit“ | „Історична правда“3. Tatsächlich gibt es viel mehr davon, sodass man auch einen zweiten und dritten Band herausgeben könnte. Wenn Sie noch nicht die Geschichte Ihrer Familie erzählt haben, können Sie das immer noch tun.

E-Mail: istpravda@gmail.com.

Vakhtang Kipiani

Chefredakteur der Website „Historische Wahrheit“

| „Історична правда“

1 Anm. d. Übers.: Verwaltungsbezirk in der Ukraine, der sich wiederum in Rajone (Landkreise) unterteilt. Es gibt in der Ukraine 24 Oblaste, dazu die Städte Kiew und Sewastopol sowie die Autonome Republik Krim.

2 Anm. d. Übers.: Damit ist die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (galizische Nr. 1) gemeint, die u.a. aus ukrainischen Freiwilligen bestand.

3 Anm. d. Übers.: https://www.pravda.com.ua/; https://texty.org.ua/; https://www.istpravda.com.ua/

Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine

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