Читать книгу Meine weisse Stadt und ich - Vincent O. Carter - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеIch habe keineswegs die Absicht, aus meinem Material ein Buch zu machen, Fakten und Eindrücke zu verändern, deren Erwerb mich so viel Mühe und Arbeit gekostet hat, um in den heiligen Gefilden der Kunst zu wildern. Ich möchte lediglich einige starke Gefühle zum Ausdruck bringen, die mein Leben so sehr verändert haben, dass ich weder verzweifelt noch optimistisch, sondern ganz realistisch sagen kann, dass ich nie mehr derselbe sein werde. Die Veränderungen, von denen ich spreche, begannen natürlich mit dem Leben selbst. Die Spannungen, die sie erforderlich machten, waren der «Zeit» und dem «Ort» meiner Geburt geschuldet. Hätte sich dasselbe Ereignis in China oder, sagen wir, in Schweden ereignet, wäre meine Lage eine andere. Hätte ich blondes statt schwarzes Haar, wäre eine völlig andere Geschichte entstanden. Selbst wenn ich ein echter Afrikaner wäre, gerade aus Nigeria eingetroffen, wo meine Vorfahren zur Welt kamen, wie ich glaube (denn ich habe Holzschnitzereien und Elfenbeinfiguren von Leuten gesehen, die von dort kamen und große Ähnlichkeit mit mir haben), würde mein Lied in einer anderen Tonart oder ganz sicher in einem anderen Tempo gesungen. Vor hundert Jahren hätte ich dieses «Buch» vermutlich gar nicht erst geschrieben.
Andererseits ist der kleine Aspekt der Wahrheit, den ich aus meinen Erfahrungen mit anderen Menschen in anderen Ländern gewonnen habe, wahrscheinlich ganz ähnlich, wenn nicht sogar identisch mit dem, was ich möglicherweise gefunden hätte (vorausgesetzt, Wahrheit ist Wahrheit), wenn ich ihn aus einem der oben genannten Umstände abgeleitet hätte. Denn es ist mir klar geworden, dass die potenziellen Handlungen meines Lebens – meine Probleme und Illusionen – gleichsam in die Grenzen meiner Zeit eingebettet sind und diese sich von anderen Epochen der Menschheitsgeschichte nur in punkto Dimension unterscheiden, weil Menschen in allen Zeitaltern und unter allen Gegebenheiten grundsätzlich gleich sind.
Zwar habe ich das fast immer behauptet, aber nicht immer geglaubt. Als Folge einer «rein intellektuellen» Berechnung habe ich versucht, mich von der Gültigkeit der soeben gemachten Feststellung zu überzeugen, wohl wissend, dass mein sogenanntes «Verständnis» nichts anderes war als ein Ausdruck des Glaubens an die abstrakte Hoffnung, dass in der Welt eine Art von Gerechtigkeit vorherrscht, die wir euphemistisch als «poetisch» bezeichnen.
Die Veränderungen in der Einstellung, mit denen ich mich in diesem «Buch» hauptsächlich beschäftige, sind also die Folgenden: der Übergang von dem Geisteszustand, in dem ich mich als von Natur aus anders als andere («weiße») Menschen betrachte, zu einem Zustand, in dem dieser Unterschied verschwand, nur um dann peinlicherweise in Form einer neuen und subtileren Illusion wieder aufzutauchen, nämlich der Illusion von mir selbst als ein von allen anderen unterscheidbares Wesen, und der weitere Übergang in eine Verfassung, in der meine neu entdeckte Besonderheit (die ich hegte und pflegte) sich als die größte aller Illusionen erwies und ich mir schließlich (allerdings nur in seltenen visionären Momenten) lediglich als Bewusstseinszustand offenbart wurde, als bloßer Gedanke von mir selbst, ein Umstand, den ich mit allen anderen Wesen im Universum teilte!
Diese Erkenntnis, so glaube ich, wurde durch meine Reisen befeuert. Schauplatz meiner partiellen (und nach wie vor nicht abgeschlossenen) Metamorphose ist die Stadt Bern – das Objekt, auf das ich meine Aufmerksamkeit richtete und dem ich die fragmentarischen Eindrücke verdanke, die ein Licht auf meine Identität werfen. Es ist also im Wesentlichen ein Reisebuch. Doch da ich die Relativität von «Zeit» und «Ort» geltend gemacht und das erlebende «Ich» auf einen Bewusstseinszustand reduziert habe, muss dies vor allem als Aufzeichnung einer Reise des Geistes angesehen werden. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, dass ich mit diesem Buch eine sozialwissenschaftliche Studie der Stadt Bern oder der Schweizer Nation erstellen wollte, denn diese gewaltige Aufgabe wurde bereits von anderen durchgeführt, deren Interesse in diese Richtung ging.
VOC