Читать книгу Schattenwerk - Veit Lindau - Страница 6

Prolog

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Willkommen, liebe Leserin, lieber Leser! Indem du dieses Buch aufschlägst, hast du einen verrückenden Schritt getan, selbst wenn du es vielleicht noch nicht ahnst. Denn Schattenwerk ist kein gewöhnliches Buch: Vor dir liegt eine Abenteuerreise in das Land deiner Psyche. Sie wird dich auf eine gute Weise herausfordern und dehnen. Sie wird dich überraschen. Doch vor allem wird sie dich beschenken – mit dir selbst. Du wirst mit erstaunlichen Gaben und Eigenschaften von dieser Reise zurückkehren, die du vielleicht nie in dir vermutet hättest. Mit dem souveränen Frieden und der übersprudelnden Kreativität eines Menschen, der sowohl seine hellen als auch seine dunklen Seiten willkommen heißen kann.

Was du für diese Reise brauchst, sind Neugier und Mut. Denn ich möchte mit dir gemeinsam die große unbekannte Macht in deinem Leben entdecken: deinen Schatten. Dein Schatten ist so etwas wie ein Drache, der in deinem Unbewussten lebt. Manchmal ruht er friedlich und manchmal erhebt er sich, speit Feuer und wirbelt deine Gedanken und Gefühle durcheinander. Er besitzt wunderschöne, großartige Aspekte genauso wie kleine, hässliche, dreckige Qualitäten, von denen du am liebsten nichts wissen willst. Kein Wunder, denn genau deshalb sind sie ja in deinem Schatten gelandet!

Doch das Wunderbare ist: Unser Schatten ist, wenn wir uns ihm wohlwollend nähern, niemals unser Gegner. Er sehnt sich danach, dass wir das aufklärende Licht unseres Bewusstseins auf seinen Schatz richten und ihn nach Hause holen. Dann ist es wirklich wie im Märchen. Das scheinbare Monster wird durch die richtige Frage erlöst und offenbart sich als verwunschener König, als Königin. Das scheinbar Hässliche verbirgt eine ureigene Schönheit und in der so lange vermiedenen Schwäche wartet unsere wahre Stärke auf uns.

Der Schatten ist nicht nur eine Idee, sondern existiert ganz real. Wir können ihn vielleicht nicht anfassen, doch er meldet sich in Träumen, starken emotionalen und körperlichen Reaktionen. Wir sind keine mutigen Drachenreiter mehr, sondern eine Generation von zwanghaften Kontrollfreaks und emotionalen Weicheiern, die am liebsten alles aus ihrem Leben verdammen würden, was nach Komplexität, Chaos, Dunkelheit und Schmerz riecht. Deshalb haben wir unglaublich schlaue, hocheffektive Mechanismen entwickelt, um dies alles in unser Unterbewusstsein, in den Schatten zu drängen und nicht wahrnehmen zu müssen. Diese Strategien dienen kurzfristig unserem Schutz und unserer Kontrolle, aber wenn wir ehrlicher und genauer schauen, nehmen sie uns auch sehr viel. Sie rauben uns langfristig Lebensfreude, Lebensintensität und Souveränität. Denn wer auf Kriegsfuß mit seinem Schatten lebt, der bindet enorm viel Kraft im Versuch, ihn zu bändigen. Diese Kraft fehlt dir in der Liebe, der Kunst, im Arbeiten, in allem.

Die gute Nachricht ist: Du kannst wieder lernen, ein*e Drachenreiter*in zu werden. Du wirst ihn niemals bezwingen, doch du kannst lernen, ihn zu achten, ihm zuzuhören, und letztendlich wird er dir gestatten, ihn zu reiten. Wie das geht, zeige ich dir in diesem Buch. Ich möchte dich fairerweise vorwarnen. Ich bin weder ein Psychiater noch ein Philosoph. Ich komme von einer sehr bodenständigen Praxis mit vielen Jahren Selbsterfahrung. Ich drücke die Dinge ungeschminkt und pragmatisch aus. Wenn du ein intellektuelles Lehrbuch über dieses Thema suchst, bist du hier falsch. Ich möchte dir Lust machen, dich deinem Schatten eigenverantwortlich und neugierig zuzuwenden und so deine einzigartigen, direkten Erfahrungen zu machen und auch in deinen Worten auszudrücken. Vielleicht kommst du zu ganz anderen Schlussfolgerungen als ich. Es ist dein Schatten. Du solltest darin Expert*in sein. Ich habe mein Anliegen erreicht, wenn du nach der Lektüre Lust auf deinen Schatten hast und beginnst, ihn regelmäßig auszuleuchten. Deshalb findest du im Anhang einige weiterführende Bücher, die mich sehr inspiriert haben. Schattenarbeit ist keine einmalige Kur, es ist ein nie endender Lebensweg reifer Menschen. Dies ist ein Weg für mutige, reife Menschen, die keine Abkürzung, kein oberflächliches Beruhigungsprogramm suchen, sondern nach Wahrheit und Ganzheit streben. Der Weg führt durch die Dunkelheit ins Licht. Und du wirst dich manchmal fragen: Warum tu ich mir das an? Warum mache ich es mir nicht so einfach wie die anderen, lenke mich ab und projiziere alles, was ich in mir nicht sehen mag, auf die anderen? Das ist eine sehr gute Frage und du brauchst darauf eine für dich schlüssige Antwort, sonst gibst du an der entscheidenden Weggabelung im Märchen auf oder du rennst, wie es derzeit viele in der psychospirituellen Szene machen, mit einem Plastikschwert und einem Plüschdrachen durch Seminare und hältst dich für die große Schattenforscherin.

Doch um für dich ernsthaft beantworten zu können, ob du das wahre Biest wecken und kennenlernen möchtest, sollten wir uns zuvor genau anschauen, was denn dieser ominöse Schatten überhaupt ist. Der Begriff geht auf Carl Gustav Jung zurück, einen Schweizer Psychiater, der auf seinem Gebiet eine Art Grenzpionier war. Er hat seitdem Scharen von Psycholog*innen, Psychiater*innen, Therapeut*innen, Heiler*innen, aber auch Dichter*innen und Filmemacher*innen intensiv beeinflusst und unsere Sicht auf die menschliche Psyche nachhaltig verändert.

Unter dem Schatten verstand Jung den versteckten, aus verschiedenen Gründen abgelehnten Teil der individuellen und der kollektiven Psyche. Also alles von dir, was noch nicht ans Licht darf und im Schatten deines Bewusstseins darauf wartet, von dir anerkannt und integriert zu werden. Hier finden sich zum Beispiel unterdrückte Emotionen, unverarbeitete Erfahrungen, unreflektierte Glaubenssätze und natürlich auch unbequeme Impulse, beunruhigende Träume und peinliche Wünsche.

Der Schatten ist nicht gleichzusetzen mit dem Unbewussten. Du hast zum Beispiel jetzt gerade viele Reize in deiner Umgebung ausgeblendet, um dich auf das Buch konzentrieren zu können. Das heißt, sie sind unbewusst für dich. Konzentrierst du dich darauf, werden sie dir bewusst. Beim Schatten geht es um all die Anteile von uns, die wir irgendwann abgelehnt und unterdrückt haben, weil sie uns zu schmerzhaft, zu peinlich, zu beängstigend waren. C. G. Jung hat damit hauptsächlich die negativen, unangenehmen Aspekte gemeint. Ich möchte – basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen und der Arbeit mit meinen Klient*innen – das Verständnis dieses inneren Raumes noch ausdehnen auf alle glorreichen, großen Aspekte, die wir an uns ablehnen. Wir wollen und können uns im Augenblick weder mit diesen negativen noch den positiven Aspekten unserer Psyche identifizieren. Deshalb verdrängen wir sie in den Schatten.

Als Nächstes müssen wir zwischen dem persönlichen Schatten und dem kollektiven Schatten unterscheiden. Der persönliche Schatten ist bei jedem Menschen sehr individuell zusammengestellt, da er durch unsere Geschichte geprägt ist. Durch all das, was du erlebt, gefühlt, gedacht, erfahren hast. Dein Schatten ist also der Ort, an den du alle unliebsamen Dinge abgeschoben hast, die du, als sie dir zum ersten Mal begegneten, nicht verarbeiten konntest. Vielleicht bist du jemand, der irgendwann mal beschlossen hat: Neid ist etwas ganz Hässliches, das darf nicht sein. Also schiebst du deinen Neid in den Keller.

Lass uns gleich zu Beginn einmal klar und deutlich sagen: Dieser Mechanismus ist kein Fehler, sondern ein außerordentlich intelligentes Schutzsystem. Niemand schiebt aus purem Spaß Aspekte von sich selbst in den Schatten. Wir tun dies, weil wir damit irgendwann einmal überfordert waren. Dafür verdient unser Schatten unsere Anerkennung. Wenn wir allerdings nie lernen, unseren Schatten bewusst und freiwillig zu erkunden, wird dieser Mechanismus langfristig auch zu unserer Falle. Denn das, was wir dahin geschoben haben, ist eben nicht weg, sondern nur im Schatten. Was machst du also später, wenn sich Neidgefühle in dir regen? Du behauptest (und glaubst es wahrscheinlich auch), dass du nicht neidisch bist, und wandelst das ungeliebte Gefühl zum Beispiel in einen »wohlmeinenden« Ratschlag um. Das nennt sich Sublimierung und über diesen Vorgang werden wir noch ausführlich sprechen. In einzelnen Situationen mag diese Strategie funktionieren, aber auf Dauer ist es keine Lösung. Dein Neid geht ja nicht weg, nur weil du erleuchteter tust, als du bist. Deine Schattenaspekte wirken – gerade weil sie nicht bewusst integriert sind – umso mächtiger auf dein Leben ein. Sie sind deine Blindspots und entfesseln unsichtbare Kräfte, die das Spiel des Lebens verzerren und manipulieren. Je mehr wir von uns in den Schatten verbannen, desto unfreier, unvollständiger und auch unkreativer werden wir uns fühlen. Denn die Seele strebt nach Ganzheit und dieselbe Kraft, die deine ungeliebten Aspekte abwehrt, unterdrückt auch deinen kreativen Genius.

Wie gesagt, gibt es in deinem Schatten sehr wohl auch sehr helle, großartige Aspekte, die du dir nicht zuschreibst. Viele Menschen haben zum Beispiel ein Problem damit, ihre wahre Schönheit, Kraft oder Liebenswürdigkeit anzunehmen, und schieben diese Aspekte in den Schatten ab. Doch dadurch hinderst du dich genauso daran, dein volles Potenzial zu entfalten. Bitte mach dir also klar, dass der Schatten nicht nur die Dunkelheit, sondern auch das gleißende Licht umfasst.

Neben deinem persönlichen gibt es auch noch den kollektiven Schatten. Du kannst es dir so vorstellen, dass jegliche Erfahrung, die ein Mensch auf diesem Planeten erlebt hat, in ein kollektives menschliches Unterbewusstsein eingegangen ist. Es wirkt wie ein unsichtbares, nicht lokalisierbares, aber von uns allen anzapfbares kollektives Gedächtnis. In diesem ringen mächtige Archetypen, also grundlegende, existenzielle Vorstellungs- und Verhaltensmuster, miteinander. Der universelle Kampf von Gut und Böse. Teufel, Jesus, Gott, der heilige Geist, die Unterwelt. Diese kollektive Dimension des Schattens wirkt natürlich auch auf dich ein und viele Phänomene in deinem Leben ergeben erst Sinn, wenn du verstehst, dass du immer an dieses Feld angeschlossen bist. Nach der Lektüre des Buches wird dein Blick auch darin geschult sein zu erkennen, wie ganze Bevölkerungsgruppen oder Kulturen gegenseitig ihren kollektiven Schatten aufeinander projizieren.

Nun, da du weißt, was der Schatten ist, zurück zu der Frage: Warum solltest du so verrückt sein und das Tor zu deinem Schatten freiwillig öffnen?

Gegenfrage: Warum hast du überhaupt dieses Buch in die Hand genommen? Was war dein erster Gedanke? Wahrscheinlich denkst du, du hättest dich bewusst entschieden. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch sehr groß, dass es dein Schatten war, der dir den Impuls gab. Er will ans Licht. Denn letztendlich steht er für eine enorme Menge an Lebensenergie, die hier angestaut wurde. Auch wenn es unbequem, peinlich, ja manchmal sogar beängstigend sein kann, sich dem zuzuwenden, was bis jetzt im Dunkeln existierte, letztendlich ist es eine sehr vitale Wahl. Die Bereitschaft, eine Brücke zu deinem Schatten zu bauen, seine Signale deuten zu lernen und ihn Aspekt für Aspekt ins Licht zu integrieren, schenkt dir langfristig enorm viel Freiheit und Selbstachtung. Du wirst sehr viel Energie freisetzen und deine Kreativität entfesseln. Du wirst dich auf eine gute Weise neu in dich verlieben, wenn du realisierst, wie komplex, paradox und spannend du bist. Schattenwerk ist keine Einladung zu einem egoistischen Selbsttrip. Du wirst durch eine bewusste Schattenarbeit auch deinen Mitmenschen mehr Frieden anbieten können, denn letztendlich wurzeln jeder Streit und jeder Krieg in einem nicht integrierten Schatten auf beiden Seiten. Schattenarbeit ist Heilungs- und Friedensarbeit.

Schattenwerk

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