Читать книгу Meine weisse Stadt und ich - Vincent O. Carter - Страница 12
Warum ich nicht nach Paris gegangen bin
Оглавление«Oh, ich dachte durchaus an Paris. Als ich in Amerika war, in Detroit in der Autoindustrie arbeitete und für diese Reise sparte, dachte ich, ich müsste unbedingt nach Paris! Und ich hatte einen guten Grund, denn ich war als Soldat dort gewesen und hatte mich in das Land verliebt. Schließlich hatte ich wundervolle Erfahrungen mit den Franzosen gemacht, noch bevor ich nach Paris gekommen war, in der Normandie und in Rouen. Damals hatte ich mir geschworen wiederzukommen. Verstehst du? Ich war sehr dafür. Aber als ich 1953 zurückkam, passierten viele unschöne Dinge.
Erstens hatte ich den Fehler gemacht, im April zu reisen. Das Wetter war schlecht. Zwar war die Überfahrt auf der Isle de France sehr angenehm verlaufen, trotzdem war ich schockiert, als ich in Le Havre von Bord ging. Seit ich zehn Jahre zuvor in einer kalten regnerischen Nacht durch die zerbombten Ruinen der Stadt gefahren war, hatte sich die Stadt enorm verändert. Der Hafen war neu, die Stadt war neu, und es gab viele fremde Leute, die mich herumkommandierten. ‹Gehen Sie dahin! Gehen Sie dorthin!›, müssen sie wohl gesagt haben, sie sprachen nämlich eine Sprache, die ich nicht verstand – war das Französisch?
Und noch bevor ich meine Enttäuschung über Le Havre hinter mir lassen und alte Erinnerungen an dieses und jenes Erlebnis wieder abrufen konnte (Cherbourg war in der Nähe, und Barfleur, der kleine Hafen, an dem wir während der Invasion landeten, nur fünfundzwanzig Meilen entfernt), fand ich mich schnaufend und schwitzend im Zug wieder, umringt von meinem Gepäck, unter Fremden, die sich in unbekannten Sprachen unterhielten, während meine geliebte Normandie langsam in der Dämmerung versank. Namen fielen mir wieder ein, Gesichter tauchten auf, Geräusche und Gerüche. Irgendwo – in Barfleur! – gab es eine alte Kathedrale im Regen, und eine Fischerstochter mit hübschen Beinen und Gummistiefeln, deren Brust sich nervös hob und senkte, während ich einen rostigen Angelhaken aus der Handfläche ihres Vaters zog, ein Mädchen namens Françoise und eine Lehrerin, die Simone hieß … Der Schmerz, oh, dieser bittersüße Schmerz einiger kostbarer Augenblicke von vor zehn Jahren ging unter und wurde von der Dunkelheit verschlungen.
An den Baum müsste ich mich erinnern, dachte ich, während wir durch die Dämmerung fuhren … An dieses Haus! … Dort drüben neben der Ruine stand ein kleines Haus, das … Aber es war schon wieder verschwunden. Gleichgültig schoss der Zug daran vorbei.
Tja, egal, dachte ich, egal. Ich bin in Frankreich. Und bald bin ich in Paris!
Als ich Soldat war, begleitete meine Einheit, das 509. Hafenbataillon, die Versorgungszüge, die zu verschiedenen Versorgungsdepots in ganz Frankreich unterwegs waren. Wir waren in Barfleur stationiert, wo ich zum ersten Mal viele herrliche Dinge erlebte. Später wurden wir nach Rouen verlegt und von da verteilten wir uns in ganz Frankreich. Deshalb kannte ich mich mit den Straßen relativ gut aus und auch ein wenig mit Paris. Dort legten wir nach jedem Einsatz einen Zwischenstopp ein und warteten, dass der Fahrdienstleiter uns eine neue Strecke zuwies. Wenn er nichts für uns hatte, schickte er uns nach Rouen zurück. Normalerweise blieben wir ein paar Tage in Paris, manchmal sogar mehrere Wochen. Wenn wir einen Einsatz hatten, ging es meistens nach Nancy; wenn er keine fand, fuhren wir ins Hauptquartier zurück, nach Rouen, auf dem Champs de Course, am Ende der rue Elbuf. Dort hatte es schon im ‹Ersten› Weltkrieg ein Lager für amerikanische Soldaten gegeben.
Was hatte ich für eine schöne Zeit in Paris gehabt! Wie freundlich die Leute waren! Und die Frauen! Wo sonst gab es derartig bezaubernde Geschöpfe? Obendrein im April! All das ging mir durch den Kopf, während ich, ohne es zu merken, den alten Song ‹April in Paris› … vor mich hinsummte, lada da da da. Und mir sagte: Es war eine wirklich gute Idee, hierher zu kommen!
Galt Paris nicht als Zentrum der Kunst? Waren nicht buchstäblich alle großen Schriftsteller hier gewesen? Heine, Rilke und Hemingway? Welch herrliche Qualen hatten Balzac, Hugo und Maupassant in Faubourg Saint Germain erlitten!
Ich werde mir ein schäbiges kleines Zimmer im Quartier Latin nehmen, dachte ich, mit einem alten Bett, einem Tisch zum Schreiben und einer Kerze. Und einen halb zerfallenen Kamin sollte es haben. Ich werde Käse essen und Rotwein trinken, vielleicht ein bisschen Haschisch rauchen und unvergessliche Texte schreiben. Im Übrigen werde ich mir eine schöne, dekadente Geliebte zulegen, die ich in meinen Geschichten unsterblich mache. Ich werde leiden … und betastete zum Trost die schwarze Brieftasche aus Kunstleder mit den Zwanziger- und Fünfziger-Reiseschecks …
Ich vergaß Le Havre im Dunkeln. Ich vergaß Rouen und die Normandie. Die Müdigkeit fiel von mir ab, und ich atmete die heiße, stickige Luft ein, als wäre sie süß wie der Duft von Chanel Nr. 5. Um eine Flasche davon zu kaufen, hatte ich zusammen mit etwa dreißig Millionen anderen amerikanischen Soldaten an einem bewölkten Morgen vor zehn Jahren Schlange gestanden …
Gegen neun Uhr abends kam ich an. Als der Zug im Bahnhof Gare du Nord einfuhr, musste ich schockiert feststellen, dass ich nicht länger der Held, der ‹große Befreier›, der Adressat eines freundlichen Lächelns und ernsthafter Bitten war, sondern nur ein Tourist unter vielen, dessen Gepäck inspiziert, kontrolliert, überprüft und in ein Taxi verladen wurde, ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, wohin es gehen sollte. Ich musste mich durch eine Horde von Amerikanern kämpfen, um diese Folter zu ertragen! Der Kampf war umso mühseliger, weil ich alles sechsmal fragen musste! Diese dummen Esel verstanden mich nicht mal, wenn ich sie in ihrer eigenen Sprache ansprach. Der Taxifahrer versprach, mir bei der Suche nach einem Hotel behilflich zu sein, fuhr aber lange Umwege – davon war ich überzeugt. Vor zehn Jahren hatte ich eine Tour zum Quartier Latin gemacht und wusste, dass das Viertel nicht weit vom Bahnhof Gare du Nord entfernt war. Und wenn wir dann endlich zu einem Hotel kamen, war es unweigerlich voll. Schon seit Stunden ausgebucht. Als ich am Ende eins fand, das noch ein Zimmer frei hatte, war es viel zu teuer. Mittlerweile war ich jedoch so erschöpft, dass ich es nahm und den Wucherpreis zahlte.
Beim Anblick des Betts wurde mir klar, wie müde ich war. Doch als ich das kleine Waschbecken für Frauen in der Ecke entdeckte (ich glaube, man nennt es Bidet), das diskret hinter einem Paravent, bemalt mit japanischen Damen bei ihrer Toilette, verborgen war, kam ich wieder zur Besinnung. Ich schleppte meinen geschundenen, müden Körper die Treppe hinunter, trat auf die kühle Straße hinaus und machte mich auf, um Paris, das Paris von einst, zu genießen. Die Namen der Straßen und Viertel hallten in meinen Ohren wider.
Wo hatten wir in jener Nacht vor zehn Jahren noch so viel Spaß gehabt? … Irgendwo gab es einen Club namens Can Can, fiel mir jetzt wieder ein: Aber wo? … Und ein Viertel namens Strasbourg Saint-Denis, in dem früher ein großes Restaurant gewesen war. Wir hatten dort gegessen. Ganz in der Nähe war ein Theater. Es hieß, es sei das größte der Welt. Wenn die Lichter erloschen, funkelten dort künstliche Sterne. Es sah aus wie ein echter Himmel … mit Wolken und allem Drum und Dran. Das Rex!
Alles kam wieder hoch. Müde, aber entschlossen stolperte ich weiter. Plötzlich schwankte die Straße hin und her, so wie das Schiff auf der Überfahrt. Mir wurde schwindelig. Die Sehnen in meinen Knöcheln ächzten wie altes Leder, und die Knorpel in den Kniescheiben knirschten, als wären sie rostig. Wo waren meine Füße? Sie fühlten sich an wie abgebrochene Schienbeine, die auf die harten Pflastersteine prallten. Trotzdem wanderte ich blind durch eine Straße nach der anderen, auf der Suche nach weichen, warmen Farben, Gelächter, dem Duft von Parfüm und einer Begleiterin, mit der ich mir das diskrete kleine Waschbecken hinter dem seidenen Paravent mit den japanischen Damen teilen konnte.
Es fing an zu regnen. Mir war kalt; ich fühlte mich müde und verloren und fand den Weg zurück zum Hotel nicht mehr. Ich bog in eine Gasse in der Nähe eines Kinos ein. Davor stand ein großes Plakat mit dem Bild von Fernandel; er trug eine weiße Segeltuchhose und Tennisschuhe und einen komischen Hut auf dem Kopf. Aus einem Toreingang sprach mich eine Frau an. Sie war alt, und ihr Haar war an den Wurzeln dunkel und am Gesicht blond. Auf dem Kinn prangte ein künstlicher schwarzer Leberfleck. Insgesamt hatte sie drei davon. Als ich aus dem Regen in das muffige alte Treppenhaus trat, fragte ich mich, ob sie es war, an die ich mich zu erinnern versuchte. Wir tranken Kognak, und ich erzählte ihr, dass ich Jimmy heiße … Und dann zog ich einen Reisescheck aus meiner schwarzen Brieftasche und gab ihn ihr. Als ich mein Hotel endlich wiederfand, war es sehr spät, und bis ich einschlief, fast Morgen. Ich schlief bis in den Mittag.»
«Monsieur?»
Ein Kellner stand vor unserem Tisch. Während ich mit meinen Erfahrungen in Paris beschäftigt war, hatte mein Gegenüber ein weiteres Glas Wein bestellt.
«Willst du nicht auch eins?», fragte er.
«Nein danke», gab ich zurück.
Der Kellner runzelte die Stirn, denn es war Essenszeit, und wir besetzten einen Tisch in der Mitte. Er wollte, dass wir gingen, damit er ihn neu decken und vielleicht einer vierköpfigen Gästegruppe eine der teuren Mövenpick-Spezialitäten servieren konnte, mit denen sich ein ansehnliches Trinkgeld verdienen ließ. Da ich selbst einmal Koch gewesen war, fühlte ich mich unbehaglich und schlug vor, jetzt aufzubrechen. Doch meine Freunde wollten, dass wir noch blieben und unsere Unterhaltung zu Ende führten. Der junge Mann rechts von mir, dem zuliebe ich diese Erklärung begonnen hatte, war der Ungeduldigste von allen und wollte unbedingt wissen, wie mein Aufenthalt in Paris verlaufen war.
«Ist das alles, was du über Paris zu sagen hast?», fragte er. Ich merkte, dass er enttäuscht war und mich wegen meiner vermeintlich typisch amerikanischen Beschränktheit verspottete. Sein Tonfall nervte mich, und um meine Meinung über Paris zu rechtfertigen, ging ich ein wenig verzweifelt zum ernsteren Teil der Geschichte über.