Читать книгу Verdächtige Stille - Veronika Wetzig - Страница 30

Sonntag, 30. Oktober, 10:10 Uhr

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Ben steht bereits an seinem Wagen. „Ich würde vorschlagen, wir fahren mit zwei Autos. Wenn es irgendwie geht, würde ich heute nämlich gern zu Hause schlafen. Außerdem versucht der Typ ja vielleicht doch nochmal, Kontakt mit mir aufzunehmen. Dann kann er mich wenigstens finden.“

Felix nickt ihm nur kurz zu und geht zur Garage.

„Felix!“ Bens Stimme lässt ihn noch einmal inne halten. „Was ist, wenn der Typ uns beobachtet? Schließlich sollte ich niemandem etwas sagen. Vielleicht ist es besser, du parkst Deinen Wagen im Wald und kommst dann zu Fuß nach?“

„Denkst du wirklich, das ist notwendig? Schließlich hat der Typ, was er will. Warum sollte er jetzt noch dein Haus belauern?“

Ben wird zunehmend nervöser: „Na um sicher zu gehen, dass ich nicht mit den Bullen dort auftauche zum Beispiel?“ Wieder wird Ben mit jedem Wort lauter. „Was, wenn er dich für einen Bullen hält? Wer weiß, was er dann mit Marie macht! – Weißt du was, lassen wir das. Ich fahre allein!“ Ehe Felix antworten kann ist Ben bereits in sein Auto gesprungen und hat den Motor gestartet.

Nach einer halben Stunde parkt er den Volvo auf seiner Einfahrt. Alles sieht ruhig aus. Er steigt aus und schließt die Tür zum Haus auf. In aller Ruhe blickt er sich im Wohnzimmer um. Ein Blick in die offene Küche verrät ihm, dass sich hier seit gestern Abend nichts verändert hat. Vorsichtig geht er auf den Sessel zu und betrachtet die Fliesen nach möglichen Blutspuren. Nichts. Automatisch befühlt er seine Beule am Hinterkopf. Neben dem Sekretär findet er sein Handy, das er in seiner Wut zu Boden geworfen hatte, und schließt es an, um den Akku zu laden. Er kontrolliert das Festnetztelefon und lauscht dem typischen Freizeichen. Komisch. Noch einmal wirft er einen Blick durch das Wohnzimmer und macht sich auf den Weg zum Obergeschoss. Im Vorbeigehen probiert er die Lichtschalter aus. Als wäre nichts passiert, leuchten sämtliche Lampen auf. In Annelys Zimmer ist alles wie gehabt, im Schlafzimmer erwartet ihn ein Chaos von herausgerissenen Hosen und Hemden vor dem offenen Kleiderschrank. Sofort muss er wieder an die Quittung denken, die noch immer auf dem Nachttisch liegt. Ich muss unbedingt daran denken, Felix den Zettel zu zeigen, vielleicht hat er ja eine Idee, was es damit auf sich haben könnte, geht es Ben durch den Kopf. Er geht weiter ins angrenzende Bad, wo ihm sogleich kalte Luft entgegen strömt. Schnell schließt er das Fenster, unter dem sich in der Nacht durch den Sturm eine kleine Wasserpfütze angesammelt hat. Erschrocken zuckt er zusammen als es plötzlich unten an der Haustür klingelt.

Ben stolpert durch die Wäscheberge zurück in den Flur und die Treppe hinunter. Mit einem Ruck öffnet er die Tür und sieht in Felix´ erschrockene Augen.

„Alles klar bei dir? Mann, du kannst einem vielleicht einen Schreck einjagen!“

„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, wen ich erwartet habe.“ Ben macht einen Schritt zurück in den Flur, um seinen Bruder hereinzulassen. „Ich hab dein Auto gar nicht gehört. Wahrscheinlich war ich deshalb so durch den Wind.“

Felix geht direkt in die Küche und antwortet nur über die Schulter hinweg: „Na du hast doch gesagt, ich soll es nicht direkt vorm Haus parken. Also hab ich´s im Wald abgestellt.“

Ben lächelt vorsichtig. „Danke. Jetzt, wo du es sagst, klingt es echt ziemlich bescheuert. Aber ich glaube, die ganze Situation überfordert mich ein bisschen.“

Felix ist noch immer unterwegs. Die Arme vor der Brust zusammenschlagend späht er ins Wohnzimmer. „Vergiss es einfach! Wer weiß, vielleicht denkst du gar nicht so verkehrt. Aber sag mal“, Felix dreht sich endlich zu Ben um, „meinst du, wir können wenigstens die Heizung anstellen oder wohnt ihr neuerdings in 'ner Kühlzelle?“

Diesmal lachen beide gemeinsam. „Ganz und gar nicht. Am besten du kontrollierst die Heizkörper und ich geh raus und hol etwas Holz. Der Kamin wird uns hier schnell einheizen.“ Während Felix bereits zum ersten Heizkörper schlendert, macht sich Ben auf den Weg zum Schuppen.

Der Boden ist noch aufgeweicht vom vielen Regen, bei jedem Schritt spürt Ben, wie die Erde unter seinen Sohlen nachgibt. Das Holz für den Kamin stapelt sich in einem Regal neben dem Schuppen, das Ben und Felix vor zwei Jahren extra gebaut haben, damit das Holz gut ablagern kann. Ben geht auf den Schuppen zu und sofort sticht ihm die offene Tür ins Auge. Ben will die Tür gerade fest zuziehen, als ihm ein feucht-modriger Geruch aus dem Schuppen entgegen strömt. Mit gerümpfter Nase betritt er das kleine Holzhaus und sieht sich um. Im hinteren Teil hat Ben ein Regal angebracht, in dem sich angebrochene Farbeimer, Pinsel, Schleifpapier und kleinere Werkzeuge befinden. An der linken Wand hängen fein säuberlich die Gartengeräte. Bens Blick fällt auf die rechte hintere Ecke, in der Marie die Altkleider in blauen Säcken sammelt, die alle sechs Monate von einem jungen Mann einer Hilfsorganisation dankbar abgeholt werden. Alle Säcke sind aufgerissen und Hosen, Pullis und Blusen liegen überall wahllos verstreut herum. Was ist denn hier passiert? Zielstrebig geht Ben auf das Durcheinander zu, wobei ihm der faule Geruch mit jedem Schritt stärker in die Nase steigt. Angewidert hält er sich die Hand vor Mund und Nase. Plötzlich entdeckt er etwas Pelziges zwischen den Kleidern. Er bückt sich, um den darüber liegenden Stofffetzen vorsichtig mit zwei Fingern anzuheben. Der Gestank ist jetzt so unerträglich, dass Ben fast würgen muss. Angewidert lässt er das Teil zur Seite fallen, als ihm plötzlich ein ganzer Schwarm kleiner Fliegen entgegenströmt und die Überreste von Murphy entblößt.

Bens Kehle entweicht ein heiseres Stöhnen. Weiterhin auf viel Abstand bedacht, angelt er nach einer kleinen Gartenharke. Dann nimmt er eine der Holzplatten, die er jeden Winter als Kälteschutz von innen gegen die kleinen Schuppenfenster schraubt. Er lässt sie direkt vor sich auf den Boden fallen und beginnt vorsichtig, mit der Harke die Katze nach vorn zu ziehen. Schließlich gelingt es ihm, Murphy von dem Kleiderberg auf die Platte rutschen zu lassen. Was er jetzt sieht, verschlimmert seine Übelkeit augenblicklich. Murphy ist fast nicht mehr zu erkennen. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Das Blut, inzwischen getrocknet, lässt die Haare steif am Kopf kleben, die Augen starren bizarr daraus hervor ins Leere. Auch der Rest des Körpers sieht übel zugerichtet aus. Scheinbar hat ihm jemand sämtliche Beine gebrochen, denn diese liegen nun in den unmöglichsten Winkelstellungen vor ihm auf der Holzplatte. Es ist Murphy, das schmale Halsband mit dem kleinen goldenen Glöckchen verrät es. Ben würgt erneut. Er lässt die Harke fallen und stürzt aus dem Schuppen. Draußen beugt er sich weit vornüber und ist sich sicher, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Außer einem trockenen Würgen passiert jedoch nichts. Schließlich, als er glaubt, seinen Körper wieder halbwegs unter Kontrolle zu haben, stolpert er auf zittrigen Beinen zurück zum Haus. Er findet Felix im Wohnzimmer, wo dieser gerade dabei ist, die Asche im Kamin zusammenzukehren. Als Felix sich zu ihm umdreht, erstarrt er: „Was ist passiert?“

Ben wischt sich mit der rechten Hand den kalten Schweiß von der Stirn und stottert: „Murphy – ich habe ihn im Schuppen gefunden. Er ist – du glaubst nicht wie er zugerichtet ist.“

Felix steht auf und sieht Ben mit zusammengekniffenen Augen an. „Was meinst du damit? Bist du dir sicher, dass er sich nicht vielleicht selbst irgendwie verletzt hat?“

Ben lässt sich in den schweren Sessel fallen. „Ganz sicher! Du kannst ihn dir ja ansehen, wenn du mir nicht glaubst. – Oh Gott, wie soll ich das nur Annely erklären? Sie liebt diese Katze. Die zwei waren unzertrennlich.“

Nach einer guten halben Stunde lässt Felix sich nicht weniger erschöpft auf das kleine Sofa fallen.

„So, ich habe den Kadaver jetzt circa zehn Meter hinterm Schuppen im Wald begraben. Schön war der Anblick wirklich nicht. Wegen Annely müssen wir uns etwas überlegen, aber ich glaube, das sollte im Moment nicht unser größtes Problem sein. Du könntest ihr sagen, Murphy sei einfach abends nicht mehr nach Hause gekommen, Katzen haben da ja ihren ganz eigenen Kopf. Sie wird schon darüber hinwegkommen. Viel wichtiger ist doch die Frage: Meinst du, dass dieser Typ, der Marie entführt hat, was damit zu tun hat und dass es vielleicht eine Warnung sein soll?“

„Keine Ahnung. Hätte er Murphy dann nicht einfach direkt vor die Haustür gelegt, damit ich ihn auf keinen Fall übersehe? Er konnte ja schließlich nicht davon ausgehen, dass ich im Schuppen nachsehe.“

„Vielleicht lag er auch erst vor der Haustür und hat sich noch mit letzter Kraft in den Schuppen geschleppt. Draußen ist der Boden komplett vom Regen aufgeweicht, keine Chance, da noch irgendwelche Spuren zu finden.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das arme Vieh noch irgendwohin schleppen konnte, so wie es zugerichtet war.“ Ben schüttelt ungläubig den Kopf.

„Nun gut, ich hüpf jetzt trotzdem erst mal kurz unter die Dusche, mir den Gestank abwaschen. Vielleicht versuchst du es in der Zwischenzeit noch mal bei Sophie auf dem Handy.“ Felix hat den Satz noch gar nicht ganz zu Ende gesprochen, als sein Handy zu klingeln und vibrieren anfängt. Auf dem Display erscheint Claras Name.

„Hi Schatz“, begrüßt Felix seine Frau. Ben versucht, den Inhalt des Gesprächs zu verfolgen, was sich jedoch als äußerst schwierig erweist, da nur Wortfetzen bei ihm ankommen. Plötzlich reißt Felix die Augen auf und seine Körperhaltung versteift sich.

„Okay Schatz, alles klar, wir sind gleich da“, mit zittriger Stimme beendet Felix das Gespräch.

Verdächtige Stille

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