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Oleh Kozarew

Wie mein Urgroßvater in Charkiw das Dritte Reich ausbaute

Wie die meisten Leser habe auch ich einen Veteranen-Opa, der mit der Roten Arbeiter- und Bauernarmee von Stalingrad nach Wien marschiert ist (von ihm erzähle ich ein anderes Mal). Genauso haben wohl viele von uns einen Großvater, der sich vor der Mobilisierung versteckt hat. Nicht verwunderlich ist es auch, dass ein Teil meiner Großonkel zur Ukrainischen Hilfspolizei gehört hatte. Aber ich habe in meiner Familiengeschichte auch einen wirklich exklusiven Fall. Mein Urgroßvater war Bürgermeister von Charkiw während der deutschen Besatzung – genau der Bürgermeister Oleksij Kramarenko, dessen Befehl zum Verbot der russischen Sprache in Regierungsinstitutionen der Stadt ab und an von prorussischen Medien zitiert wird.


Oleksij Iwanowytsch Kramarenko studierte am Technischen Institut in Charkiw, arbeitete daraufhin als Chefingenieur und war ein sehr geschätzter Fachmann. Er dozierte an den Instituten in Kamjanez-Podilskyj und Charkiw und leitete die den Lehrstuhl für Glastechnologieam Charkiwer Technologischen Institut.

Oleksij Iwanowytsch Kramarenko wurde am 17. Februar 1882 in Elisabethgrad (heute Kropywnyzkyj) in die Familie eines Eisenbahners hineingeboren. Er studierte Chemie am Technologischen Institut (heute Polytechnisches Institut1) in Charkiw und arbeitete in vielen Betrieben der Ukraine als Chefingenieur, beispielsweise baute er die Produktion in der Porzellanmanufaktur in Budjan und in der Tschasiwojarsker Ziegelei auf.

Er wurde als Fachmann sehr geschätzt und bekam sogar einen Adelstitel. Selbst zu Zeiten der sowjetischen Herrschaft reiste er ständig ins Ausland. Er unterrichtete an den Instituten in Kamjanez-Podilskyj und Charkiw. Am polytechnischen Institut Charkiw war er Leiter des Lehrstuhls für Glastechnologie.

Am Kriegstreiben 1917 – 1920 nahm Oleksij Kramarenko nicht teil. Es blieben ungewisse Hinweise auf Sympathie mit der Ukrainischen Volksrepublik. Verwunderlich ist, dass er Lenin verachtete und Trotzki verehrte.


Mein Urgroßvater (Zweiter von links) mit Kameraden und Kameradinnen. 1930er Jahre

Am Kriegstreiben 1917 – 1920 nahm Oleksij Kramarenko nicht teil, und seine politischen Präferenzen waren widersprüchlich – Hinweise auf Sympathie mit der Ukrainischen Volksrepublik, eine erklärte Russophobie und eine Abneigung gegenüber Lenin vereinten sich mit einer Begeisterung für Trotzki.


Oleksij Kramarenko

Seine Nachkommen erzählen, dass zwei Armeen – eine weiße und eine rote – Oleksij Iwanowytsch und seiner Frau Maria Leonidiwna ein schönes Klavier entwenden wollten, das im Stil der Secession gestaltet war (heute spielt meine Mutter darauf), doch beide Male schaffte es Kramarenko, es zurückzuholen.

Dazu sagte er noch zur weißen Armee, er habe „kein Mitgefühl mit ihrer Bewegung“, wonach er sich nur dank einflussreicher Verwandter seiner Frau retten konnte.

Kramarenko hatte eine „anglomanische“ Einstellung und einen Geschmack, der damals für konservative Gelehrte alter Schule charakteristisch war: Hoffmann, Blok, Wynnytschenko (er schrieb selbst Gedichte und konnte bei Gelegenheit auch Wasyl Tschumak zitieren), Rezitation von Lyrik mit klassischer Musik, Theater, Kartenspiel, Alkohol und Affären.

Das letzte Hobby endete mit einer Scheidung von meiner Uroma und einer Hochzeit mit seiner Kollegin, der Chemikerin Natalia Berschadska. Möglicherweise hat das letztendlich unsere Familie gerettet.

Die Deutschen besetzten Charkiw und mussten eine lokale ukrainische Selbstverwaltung organisieren. Oleksij Kramarenko wurde zum Bürgermeister ernannt. Dabei war die wahre Macht in den Händen der Deutschen, daher hinterließ der frischgebackene Gouverneur nur im kulturellen Bereich eine merkliche Spur.

Die Deutschen besetzten Charkiw am 21. Oktober 1941. Von allen ukrainischen Großstädten hatte es Charkiw wohl am schwersten getroffen. Die Nazis schnitten den Bürgern bewusst den Zugang zur Grundversorgung ab und führten ungewöhnlich harte Repressionen ein.

Aber auch hier musste zur Unterstützung eine lokale ukrainische Selbstverwaltung organisiert werden. Wie Historiker Anatolij Skorobohatow erzählt, hatten die Deutschen sich mit den Dozenten des Technischen Instituts beraten – wo wahrscheinlich auch ihr Spionagenetz war – und ernannten Oleksij Kramarenko zum Bürgermeister.

Welche Funktionen und Möglichkeiten der damalige „Stadtleiter“ von Charkiw wohl hatte (übrigens gehörte Charkiw nicht zur Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ukraine, sondern zum Frontgebiet)?

Eher wenige.


Oleksij Kramarenko auf Dienstreise in den USA

Theoretisch sollte er die Industrie der Stadt erneuern, die von den Bolschewiki zur Zeit des Rückzugs vernichtet worden war, die Bevölkerung mit Waren versorgen und darauf achten, dass die Befehle der deutschen Obrigkeit ausgeführt wurden. Er hatte jedoch keine Gelegenheit, diese Aufgaben wahrzunehmen, denn die wirkliche Macht war nach wie vor in den Händen der Deutschen.

Kramarenko blieb nichts anderes übrig, als seinen sperrigen und korrupten Administrationsapparat „durchzuschütteln“, die Menge der „von Juden befreiten“ Wohnfläche festzuhalten (übrigens bot er eine solche „befreite“ Wohnung seiner Exfrau, meiner Uroma, zum Einzug an – man kann sich vorstellen, was man ihr 1943 gesagt hätte, hätte sie zugestimmt), kümmerliche Kantinen „für seine Leute“ herzurichten und sich um den kulturellen Sektor zu kümmern.

Gerade die Kultur wurde die einzige Branche, in der Bürgermeister Kramarenko eine bedeutende Spur hinterlassen hat. Er trug nämlich zur Wiedergeburt der örtlichen Kirchen bei.

Vor dem Krieg war in Charkiw nur noch eine aktive Kirche übrig, und dank dem Bürgermeister wurden viele weitere den Gläubigen zurückgegeben. Darunter sowohl die autokephale als auch die autonome orthodoxe Kirche – letztere ist heute die Kirche des Moskauer Patriarchats (beide Kirchen mussten damals Gottesdienste zu Ehren des „Befreiers“ Hitler abhalten).

Oleksij Iwanowytsch war nicht gläubig, doch er freute sich, über der Stadt wieder das Läuten der Kirchenglocken zu hören.

Am besten bekannt wurde der Bürgermeister für seine Anordnung zum Verbot der russischen Sprache in staatlichen Einrichtungen der Stadt.

Zum bekanntesten „Streich“ Kramarenkos wurde der Erlass, der die Sprache betraf.


Schon fünf Monate weht über der freien Stadt nebst der siegreichen deutschen Fahne unsere gelb-blaue ukrainische Fahne als Symbol eines neuen Lebens, einer Wiedergeburt unseres geliebten Vaterlandes.

Doch zu unserem großen Bedauern und zur Schande für uns Ukrainer bleibt hier und da nach wie vor ein beschämendes bolschewikisches Erbe.

Zu unser aller Schande und zum für uns völlig verständlichen Zorn des ukrainischen Volkes kommt es vor, dass wir die russische Sprache von Seiten der Staatsbeamten hören, die sich anscheinend für ihre Muttersprache schämen.

Schande über die, die freie Bürger eines befreiten Vaterlandes werden. Schämen sollten sich die, die ihre Muttersprache scheuen, und daher keinen Platz unter uns haben. Wir lassen das nicht zu, das darf nicht sein. Deshalb befehle ich, jedem Beamten im Dienst ausnahmslos das Sprechen der russischen Sprache zu verbieten.

„Zu unser aller Schande und mit für uns völlig verständlichen Zorn des ukrainischen Volkes kommt es vor, dass wir die russische Sprache von Seiten der Regierungsbeamten hören, die sich scheinbar für ihre Muttersprache schämen.“

Genau wegen dieser Verordnung taucht der Name meines Uropas manchmal in allen möglichen aufgeregten Artikeln der „Iskonniki“2 auf.

Seine ehemalige Familie unterstützte der Bürgermeister. Manchmal kam er auch zu Besuch.

Währenddessen wurde seine neue Frau schwanger. Im August 1942 wurde Oleksij Kramarenko von der Gestapo verhaftet.

Man sagte, er ging auf der Straße neben der Gestapo, und traf einen Bekannten.

„Wo gehen Sie hin, Oleksij Iwanowytsch?“

„Ach, ich bin wie der Papagei bei Dickens.“

Eine recht einfache Anspielung für die damaligen literarische Mode: „Dann muss ich wohl mit, sagte der Papagei, als die Katze ihn am Schwanz zog.“

Eine Version besagt, man hätte meinen Uropa wegen irgendwelcher Manipulationen bei der Lebensmittelversorgung verhaftet. In einer anderen hatte er aktiv dabei geholfen, Gefangene eines Konzentrationslagers im Stadtteil Cholodna Hora zu befreien, darunter Partisanen und Juden.


Außerdem habe eine Freundin der Familie, Iwanzowa, vom sowjetischen Geheimdienst Angebote zur Zusammenarbeit übermittelt, doch Kramarenko habe abgelehnt, und aus Rache dafür hätten die Roten ihn bei den Nazi-Kollegen „verpfiffen“. Vielleicht war es aber auch umgekehrt, und er kollaborierte mit dem sowjetischen Geheimdienst oder dem Widerstand. Wie die Gestapo meiner Oma Valeria gesagt hat: „Ihr Vater ist bis Kriegsende inhaftiert.“

Als er im Gefängnis war, gebar seine Frau Sohn Oleksij, der nur einige Jahre lebte und an einer Hirnhautentzündung starb. Das weitere Schicksal Kramarenkos bleibt im Dunkeln.

Jemand sagte, die Deutschen hätten ihn erschossen, ein anderer, man habe ihn während des Rückzugs nach Polen gebracht. Ein anderer Bekannter unserer Familie hat Oleksij Kramarenko angeblich nach dem Krieg in London gesehen, wo er unter einem anderen Namen gelebt habe. Doch vielleicht sind das alles nur romantische Legenden …

Nachdem die sowjetische Regierung wieder an die Macht kam, hat man meine Oma, Kramarenkos Tochter, einige Male vernommen und dann in Ruhe gelassen. Natalia Berschadksa blieb allem Anschein nach ebenfalls von schlimmer Verfolgung verschont. Doch seine Exfrau, Maria Leonidiwna, starb.

Eine ganze Zeit lang hatte man in meiner Familie vermieden, viel über diese Geschichte zu sprechen, sie jedoch auch nicht vertuscht. Schließlich war sie ziemlich symbolisch: Kollaboration war in Zeiten des schrecklichsten Krieges des 20. Jahrhunderts in Europa kein Privileg großer Staaten.

Dem einen fiel zu, die Tschechoslowakei aufzuteilen, der andere sollte das Dritte Reich bewaffnen und lehren, wieder ein anderer durfte die „nationale Unabhängigkeit“ oder „Volksdemokratie“ ausrufen, und die einfachen Leute bekamen von der Weltpolitik ihre „Hausaufgaben“, vor denen sich selten drücken konnten.

1 Hier geht es um die Nationale Technische Universität „Polytechnisches Institut Charkiw“.

2 Anm. d. Übers.: So nennt man eher abwertend die Befürworter der einheitlichen urtümlichen Rus, bestehend aus Russland, Ukraine und Belarus.

Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine

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