Читать книгу Tillas Mühle - Verena Maria Mayr - Страница 8

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Louis liebte Maria Emilia seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Er hatte eine Pause beim Aufkehren in der Ölmühle gemacht und verträumt aus dem Sprossenfenster gesehen. Ein fröhliches blondes Mädchen hüpfte seiner Mutter hinterher, dass die Locken nur so wippten und es eine Freude war sie anzusehen. Ein Ausdruck grenzenloser Neugier und Zuversicht lag in den Augen der etwa Elfjährigen, der ihr elegantes blaues Kleid egal zu sein schien, denn sie blieb immer wieder stehen, um einen Laubfrosch, eine Blindschleiche oder einen Regenwurm zu berühren.

„Mach dich bloß nicht dreckig“, hörte Louis die Mutter mahnen, die, ohne sich umzudrehen, die Angewohnheiten ihrer Tochter zu kennen schien.

„Ich pass schon auf, Mama“, erwiderte das bezaubernde, unbekümmerte Mädchen und drehte sich übermütig im Kreis, sodass sich eine blaue Schleife von einem ihrer Zöpfe löste. Louis verwahrte sie andächtig in seiner selbst gezimmerten, hölzernen Schatzkiste, von der er Mimi nie erzählte, von der sie aber wusste, dass es sie gab.

Maria Emilias Mutter Lilia und Mutter Herzog, die seit ihrer Vermählung mit Josef Herzog, niemand anders nannte, schmiedeten seit je her den Plan, ihre Familien zu vereinen. Das hatten sie sich im Internat für Mädchen aus gut situierten Familien versprochen. „Wenn schon nicht adelig, dann wenigstens sehr gut begütert“, war ihr Leitspruch gewesen. Zu lange hatten sie zu viele Entbehrungen erdulden müssen. Lilia verließ sich ganz und gar auf Maria, denn sie wusste, dass ihre Freundin weit durchsetzungsfähiger war als sie selbst.

Die zarte Lilia, deren Anmut oft mit der einer Lilie verglichen wurde, starb beinahe bei Maria Emilias Geburt – ein weiteres Kind war niemals Thema zwischen ihr und ihrem Mann, der seine Lust mit schlechtem Gewissen außer Haus befriedigte, denn er liebte seine Frau bis zu seinem Tod. Lilia ertrug ihr Schicksal tapfer. Eines Tages jedoch – mit nur 37 Jahren wachte sie nicht mehr auf. Sie war friedlich und leise, so wie sie sich ihr gesamtes Leben lang verhalten hatte, eingeschlafen. Maria Emilia war damals 17 Jahre alt gewesen.

Maria, die Namensgeberin und Taufpatin von Lilias einzigem Kind wurde, gebar fröhlich vor sich hin, ihr Mann Josef hätte es nie gewagt, sich auch nur einmal - nicht mal aus dem Augenwinkel - nach einem anderen Rockzipfel umzusehen. Als ihre beste und einzige Freundin Lilia starb, nahm sie Maria Emilia zu sich, denn ihr Vater starb drei Monate später an gebrochenem Herzen.

Die junge Maria Emilia entwickelte sich unter Mutter Herzogs Fittichen zu einer selbstbewussten, umsichtigen jungen Frau. Die Blicke zwischen Louis und ihr waren der resoluten, lebensklugen Frau nicht entgangen, auch nicht, dass der von ihrem Mann adoptierte Louis über eine besondere Gabe verfügte. Louis konnte Geschehnisse vorhersehen und ihrer Meinung nach mit Tieren sprechen.

Mutter Herzog konnte gewisse Ereignisse bestimmen, oder wie sie selbst es gerne nannte, in die richtigen Bahnen lenken. Sie machte keine große Sache daraus und hütete sich stets davor davon zu erzählen. Die Leute im Dorf hätten sie als hellsichtig bezeichnet und ihr die Tür eingerannt. Oder sie hätten sie verflucht, wenn sie einen Fehler beging. Louis‘ Gabe schien ungleich stärker ausgebildet. Es war ihr durch Zufall aufgefallen, als der junge Louis ihre Elli – Gott hab sie selig – nicht zum See lassen wollte. Er wusste es damals selbst noch nicht. Mutter Herzog begrub ihre kleine Tochter und begann, Louis sachte und beiläufig auszufragen.

Ging es dem Elektriker gut? Es wurde erzählt, er hätte die Arthrose und könne keine Leitungen mehr verlegen. In seiner jugendlichen Unschuld verneinte Louis und meinte, dass es einen anderen Grund gäbe. Wenig später erfuhr Mutter Herzog, dass der Elektriker geerbt hatte und ohne das Wissen seiner spröden Frau das Land verlassen wollte. Louis erriet, dass der Pfarrer ein Verhältnis mit der Pfarrersköchin hatte. Mutter Herzog erwähnte es niemandem gegenüber, stellte den Pfarrer aber vernichtend zur Rede, sodass dieser sich versetzen ließ. Sie war schließlich Vorsitzende des Kirchenrates und sah es als ihre Pflicht, das Ansehen der Kirchengemeinde zu bewahren. Über ihren Glauben ließ sie nichts kommen.

Der gesellschaftliche Wandel versprach ihrer Meinung nichts Gutes. Die Kirche war ihr Anker und musste es für ihre gesamte Familie sein. Niemand ihrer Kinder wagte auch nur, die sonntäglichen Kirchgänge in Frage zu stellen. Im Mai war es auch die Sieben-Uhr-Andacht und das täglich.

Die Lotteriezahlen konnte Louis nicht vorhersehen, was Mutter Herzog betrübt zur Kenntnis nahm. Egal, dafür überredete sie ihren Mann, das brachliegende Grundstück hinter ihrem Apfelgarten zu kaufen. Dieses Feld rettete in Zukunft einige Kürbisernten, weil die meisten Bauern vor Ort Mais und Raps anbauen wollten und die Herzogs auf Kürbiskerne angewiesen waren, seit sie keine eigene Bäckerei mehr betrieben, keinen Wein mehr produzierten und keine Schweine mehr züchteten.

Mehr als ihr Mann hatte Mutter Herzog ein Gespür für die Entwicklung und das Bedürfnis der Menschen. Sie wusste, dass das dunkle Öl einen gigantischen Durchbruch erleben würde. Mutter Herzog begann Kerne zu horten, sie informierte sich über den Gesundheitswert des Kernöls und ließ ihr Patenkind an allem teilhaben. Maria Emilia sog begierig alles Wissen in sich auf und begann, das Öl zu lieben. Gemeinsam mit Louis presste sie das zähflüssige dunkle Öl. Zu Beginn gab es keine vergleichbaren Werte. Aber Louis hatte gesagt, dass das Öl mit Gold zu vergleichen wäre. Mehr war dem schweigsamen jungen Mann nicht zu entlocken gewesen – Mutter Herzog hatte es genügt.

Bald produzierte die Herzog-Mühle mehr Kürbiskernöl als alle anderen Nachbarn und befreundeten Bauern, die sie mild belächelten. Mutter Herzog und ihr Mann motivierten die gesamte Familie und sie arbeiteten rund um die Uhr. Das am besten eingespielte Team waren Louis und Maria Emilia. Etwas an dem Geschmack war anders. Niemand konnte es bei gleicher Produktionsweise nachahmen. Nach kurzer Zeit war das grüne Gold im benachbarten Ausland wegen seiner gesundheitsfördernden Wirkstoffe bekannt. Die Herzog-Mühle erlebte einen unvergleichbaren Aufschwung und über die Grenzen kannte man das wunderschöne Gut. Mutter Herzogs Sohn Hans verfügte über einen exzellenten Geschäftsinstinkt und war nicht nur Louis` Adoptivbruder, sondern auch sein bester Freund.

Als es an der Zeit war Hans zu verheiraten, beschloss Mutter Herzog, dass nur Maria Emilia für ihn in Frage käme. Sie war bereits Teil der Familie, sie verfügte über die nötigen Kenntnisse und sie war geschickt, wenn es um Verkaufsargumente ging. Die Schwärmerei für Louis musste enden.

Eines Nachts, als Mutter Herzog die Treppe zur Küche hinunterstieg, um sich eine warme Milch mit Honig zu machen, glaubte sie, in einer chemischen Experimentierküche gelandet zu sein. Louis zog langsam zur leisen Musik von Frank Sinatra, den er über alles verehrte, einen Tropfen Öl mit einer Glaspipette aus einer Kernölflasche und ließ ihn in ein Gefäß aus Glas fallen. Diesen Vorgang wiederholte er einige Male. Er schien eine Figur in dem niedrigen Glasbehälter zu zeichnen. Ganz andächtig, um nichts zu vergeuden, ging er vor. Er wirkte so konzentriert, dass er Mutter Herzog nicht wahrnahm.

Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen und erspähte ein Foto auf dem das Gesicht Maria Emilias zu erkennen war sowie eine Fotografie, eine der raren Aufnahmen, von ihm selbst. Hin und wieder betrachtete er die äußerst gelungene Schwarzweißaufnahme, die Maria Emilia in einem schlichten, hellen Sommerkleid, offenen, ungekämmten Haaren und lachendem Gesicht darstellte, liebevoll und summte verliebt „Strangers in the night“ vor sich hin. Louis schien etwas hinzuzufügen, die Tropfen im Glas fingen nach Mutter Herzogs Beurteilung nach an zu blubbern, er setzte das Gefäß ab, füllte es mit weiterem Kernöl auf und verteilte es anschließend auf einige kleine, dunkle Flaschen.

Die genaue Anzahl konnte sie nicht ausmachen. Mutter Herzog wischte brüsk mit einem gestärkten, weißen Taschentuch über ihren ausgetrockneten Mund, um ein Stöhnen zu unterdrücken und wünschte sich einen Schnaps. Was hatte das alles zu bedeuten? Rasch drehte sie sich um und verließ das nächtliche Küchenlabor.

In ihren Couchsessel vor dem Kamin mit heruntergebranntem Feuer eingesunken, starrte sie in die letzte, schwache Glut, die am Auslöschen begriffen war und überlegte. Als sie aufstand, war die Asche kalt. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie ließ Louis nicht mehr aus den Augen.

Beim Mittagessen am nächsten Tag war es soweit. Mutter Herzog beobachtete, wie Louis heimlich aus einer der kleinen, dunklen Flaschen einen Tropfen Öl über Maria Emilias und seinen eigenen Salatteller träufelte. Sie ließ ihn von ihrem Mädchen in die Küche rufen und tauschte die Teller aus. In diesem Moment durchfuhr Louis ein Stoß, der sein Herz zu zerreißen schien. Keuchend hielt er inne, er konnte weder schreien noch laufen, denn sein Mund und seine Beine waren wie gelähmt.

Als Maria Emilia und Hans Herzog gemeinsam ihren ersten Bissen an den Mund führten, sank er bewusstlos auf den kalten Küchenboden. Am Tag darauf machte Hans Herzog Maria Emilia einen Antrag, und sie nahm an, obwohl sie gar nicht wusste, warum. Natürlich hatte sie immer Augen für Hans gehabt. Welches Mädchen denn nicht? Aber ihr Herz hatte von Anfang an Louis gehört, dem stillen, zurückgezogen lebenden jungen Mann, der eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte und sie zum Lachen bringen konnte, wie sonst keiner. Louis, ihr Louis, war ins Krankenhaus geliefert worden und niemand konnte ihr sagen, was ihm fehlte. Er erholte sich sehr lange nicht und kehrte erst nach ihrer Hochzeit zurück. Louis war noch stiller geworden – gelacht haben Mimi und er sehr lange nicht mehr. Die gesamte Kernölpressung war ungenießbar gewesen. Alle Flaschen mussten vernichtet werden. Der Schaden war immens.

Mutter Herzogs schlechtes Gewissen nagte an ihren alten Knochen, doch sie wollte ihren Plan um alles in der Welt durchsetzen. Koste es, was es wolle. Maria Emilia und Hans hatten geheiratet – und sich nie getrennt. Darauf kam es an. Das Öl würde mit der Zeit wieder gelingen. Etwas schien an ihrem Plan schief gegangen zu sein, denn die Qualität des Öls hatte seit der Hochzeit gelitten. Niemand konnte es sich erklären. Mutter Herzog erkrankte bald nach der Vermählung ihres Sohnes Hans und erholte sich nicht wieder. Auf ihrem Totenbett erleichterte sie ihr Gewissen und beichtete Maria Emilia ihre Einmischung. Ihr Sohn Hans hätte sie als verrückt abgetan, aber um ihn ging es nicht. Er würde sein Leben gut weiterführen. Sie holte nur Louis und Maria Emilia zu sich und bat die beiden um Verzeihung. Mutter Herzog versprach ihnen: „Ich werde eure Liebe unsichtbar für die Augen der anderen machen.“

„Wir vergeben dir“, flüsterten Maria Emilia und Louis andächtig. Mutter Herzog schloss friedlich und mit einem Lächeln auf den Lippen ihre Augen.

Tatsächlich schien sie vom Himmel aus endlich ihre schützende Hand über die beiden zu halten. Maria Emilia war noch jung, und ihre Augen begannen wieder zu leuchten. Aus dem trüben Grau entsprangen zwei kornblumenblaue Sterne. Louis‘ Gang war wieder aufrecht, auf seinem Gesicht erschien wieder sein verschmitztes, jungenhaftes Grinsen. Das Kürbiskernöl verzauberte wieder - Geschmacksnerven, wie Sinne.

Niemals stellte der stattliche Hans sein Leben wie es war in Frage. Er widmete es der Mühle und der Gemeinde. Seine einzige Leidenschaft galt dem Fliegenfischen in der Mur, das er gemeinsam mit seinem schweigsamen Freund Louis teilte. Am Fluss erlaubte er sich gelegentlich ein Ausbrechen seiner Gedanken, die er mit der Disziplin des korrekten Angelwurfs wieder zurückholte. Ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch hatte sich keinen Ausschweifungen hinzugeben. Leider schien sein einziger Sohn Eduard die lockeren Gene seiner Frau geerbt zu haben. Um von ihnen ein wenig Disziplin zu erwarten, musste er stets mit äußerster Konsequenz und Strenge vorgehen.

Wie er sich Maria Emilia als Frau hatte aussuchen können, war ihm jeden Tag aufs Neue ein Rätsel. Dennoch war eine Trennung nie ein Thema zwischen ihnen gewesen. War es die Mühle, die sie zusammenhielt? Noch so ein lächerlicher Gedanke, den er wie das häufige Schlafwandeln seiner Frau aus seinem Kopf zu verbannen suchte. Sie waren ein gutes Gespann. Louis und Maria Emilia produzierten das beste Öl der Welt. Er pries es auf Messen an und wurde als seriöser Geschäftsmann geschätzt. Die Ölmühle florierte, die Familie war angesehen und respektiert. Das musste genügen.

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