Читать книгу Schattenwerk - Veit Lindau - Страница 11

Part 1
Heiße deinen Schatten willkommen

Оглавление

Bevor wir ins Reich der Schatten hinabsteigen, lass uns kurz und lässig darüber philosophieren, wer wir eigentlich sind. Carl Gustav Jung ging davon aus, dass du und ich in Wahrheit ein freies, unbegrenztes Selbst sind. Das klingt, wenn du keine Erfahrung im Selbstverwirklichungsdschungel hast, vielleicht erst einmal ein bisschen metaphysisch. Das Selbst ist ein anderer Ausdruck für deinen ganzen, dir theoretisch zur Verfügung stehenden Bewusstseinsraum. Immer dann, wenn du etwas integrierst (»Aha, das bin ich also auch«), wird es Teil deines Selbst. Innerhalb des riesigen, quasi unendlichen Raumes von Selbst gibt es das Ich. Das Ich umfasst die Anteile von dir, die dir bekannt sind und die in deinem Alltag und im Kontakt mit anderen Menschen zum Tragen kommen. Dazu gehört zum Beispiel, wie alt du bist, deine Haarfarbe, welche Sprache(n) du sprichst, was deine Stärken und deine Schwächen sind, ob du lieber Tee oder Kaffee trinkst und so weiter. Für das Ich sind also Merkmale relevant, die sich von anderen Merkmalen abgrenzen lassen. Das Selbst hingegen ist unbegrenzt. Es vereint alle Gegensätze in sich und überdauert Zeit und Raum. Im Alltag lebst du meist auf der Ebene des begrenzten Ichs, das ist sozusagen unser Normalzustand. Aber wenn du schon mal eine intensive Meditationserfahrung gemacht hast, dann weißt du, dass es Momente gibt, in denen du in einen inneren Raum ohne Grenzen gelangst. Du erfährst Weite, Stille, Präsenz und manchmal auch ein Licht, welches so intensiv sein kann, dass du glaubst, es nicht aushalten zu können. Das sind Momente, in denen du der wahren Dimension deines Selbst begegnest. Das sind Augenblicke der Gnade, in denen dein Ich komplett verschwindet und du ohne Worte alles verstehst. Dann landest du wieder in deiner begrenzten Form und stammelst dir einen ab, in dem hilflosen Versuch, anderen und dir zu erklären, was du gerade erfahren hast. Willkommen im Club!

Frag mich nicht, warum, aber von Zeit zu Zeit wird es diesem freien Bewusstsein offenbar zu langweilig und es inkarniert auf diesem Planeten in einem zuerst schnell wachsenden, später auch wieder verfallenden Fleischklöpschen. Ja, ich rede gerade von dir.

Unbegrenztes Bewusstsein wird in eine Familie geboren, bekommt einen Namen verpasst, macht jede Menge seltsamer Erfahrungen und wird von allen Seiten mit Informationen darüber bombardiert, wer es ist und wie es sein sollte. So entwickelst du deine Ich-Vorstellung. Jedem Fachexperten krümmen sich wahrscheinlich gerade die Zehennägel über meine freche Zusammenkürzung der existenziellen Weisheiten des Lebens. Aber, liebe Leute, das Buch ist nicht so dick und wir wollen schnell zum Punkt der Schattenarbeit kommen. Du lernst also durch Beobachtung und Schlussfolgerung, wer du bist und was du nicht bist. Das heißt, irgendwann haben die meisten von uns eine relativ starre Idee davon, wer sie sind. Zum Beispiel: »Ich bin der Introvertierte«, »Ich bin die, die immer wieder aufbraust«. Daneben entwickeln wir auch – und das ist ganz wichtig für deinen Schatten – eine klare Liste von Eigenschaften, die wir nicht sind, auf gar keinen Fall sein können beziehungsweise wollen. Zum Beispiel: »Ich will auf gar keinen Fall lustvoll und verhurt sein.« Oder: »Ich bin zu blöd für Mathematik.« Wir setzen also aus dem riesigen Angebot an menschlichen Möglichkeiten unseren relativ überschaubaren Ich-Blumenstrauß zusammen und den restlichen Großteil der menschlichen Aspekte und Eigenschaften verbannen wir in das sogenannte Nicht-Ich, ins Unterbewusstsein. Dort ist es für dich nicht präsent, aber es ist trotzdem da.

Das ist eine ganz wichtige These, die im Zentrum von Schattenwerk steht: Alles ist in dir. Bitte nimm dir einen Moment Zeit, um diesen Gedanken wirklich in dich aufzunehmen: Alles ist in dir. Auch das, was deiner Ansicht nach nicht zu deinem Ich passt und was du deshalb in deinen Schatten verbannt hast. In dir existiert markerschütternde Angst, ein bockiger Störenfried, eine heilige, rasende Wut, … Wir können es abkürzen: einfach alles!

Du brauchst jetzt aber keinen Schreck zu bekommen. Dass alles in dir ist, bedeutet nicht, dass du alles ausleben musst. Sondern es bedeutet, dass du zu allem Zugang hast. Und das ist ungeheuer wertvoll, denn wenn wir Zugang zu all diesen Aspekten haben, können wir Mitgefühl und Verständnis für Menschen entwickeln, die anders sind als wir. Dies ist die Basis für wahren Frieden!

Allerdings nutzen wir diese Fähigkeit im Alltag leider nur selten, denn wer von uns hat schon in der Schule ein Unterrichtsfach »Schattenwerk« gehabt? Wir sind, was die dunklen, dreckigen Aspekte des Lebens betrifft, Angsthasen und Saubermänner. Unser begrenztes Ich schützt lieber seine Mauern durch Rechthaben und das Abgrenzen von anderen. Wenn du in einem Mitmenschen mit einer Eigenschaft konfrontiert wirst, die dir unangenehm ist, beschließt dein Ich mit großer Wahrscheinlichkeit: »Nein, das bin ich nicht!« und schiebt sie in dein Unterbewusstsein. Aber dort bleibt sie eben nicht einfach. Sondern deine Psyche nutzt einen raffinierten Mechanismus, damit das Abgeschobene zu seinem Recht kommt: Dein Schatten sucht sich in einem anderen Menschen eine Leinwand und projiziert den unterdrückten Anteil da drauf.

Sagen wir, es gibt einen Anteil in dir, der rechthaberisch ist. (Richtig geraten?) Du hast dir aber eingeredet, dass du ein offener Mensch bist. Jetzt diskutierst du mit einem Freund über ein dir wichtiges Thema, aber es gelingt dir nicht, ihn von deiner Ansicht zu überzeugen. Schließlich wirfst du ihm vor, dass er rechthaberisch wäre. Du hast das, was du an dir nicht ertragen willst oder kannst, auf deinen Freund übertragen. Vielleicht ist er sogar auch rechthaberisch. Doch der springende Punkt ist: Du wärest voll cool damit, wenn du akzeptieren könntest, dass du selbst ein kleines, rechthaberisches Arschloch bist.

Aber warum projiziert unser Bewusstsein überhaupt nach außen? Weil unsere Seele nach Ganzheit strebt. Tief in uns wissen wir, dass so eine kleine Ich-Box niemals ausreicht, um unsere Komplexität zu erfassen. Wir wissen, dass wir unsere eigene Ganzwerdung hemmen, wenn wir etwas auf Dauer unterdrücken. Deshalb suchen wir instinktiv nach Situationen und Beziehungspartner*innen, die unseren Schatten wach kitzeln.

Alles ist in dir!

Wenn du zum Beispiel den Angsthasen in dir nicht fühlen willst und ständig den Obermacker spielst, wird dein Bewusstsein dafür sorgen, dass du mit diesem verdrängten Anteil in Kontakt kommst. Du wirst in deiner Umgebung immer wieder auf Angsthasen stoßen und einen Großteil deiner Energie darauf verwenden, dich über diese aufzuregen oder lustig zu machen. Bis du dieses Buch liest und kapierst, dass du die ganze Zeit Witze über dich gemacht hast. Hah!

Dieser Mechanismus wirkt in vielen Bereichen unseres Lebens, ohne dass wir uns dessen oft bewusst sind. Wir können nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Objekte projizieren. Wenn du zum Beispiel im Laufe deines Weges beschlossen hast, dass du unbedingt ein »spirituelles« Ich haben willst, zu dem materieller Reichtum nicht passt, kann es sein, dass dir Symbole weltlicher Fülle (Porsche, Rolex, Yacht) voll die Knöpfe drücken.

Wir können Verdrängtes auch auf die Natur projizieren. Viele Menschen bekommen im Herbst einen Blues. Sie sind deprimiert und antriebsschwach und hadern mit sich und dem Leben. Natürlich gibt es dafür auch eine wissenschaftliche Erklärung: Die Tage werden kürzer, das Licht nimmt ab, das Vitamin D in unserem Körper geht zurück. Das sind alles wichtige Fakten. Aber vielleicht spielt es auch eine psychische Rolle, dass uns das fallende Laub an unsere Vergänglichkeit erinnert, einen der mächtigsten Schatten des Menschen überhaupt?

Wir projizieren unseren Schatten auf Menschen, Objekte und Ereignisse. Also jede Menge Gründe, uns immer wieder aufzuregen.

Schattenwerk

Подняться наверх