Читать книгу Meine weisse Stadt und ich - Vincent O. Carter - Страница 14
Ein Kapitel, das dem Leser die Unvoreingenommenheit des Autors vermitteln soll
ОглавлениеDas Gelächter und das anmaßende Grinsen meiner Freunde hatten dieses Kapitel notwendig gemacht. Ein oder zwei von ihnen kannten Paris sehr gut und hatten eine ganz andere Meinung von der Stadt und ihren Bewohnern. Ich musste gestehen, dass ich kaum Zeit gehabt hatte, mir ein wirklich objektives Bild von der Stadt zu machen, und meine Erfahrungen hauptsächlich die eines typischen Touristen gewesen waren.
«Hättest du dich in New York oder London nicht genauso einsam gefühlt?», fragte ein junger Mann, der bislang geschwiegen hatte.
«Ja, ganz bestimmt!», sagte ich. «Ich weiß es, denn ich habe diese Städte mehrmals besucht. Mir ist auch bewusst, dass Verallgemeinerungen gefährlich sind. Niemand reagiert auf diese Gefahr empfindlicher als ich. Es ist das Klischee unserer Zeit, dass wir in einem ‹verallgemeinernden Zeitalter› leben und vor der ‹gewaltigen Aufgabe› stehen, ‹überwältigende Mengen› von Informationen aus vielen verschiedenen ‹Bereichen› menschlicher Erfahrung auszuwerten: Aber es ist trotzdem wahr, insbesondere in meinem eigenen Land», räumte ich ein. «Ein Land, das fast ausschließlich aus dünnhäutigen Minderheiten besteht, die stereotypen Meinungen so ablehnend gegenüberstehen, dass die harmloseste Verallgemeinerung qualifiziert werden muss, wenn man sie nicht kränken will.
Wenn wir über Ideen diskutieren, ist eine der häufigsten Qualifizierungen, die Studenten dazu vorbringen – die ernsthaften ebenso wie die Stümper –, dass diese oder jene ‹Fakten› sich relativ zu diesen oder jenen Zusammenhängen verhalten. Dabei vergessen oder übersehen sie oft das eigentliche Problem, das einem eine solche Qualifizierung aufzwingt: Selbst wenn diese ‹Fakten› einen bestimmten Zusammenhang tatsächlich ‹relativieren› können – und es mit Sicherheit auch tun –, wird damit eine Referenz impliziert, zu der sich nichts ‹relativ› verhält. Hier liegt das eigentliche Problem. Wir vergessen, dass die Spezifizierung der Erfahrung lediglich ein bequemer Kunstgriff ist, der uns vom Intellekt auferlegt wird. Er hat nämlich seine potenzielle Entfaltung noch lange nicht erreicht, und wenn es ‹relative› Teile gibt, muss es mit Sicherheit auch ein ‹Ganzes› geben, selbst wenn wir es empirisch nicht beweisen können. Du hast völlig recht, wenn du mich darauf hinweist. Aber ich kann mich rechtfertigen, indem ich euch ein wirklich schönes, aber auch trauriges Erlebnis erzähle, das ich eines Abends mit einem jungen Pariser Soldaten in einem Bistro in der rue Monsieur le Prince hatte.
Ich hatte gerade für meinen Pernod bezahlt, und da ich das Gefühl hatte, dass die Rechnung wieder einmal zu hoch gewesen war, bat ich die Kellnerin um die Preisliste. Sie tat so, als hätte sie mich nicht verstanden, daher gab ich auf und ging. Ein junger Franzose in Uniform folgte mir auf die Straße und sagte: ‹Monsieur, vous avez trop payé pour votre verre!› Ich stimmte ihm entschieden zu und erklärte in meinem ärmlichen Französisch:
‹Das tue ich schon, seit ich in Ihre verfluchte Stadt gekommen bin, Sir. Franzosen sind Diebe und Halsabschneider, und man sollte sie alle dafür hängen!›
‹Mais non!›, rief er. ‹Es sind nicht alle Franzosen so. Sie kennen die Franzosen nicht, Monsieur. Nicht die in den Bars und den teuren Restaurants, sondern die wahren Franzosen.›
‹Da stimme ich Ihnen zu›, gab ich zurück. ‹Ich tue mein Bestes, um Touristenfallen zu meiden, aber ich weiß nicht wie, weil ich die Sprache nicht besonders gut beherrsche und nicht weiß, wo ich diese wahren Franzosen finden soll. Ich habe sogar Mühe, mich den schrecklichen Wesen verständlich zu machen, denen ich ausgeliefert bin!›
‹Kommen Sie mit!›
‹Wohin?›, fragte ich und musterte ihn etwas aufmerksamer. Nicht umsonst hatte Paris einen gewissen Ruf! Er wirkte harmlos, aber trotzdem … ‹Wo bringen Sie mich hin?›, fragte ich. Ich hatte Angst, er würde mir etwas andrehen wollen oder sei ein Zuhälter.
‹Zu meiner Frau. Sie trinkt gleich um die Ecke eine Limonade.›
Ich blieb stehen und sah mir den Kerl genau an. Er war viel größer als ich, aber sehr dünn. Er trug eine abgewetzte, doch relativ saubere französische Militäruniform. Der rechte Arm steckte in einer schwarzen Armbinde, die um seinen Hals hing, die rechte Hand hatte er in die Jacke gesteckt, als wäre der Arm gebrochen. Als er meinen misstrauischen Blick bemerkte, sagte er hastig: ‹Oh, Sie müssen keine Angst haben, Monsieur! Ich bin Korporal Henri Pitit.› Mit der linken Hand kramte er nach seinem Ausweis, um es mir zu beweisen. ‹Ich bin vor Kurzem vom Feldzug in Tunesien zurückgekehrt. Dort wurde ich verwundet.› Er zeigte mit der linken Hand auf den rechten Arm. ‹Ich wurde erst vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen, deshalb bin ich so schwach und blass. Ich bringe Sie zu meiner Frau, die ich von ihrem Seminar an der Universität abhole. Sie studiert Medizin.› Er lächelte stolz. ‹Ich möchte Sie zu mir nach Hause einladen, damit Sie sehen, dass wahre Franzosen nicht wie diese Leute da sind. Dann werden Sie sehen, Monsieur, nicht alle Franzosen sind materialistische Parasiten.›
Ich versuchte einzuwenden, dass ich keinen Hunger hatte, weil ich gerade erst gegessen hätte, aber er wollte nichts davon wissen. Ehrlich gesagt, der Anstand des Mannes beeindruckte mich.
Wen interessiert es schon, was ich von den Franzosen halte, dachte ich bei mir. Doch ihm schien es offensichtlich sehr wichtig zu sein. Deshalb beschloss ich, mit ihm zu gehen.
Seine Frau war ein blasses, halb verhungertes, schmales Ding mit strähnigem dunkelbraunem Haar und klaren und mutigen Augen. ‹Guten Abend›, sagte sie, nachdem ihr Mann uns miteinander bekannt gemacht hatte. Und als er ihr sagte, dass er mich zum Abendessen eingeladen hatte, war sie auf ihre freundliche Art sofort einverstanden. In diesem Augenblick sah sie erst mich und dann ihren Mann mitfühlend an. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Sie zahlte ihre Limonade, und wir verließen das Bistro. Mit der Metro fuhren wir zu einem Viertel, in dem ich noch nie gewesen war. An einer trostlosen Straße stiegen wir aus und liefen durch eine Gasse nach der anderen. Ich dachte an die Slums, in denen ich zur Welt gekommen war, und auch an die von London und Glasgow. Schließlich traten wir durch einen dunklen Toreingang in einen Korridor, der in einen Hof führte, und von da durch eine Tür in einen weiteren Korridor. Eine trübe gelbe Glühbirne an der Decke erhellte das schäbige Treppenhaus; es stank nach Urin und verschimmeltem Essen. Am Ende des Gangs befand sich ein Müllhaufen. Ratten nagten an leeren Konservendosen, und Kakerlaken krochen durch den feuchten Inhalt der überquellenden Mülltonne.
An einer Tür blieben wir stehen und betraten ein Zimmer. Dort saß ein junger Mann an einem kleinen, mit einem Wachstuch bedeckten Holztisch und stand auf, um uns zu begrüßen. Er war vielleicht zweiundzwanzig, mager und ging gebeugt. Er hatte ein feines schmales Gesicht und große mutige Augen, wie die von Henri Pitits Frau. Er ist ihr Bruder, dachte ich und registrierte das dünne braune Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Er trug einen dunklen, ausgebeulten Pullover und einen grünen Wollschal um den Hals. Bevor wir kamen, hatte er geschrieben. Ein halb beschriebenes Blatt Papier lag auf dem Tisch neben einem Vogelkäfig mit einem kleinen grünen Vogel darin. Als wir auf den jungen Mann zugingen, lächelte er leicht, offensichtlich war ihm der Besuch eines Fremden peinlich. Henri stellte mich vor.
‹Das Abendessen ist gleich fertig.› Madame Pitit warf mir einen Blick zu. Dann zündete sie den Gaskocher an, der auf einer kleinen Holzkiste stand. Die weiche blaue Flamme loderte unter einer Blechdose auf, so groß wie ein Vierzigliter-Eimer für Schmalz. Sie enthielt eine schmutzig-graue Suppe, auf der Fettkügelchen schwammen. Das registrierte ich, als ich auf Drängen meines Gastgebers den einzigen Stuhl im Raum annahm. Ebenso, dass in der Flüssigkeit eine Karotte, ein oder zwei Kartoffeln und ein kleines Stück fettes Fleisch schwammen, kaum größer als der kleine grüne Vogel in seinem Holzkäfig auf dem Tisch.
Der Soldat setzte sich auf das Bett. Es schien, als hätten sie sämtliche Lumpen, die sie besaßen, daraufgelegt, um es warm zu haben. Da kein weiteres Bett zu sehen war, folgerte ich, dass die drei zusammen in dem einen schliefen. Der Dichter stand neben dem Herd und beobachtete, wie seine Schwester das Essen zubereitete, das heißt, Salz und Pfeffer in die Suppe streute. Brot, das wir dazu hätten essen können, gab es nicht.
Während ich am Tisch saß, hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Das Zimmer war etwa dreißig Quadratmeter groß. Ein kleines Fenster neben der Tür ging auf den schwach erleuchteten Hof hinaus. Die einzige Heizung war der Gaskocher, auf dem die Suppe brodelte. Neben dem Kopfende des Bettes auf der anderen Seite des Zimmers standen ein paar Holzkisten, die als Tische dienten und mit Büchern und Toilettenartikeln gefüllt waren. Der schmutzige Kachelboden war unbedeckt.
Dann war das Abendessen fertig. Meine Gastgeberin deckte den Tisch. Sie hatten nur zwei Teller und zwei Löffel. Einer von uns würde warten müssen, bis die anderen beiden gegessen hatten. Natürlich musste die Frau als Erste essen, darauf bestand ich, und der Ehemann bestand darauf, dass ich mit ihr aß, weil ich ihr Gast war. Er würde seine Suppe direkt aus einer kleinen Dose schlürfen, und der Dichter erklärte sich bereit, zu warten.
Ich bekam kaum einen Bissen runter. Die Suppe schmeckte gar nicht mal so schlecht, aber sie sah ekelhaft aus, und ihr Aroma wurde durch den Gestank aus der Toilette draußen nicht gerade besser. Obendrein machte es mich nervös, dass ein junger Mann, der die Suppe offensichtlich viel nötiger hatte als ich, wartete, dass ich fertig wurde, damit er essen konnte. Zudem konnte er den Blick kaum von dem Tisch abwenden, der die Mitte des Zimmers in Beschlag nahm. Trotz diverser Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, breitete sich immer wieder ein lähmendes Schweigen aus. Es erübrigt sich zu sagen, dass es mir schwerfiel, meine Gefühle zu verbergen, aber ich versuchte es, indem ich viel zu laut und zu hastig sprach und zu oft lachte oder lächelte. Ich glaube, dass ich sie sogar davon überzeugte, dass ich mich gut unterhielt – alle bis auf die Frau, die es besser wusste. Es gelang mir nicht, meine Verlegenheit und die eklatante Ironie der Tatsache, dass ich deutlich wohlhabender war als sie, vor ihrem gelassenen, vielsagenden Blick zu verbergen. Sie las das schlechte Gewissen in meinem Gesicht. Wenn sie ihre sanften Augen niederschlug, spürte ich die Last der grässlichen Reiseschecks in meiner Tasche (mehr als dreitausend Dollar), ich, der ihre schmutzige Suppe schlürfte und auf dem einzigen Stuhl saß.
Ich hätte ihnen einige davon abgeben können, aber ich traute mich nicht. Der Soldat hatte recht gehabt, sie waren wahre Franzosen. Mein Angebot hätte sie nur gekränkt, und ich hätte mich noch schlechter gefühlt als ohnehin schon. Also quälte ich mich durch den Abend, und es gelang mir tatsächlich, ihnen vor dem Einsteigen in die Metro das Versprechen abzuluchsen, in der kommenden Woche (zuerst hatte ich den folgenden Tag vorgeschlagen, aber sie sagten, da hätten sie bereits etwas vor) mit mir zu Abend essen, und entschuldigte mich gleichzeitig, dass wir in ein Restaurant gehen müssten, weil ich kein eigenes Zuhause hatte.
‹Machen Sie sich deswegen keine Sorgen›, sagte der Soldat. ‹Wir freuen uns, Sie kennengelernt zu haben und hoffen, dass wir uns wiedersehen.› – ‹Au revoir›, sagte die junge Frau mit den mutigen Augen sehr herzlich. Es war kaum mehr als ein Flüstern. Ich stieg in die Metro und verschwand, um mich dort nie wieder blicken zu lassen, aber diese herzergreifende und trotzdem lächerliche Szene, in der ich eine so mittelmäßige Rolle gespielt hatte, habe ich nie vergessen.»
Ein langes Schweigen folgte. Es dauerte etwa drei Minuten. Das willkürliche Stimmengewirr im Mövenpick sickerte in die nachdenkliche Stille der kleinen Runde um mich herum. Schließlich sah mich der Freund an, der mich dem neugierigen jungen Mann vorgestellt hatte, um dessentwillen ich dem ehrgeizigen Kellner so lange getrotzt hatte, und sagte in einem herausfordernden Ton:
«Ich wusste gar nicht, dass du in Amsterdam gewesen bist …»
«Das! … ist eine lange Geschichte», antwortete ich, um sie zu entmutigen.
«Erzähl», sagte er und fügte hinzu: «Und trink noch ein Glas Wein.» Ich nahm an. Kurz darauf brachte der Kellner den Wein. Wir stießen auf unsere Gesundheit an. Dann verstummte die kleine Gruppe. Ich begann …