Читать книгу Meine weisse Stadt und ich - Vincent O. Carter - Страница 11
Jetzt philosophiere ich ein wenig
Оглавление«Sieh dir den Baum an», sage ich und zeige auf einen imaginären Baum mitten im Raum. «Da, zwischen den beiden Tischen, die die Kellnerin gerade für das Abendessen eindeckt.» Er betrachtet den Baum. «Und jetzt sieh dir den anderen an. Dort drüben – er wächst aus der Kasse am Tresen, da, wo gerade der gefrorene Hummer durch die Luft fliegt.» Er blickt gespannt auf den zweiten Baum und folgt dem Flug des gefrorenen Hummers in der schwungvollen Linie, die meine Fingerspitze in die Luft zeichnet. «Sie sehen gleich aus, nicht? Von hier wirkt es so, als hätten alle Blätter die gleiche Form und die gleiche Farbe. Aber stimmt das – haben sie wirklich die gleiche Form und die gleiche Farbe?»
«Nein», antwortet er ein wenig unbehaglich. Ich gebe ihm recht: «Stimmt, das haben sie nicht.» Dann fahre ich fort:
«Je länger du dir die beiden Bäume ansiehst, umso klarer wird dir, wie faszinierend sie sind. Sieh genau hin! Sieh dir an, wie das Licht auf sie fällt. Achte – achte auf die Schattierung der Blätter, die Muster, die sie auf dem Boden bilden. Heb sie auf. Halte sie gegen das Licht. Keins ist wie das andere, vor allem das Büschel an dem Zweig über dem Teich mit den kleinen blauen Fischen.» Staunend starrt er auf das Büschel imaginärer Blätter an dem Zweig, der über dem imaginären Teich mit den imaginären blauen Fischchen schwebt. «Aber halt!», rufe ich. «Dieses Muster siehst du nur jetzt. Es verändert sich. Es verändert sich mit jeder Minute, mit jedem Augenblick. Wie sieht es am Morgen aus? Am Abend? Oder mittags, wenn die Leute zum Essen nach Hause gehen? Und wie sieht es um zwei oder drei Uhr aus, wenn alle in ihre Büros zurückkehren? Ist es an einem sonnigen Augustnachmittag gegen vier dasselbe? Wenn der Wind im Oktober die Blätter mitgerissen hat? Oder wenn die Zweige im Januar von Eis bedeckt sind? Nein! Dabei haben wir nur die Oberfläche betrachtet, die banalsten Aspekte dieser beiden Bäume. Aber … », fahre ich fort, «… aber wenn du auch nur dieses bisschen von einem Baum in seiner Gänze wahrnimmst, kannst du das Himmelreich betreten, ohne deinen Pass vorzeigen zu müssen!»
Und was hat das mit Bern oder den Bernern zu tun?, fragt sein Gesichtsausdruck, doch noch ehe er es aussprechen kann, unterbreche ich ihn.
«Sind Menschen nicht komplexer, komplizierter und lebendiger als Bäume?» Bevor er «Ja» sagen kann, fahre ich fort:
«Sogar die Berner?»
Er runzelt die Stirn.
«Wie viel interessanter als Bäume sind Menschen, sogar Menschen aus Bern? Unendlich viel interessanter!», antworte ich auf meine eigene Frage. «Nun, und wenn ich schreiben will und mich für Menschen interessiere, kann ich dann nicht auch über die Berner schreiben, wenn ich dazu fähig bin?»
«Aber es gibt doch viel interessantere Orte für einen Schriftsteller», wendet er ein. «Paris, Rom, London!»
«Halt!», unterbreche ich ihn. «Zu Rom oder London kann ich nichts sagen, aber ich kann dir erzählen, warum ich nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben bin.» Und ich erzähle ihm Folgendes: