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Warum ich Amsterdam verlassen habe
Оглавление«Tja, wäre ich damals ein bisschen mutiger gewesen», gestand ich, «hätte mir Amsterdam vielleicht besser gefallen. Da ich aber neu in Europa war, kam es mir so furchterregend vor wie Paris unfreundlich. Denn Amsterdam konfrontierte mich mit einem alten Problem und mehreren neuen, auf die ich nicht vorbereitet war.
Das alte Problem war natürlich die Sprache. Wenn man eine Sprache nicht beherrscht, ist man unsicher und argwöhnisch. Zum ersten Mal hatte ich das ungute Gefühl, ständig angestarrt zu werden. Aber in punkto Freundschaften erging es mir viel besser als in Paris. Der junge Schriftsteller, den ich auf dem Boulevard Saint-Michel getroffen hatte, hatte mir ein Empfehlungsschreiben für seine Freunde mitgegeben. Nachdem ich die erste Nacht in einem sehr angenehmen, aber teuren Hotel verbracht hatte, machte ich mich auf den Weg zu ihnen. Mein neuer Freund hatte gesagt, sie könnten mir helfen, eine preiswerte Unterkunft zu finden.
Ganz oben auf meiner Liste stand ein freundliches junges Paar. Beide lasen meinen Brief und nahmen mich mit offenen Armen auf. Ihr Mann sei ein ziemlich bekannter Dichter in Holland, erzählte mir die Frau. Sie zeigte mir mehrere schmale Gedichtbände mit seinem Namen auf dem Umschlag. Und soweit ich verstand, stammte sie aus einem alten, aber verarmten Adelsgeschlecht. Er war groß, drahtig und elegant und trug das Haar wie ein Jahrzehnt zuvor die Pariser Existenzialisten. Er hatte ein sympathisches, feines Gesicht. Sie wiederum entsprach genau dem Bild, das man nach ihrer Erklärung erwarten konnte. Sie war groß, sehr schlank und ausnehmend feminin, mit kastanienbraunem Haar und haselnussbraunen Augen, selbstsicher und schlicht, aber perfekt gekleidet. Ich war von beiden hingerissen, vor allem aber von ihr, weil sie nicht nur schön war, sondern auch perfekt Englisch sprach, mit britischem Akzent.
Ihre Wohnung war klein. Sie platzte aus allen Nähten vor Büchern und persönlichen Gegenständen. An den Wänden hingen viele Gedichte, signierte Zeichnungen und Gemälde. Der kleine Raum, in dem wir saßen, war Schlafzimmer, Esszimmer und Wohnzimmer zugleich, und nebenan gab es noch eine kleine Küche. Sie entschuldigten sich, dass sie mich nicht bei sich aufnehmen konnten, versprachen aber, mir bei der Suche nach einem Zimmer zu helfen. Die Gastgeberin bot mir Kaffee an, und während wir ihn tranken, erzählte ich ihr, wie ich ihren Freund in Paris kennengelernt hatte. Sie übersetzte, was ich sagte, für ihren Mann ins Holländische, und umgekehrt, wenn ihr Mann mir etwas sagen wollte.
‹Der Nächste auf der Liste ist ein Maler›, erklärte sie. ‹Sein Bruder war ein sehr erfolgreicher Dichter, der im Krieg umgekommen ist. Er wohnt nicht weit von uns. Vielleicht kannst du ein paar Tage bei ihm unterkommen.› Sie lächelte, ein wenig neugierig, fand ich, und setzte hinzu: ‹Er ist sehr nett, und seine Freundin wird dir auch gefallen! Bei den anderen wirst du nicht viel Glück haben, aber ganz bestimmt werden sie alles tun, um dir zu helfen.› Nachdem wir unseren Kaffee getrunken hatten, schlug sie vor, zum Leidseplein zu gehen, dort gäbe es ein Café, das sie oft aufsuchten. ‹Sie müssten jetzt alle dort sein›, erklärte sie.
Und so gingen wir zu dem Café. Es erinnerte mich ein bisschen an Paris. Alles war dunkelbraun und etwas schmuddelig, die Atmosphäre verraucht, laut und sehr familiär. Es gab eine Menge langhaariger Männer mit Bärten und dicken Wollpullovern. Man unterhielt sich locker; viele der jungen Leute, die dort saßen, hatten nichts zu trinken bestellt. Nach und nach lernte ich einen nach dem anderen kennen. Sie standen alle auf meiner Liste. Allerdings fand ich es sehr unangenehm, dass wir uns nicht unterhalten konnten. Der junge Maler, bei dem ich unterkommen sollte, war mir sofort sympathisch. Zum Glück sprach er ein bisschen Französisch, sodass wir uns einigermaßen verständigen konnten. Er erklärte sich bereit, mich für ein paar Tage bei sich aufzunehmen, bis ich etwas gefunden hätte. Ich war sehr froh über mein Glück. Nach dem Café ging ich sofort ins Hotel zurück, holte mein Gepäck und begab mich auf die Suche nach der Adresse in der Prinsengracht, die er mir gegeben hatte.
Die Wohnung bestand aus zwei mittelgroßen Zimmern und einer winzigen Küche, voll mit schmutzigem Geschirr, Kannen, Kaffeesatz, Teeblättern und Eierschalen. Das vordere Zimmer ging auf die Gracht hinaus und war sehr gemütlich. Es hatte zwei große Fenster, einen runden Tisch und ein sehr niedriges Bett in der Ecke. Rechts und links davon standen Regale voller Bücher. An den Wänden hingen Bilder, es gab einen uralten Kamin, und überall verstreut seltsam anmutende Vasen mit Blumen. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch, und auf dem Boden lag ein verschlissener roter Teppich. Ein Strumpf hier und ein Unterrock dort, Haarspangen auf dem Boden und ein Lippenstift auf dem Kaminsims verliehen dem Raum eine verwunschene Atmosphäre und weckten meine Neugier auf die Freundin meines Gastgebers. Als der Maler sah, wie mein Blick an dem losen Strumpf hängen blieb, der achtlos über die Rückenlehne des Stuhls geworfen war, machte er eine lässige Geste und sagte: ‹C’est Tania. Elle viendra ce soir …›
Obwohl ich froh war, einen Platz gefunden zu haben, wo ich die Nacht verbringen konnte, war ich am nächsten Morgen doch ziemlich unglücklich darüber, ausgerechnet diesen Platz gefunden zu haben. Denn da war mir bereits klar, dass ich in dieser Wohnung nicht lange bleiben konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Der Grund war dieses ‹Tania kommt heute Abend›, das der Maler angekündigt hatte. Genau das tat sie. Sie war um die zwanzig, mit Haar so rot wie die Sonne und einer wunderschönen Figur. Sie war Ballerina und tanzte im Staatstheater. Voller Begeisterung über etwas, was ich nicht verstand, platzte sie ins Zimmer und warf sich ihrem Liebhaber in die Arme. Sie fielen auf das Bett, wälzten sich übereinander und küssten sich ein ums andere Mal, während ich entsetzt dastand und darauf wartete, dass wir einander vorgestellt wurden. Als sich ihre Freude erschöpft hatte, standen sie auf, und er machte uns miteinander bekannt. Auf Holländisch erklärte er ihr, dass ich eine Zeitlang bei ihnen wohnen würde. Sie lächelte bezaubernd, gab mir die Hand und fing an, sich auszuziehen. Am liebsten wäre ich aus dem Fenster gesprungen! Ich war drauf und dran, aber das wäre albern gewesen, fand ich. Also hielt ich die Stellung.
‹Wir gehen aus!›, verkündete der Maler. Das nahm ich zum Anlass, mir jede Menge kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen.
Wir kehrten in das Café zurück, in dem ich am frühen Nachmittag schon einmal gewesen war. Dort traf ich den Dichter und seine Frau mit dem kastanienbraunen Haar wieder und auch all ihre anderen Freunde. Wir schüttelten uns die Hand, lächelten und tranken eine Menge holländischen Genever. Dann sagte mein Maler plötzlich: ‹Viens avec moi!› Er packte Tania, die sich gerade leidenschaftlich mit einem unrasierten jungen Mann unterhielt, und wir stürzten hinaus auf die Straße und winkten einem Taxi. Nach ein paar Minuten erreichten wir ein lautes Viertel, in dem es vor Menschen wimmelte. Auf beiden Straßenseiten gab es unzählige hell erleuchtete Cafés und Nachtclubs. Musik erfüllte die Luft, Samba, Tango, Jazz. Überall sah ich Schwarze, Indonesier und andere Ethnien. Vor jedem Hauseingang drängten sich verführerische Frauen.
Wir stiegen aus dem Taxi und mischten uns unter die Leute. Dann bogen wir in eine Straße an einer Gracht ein. Die Lichter der Häuser auf beiden Straßenseiten spiegelten sich im Wasser. Es war grün und schleimig. Auf unserer Seite der Gracht sah die ganze Straße aus wie ein Einkaufsviertel. Fast jedes Haus hatte eine Ladenfassade im Erdgeschoss. Sie wirkten wie kleine Glaskäfige, etwa zweieinhalb Kubikmeter groß. In jedem Schaufenster saß eine Frau. Manche waren jung, manche alt. Die meisten hatten blondes Haar und trugen enge, halb durchsichtige, tief ausgeschnittene Blusen ohne BHs und sehr enge kurze Röcke. Sie spannten sich über den Schenkeln der Frauen, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Stühlen oder Hockern saßen. Manche trugen Schuhe, andere waren barfuß. Die meisten starrten mit ausdruckslosen, leeren Gesichtern auf den Boden, ihre Hände oder das schleimige Wasser des Kanals. Eine, sie mochte Mitte dreißig sein, strickte an einem rosa Teil; eine andere, die sehr jung wirkte, nicht mal achtzehn, tat so, als würde sie eine Illustrierte lesen.
Vor den Schaufenstern drängelten sich Scharen von betrunkenen Männern. Amerikanische Soldaten und Matrosen, weiße und schwarze. Manche schienen Afrikaner zu sein, andere waren ganz offensichtlich Engländer und Franzosen in Uniform. Viele von ihnen sprachen Deutsch oder Holländisch. Sie standen vor den Schaufenstern und begafften die Frauen. Sie lachten und machten Witze, während sie die zur Schau gestellten Körper begutachteten. Gelegentlich klopfte ein Mann ans Fenster oder machte der Frau ein Zeichen, nach draußen zu kommen. Dann verließ sie das Schaufenster, und eine Seitentür öffnete sich. Der Mann trat ein. Ein paar Minuten später kam die Frau zurück und nahm ihre vorherige Stellung in dem Schaukasten wieder ein.
Während wir durch die Straße liefen, wurde mir allmählich übel. Zugleich faszinierte mich, was ich sah. Ich war verwirrt, weil ich nicht sagen konnte, ob mir das Verlangen, ein Schuldbewusstsein oder die Obszönität der Szene auf den Magen schlug. Ich drückte den Arm des Malers. ‹Lass uns gehen!›, sagte ich auf Englisch, aber offenbar verstand er meinen Gesichtsausdruck.
Wir bogen in eine andere Straße ein. Dort gab es noch mehr Cafés voller Menschen. ‹Hier drüben›, sagte er. Wir betraten einen Nachtclub. Eine schwarze Band stand auf der Bühne. Der Bandleader spielte Trompete und versuchte, Louis Armstrong nachzuahmen. Auf der Tanzfläche tummelten sich die Paare. An den Tischen und der Bar saßen alle möglichen Leute. Die Atmosphäre war in rotes, verrauchtes Licht getaucht. Es war sehr heiß, und wir hatten Mühe, einen freien Tisch zu finden. Doch dann stand neben uns ein Pärchen auf und ging, und wir übernahmen ihre Plätze. Während wir auf die Drinks warteten, die wir bestellt hatten, wiegte sich Tania aufreizend zum Rhythmus der Musik. Ich versuchte, sie nicht anzusehen. Der Maler tanzte nicht.
‹Tanz mit Tania›, drängte er.
‹Es ist zu voll›, erklärte ich und sah Tania entschuldigend an. Sie hatte ‹Tanz mit Tania›, nicht aber meine Ausrede verstanden. Deshalb interpretierte sie meinen Blick als Aufforderung und stand auf. Widerstrebend tanzte ich mit Tania.
Sie war rund und weich und trug ein elegantes rotes Kleid mit nichts darunter. Die Tanzfläche war so überfüllt, dass wir dicht aneinandergepresst wurden. Ich versuchte, ihren Körper auf Abstand zu halten, doch es war aussichtslos. Ihr Arm legte sich um meinen Hals, und meiner umschlang unwillkürlich ihre Taille. Ich versuchte, mich von dem Maler wegzubewegen, doch der Raum war so voll, dass es unmöglich war. Und so wanden wir uns auf engstem Raum wie nackte Würmer in einem heißen Eimer.
Ich erinnerte mich an die wilde, leidenschaftliche Tania, die ich am Abend in ihrer Wohnung kennengelernt hatte. Ich sah die Frauen mit den übereinandergeschlagenen Beinen in den Schaufenstern an der Gracht. Ich schwitzte. Benebelt schwankte ich von einer Seite auf die andere, als die Band ein langsames Stück spielte. Gelegentlich warf ich dem Maler einen Blick zu und lächelte. Er erwiderte mein Lächeln mit einem seltsamen, belustigten Ausdruck. Tania verlor sich in der Wärme, in der Hitze der Musik und in meinen Armen …
Wir kehrten sehr spät nach Hause zurück. Kaum hatten wir die Wohnung betreten, riss Tania sich die Kleider vom Leib. Ich murmelte heiser Gute Nacht und verzog mich hastig in das Zimmer nebenan. Ich versuchte, die Schiebetür zu schließen, aber sie klemmte. Dann zog ich mich in der dunkelsten Ecke aus, legte mich auf die Couch und betete darum, schnell einzuschlafen.
Kurz darauf erlosch das Licht im anderen Zimmer, und der Albtraum begann. Die Geräusche des Liebespaars hallten durch die Dunkelheit. Sie verhielten sich so, als wären sie ganz allein auf der Welt. Mir kam es vor, als kristallisierte sich mit jedem Stöhnen, das aus dem Nebenzimmer kam, die ganze Leidenschaft der Welt und tanzte im Dunkeln nackt vor meinen Augen. Das lebendige Ungeheuer lachte und machte sich lustig über mich. Es teilte sich in unzählige Variationen auf, sodass mir der Schweiß unter den Achseln ausbrach und auch mein Gesicht von Schweiß überströmt war. Bis zum Morgengrauen machte es mit seinen glühenden Zangen jeden Versuch zu schlafen zunichte.
Als sich das erste rosige Licht durchs Fenster stahl, zog ich mich hastig an und verließ auf Zehenspitzen die Wohnung. Ich wanderte an den Grachten entlang, bis ich nicht mehr konnte. Dann setzte ich mich auf die Stufen einer Metzgerei und sah erschöpft und neidisch zu, wie die Stadt langsam aus dem Schlaf erwachte. Als ich wieder in die Wohnung zurückkam, war Tania zur Arbeit gegangen, und der Maler schlief noch. Ohne mich auszuziehen, fiel ich voll bekleidet auf die Couch und schlief tief bis in den späten Nachmittag.
Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, tagsüber in der Wohnung zu schlafen und nachts durch die Straßen zu irren. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich mir alle Mühe gab, ein Zimmer zu finden. Meine Suche führte mich auch zu anderen Mitgliedern der kleinen Künstlergruppe, für die mein Bekannter in Paris mir das Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte.
Eines Tages landete ich bei einer schönen jungen Frau, deren Mann nicht da war. Sie war Dichterin, und er – wie alle behaupteten – ein großartiger Schriftsteller. Er war nach England gegangen, um Englisch zu lernen, damit er auf Englisch schreiben, ein größeres Publikum erreichen und so der Zensur der Kirche entgehen konnte, die seiner Ansicht nach die künstlerische Kreativität in Holland behinderte. Seine Frau war erst drei- oder vierundzwanzig, wirkte aber vollkommen erwachsen, selbstsicher und kontrolliert. Sie war sehr feminin, klein, mit einer Fülle von weichem braunem Haar. Ihre Augen waren groß, ruhig und blau. Sie zu betrachten war wie vom Gipfel eines Hügels zu einem klaren Himmel emporzuschauen oder Musik zu hören. Nachdem ich ihr meine Geschichte erzählt und mein Empfehlungsschreiben gezeigt hatte, sagte sie, es tue ihr leid, dass sie kein Zimmer für mich hätte, aber sie wolle mir bei der Suche helfen. Kurz darauf klingelte es unten an der Tür, und ich hatte einen Augenblick Zeit, mich umzusehen.
Ich saß in einem großen sonnendurchfluteten Zimmer mit einer relativ niedrigen Decke, die von schweren Eichenbalken getragen wurde. Sie waren sorgfältig lackiert und gehörten zum Dekor. An der Wand stand ein bequemes Sofa, auf dem eine fein gewebte Decke lag. Sie schien sehr alt zu sein. An den Wänden hingen gerahmte Gedichte und Bilder. An der Wand gegenüber der Tür stand eine altmodische Vitrine mit Glastüren. Sie war überfüllt mit allen möglichen Büchern, vergilbten Zeitungen und Papieren, die wie Manuskripte aussahen. Durch ein Fenster gegenüber dem Sofa strich eine leichte Brise ins Zimmer. Die Fensterläden standen offen.
Mit einem Mal sprang ein riesiger, wild aussehender hellbrauner Kater auf die Fensterbank und von da auf den großen runden Tisch in der Mitte des Raums. Er hob träge den Kopf, sah mich gleichgültig an und machte dann einen lässigen Satz auf den Sessel seiner Herrin, wo er sich zusammenkauerte. In dieser Stellung starrte er auf einen glühenden Sonnenbalken, der den blankpolierten Boden versengte.
Dann kehrte meine Gastgeberin mit mehreren jungen Männern zurück. Ich hatte sie schon einmal gesehen, im Café am Leidseplein. Wir begrüßten uns, und ich war froh, dass alle ein bisschen Englisch sprachen. Als sie erzählte, dass ihr Mann in England war und weshalb, äußerte ich Mitgefühl, weil er die Mühe auf sich nehmen musste, in einer fremden Sprache schreiben zu lernen.
‹Wir – sind daran gewöhnt›, entgegnete sie.
Verdutzt sah ich sie an. ‹Das verstehe ich nicht.›
‹Wir sind nun einmal anders, und deswegen hassen sie uns.›
Jetzt war ich noch verdutzter. Wen meint sie mit wir, fragte ich mich. Wäre sie schwarz gewesen, hätte ich schneller verstanden. Während des Schweigens, das folgte, dachte ich kurz über dieses Rätsel nach. Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was ich erlebt hatte, seit ich nach Holland gekommen war, um herauszufinden, worauf sie anspielte. Ihre Freunde waren ausnahmslos sehr nett zu mir gewesen. Und jetzt kam es mir vor, als stünden sie sich alle sehr nahe.
‹Schade, dass das junge Paar, das ich in Paris kennengelernt habe, nicht hier ist. Ich hätte mich gern mit ihnen angefreundet›, sagte ich.
‹Familienprobleme›, sagte einer der jungen Männer lächelnd. Er war schäbig gekleidet und sonst eher mürrisch. Auf seine Bemerkung hin wechselten die anderen vielsagende Blicke.
‹Wie gefällt dir Holland?›, fragte der ältere, anprechendere junge Mann. Er trug eine Brille und sah aus wie ein ernster Philosophiestudent. Später erfuhr ich, dass er Professor für alte Sprachen an der Universität war und sein mürrischer Begleiter Bildhauer. Der dritte im Bund wirkte weder jung noch alt. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen still und aufrecht auf seinem Stuhl und sagte kein Wort.
‹Oh, ganz gut. Ich bin zwar noch immer auf der Suche nach einem Zimmer … Und ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, wie mich die Leute hier die ganze Zeit anstarren.› Dann erzählte ich ihnen von meinen Erfahrungen in Paris und warum ich von dort weggegangen war. Ich schloss mit der Klage über die missliche Lage des Schwarzen, der wie ein mutterloses Kind durch die Welt wandert, weit weg von der Heimat.
‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.› Ich sah die hübsche junge Frau an, die das gesagt hatte. Ihr Blick war fest, ihr Ausdruck ruhig. Ihre Hände lagen leicht verschränkt in ihrem Schoß. Plötzlich tauchte der wild aussehende Kater auf, wie aus dem Nichts, und sprang auf ihren Schoß. Liebevoll streichelte sie seinen Kopf.
‹Wer?›
Alle sahen mich mindestens eine volle Minute ungläubig an. Ich hatte dieses Staunen, das sie nun zweifellos empfanden, selbst erlebt, wenn mich in einer Unterhaltung jemand fragte, wer Hamlet geschrieben hatte.
‹Die Deutschen.› Sie sagte es ganz ruhig, als hätte sie die Kartoffeln gesagt.
Da erst ging mir auf, dass sie Juden waren. Die Erkenntnis zeigte sich an meinem Gesichtsausdruck. Tödliche Stille senkte sich über den Raum. In diesem Moment machte ich eine Bestandsaufnahme des Universums und versuchte zu begreifen, wer ich war. Ich erinnerte mich, dass ich das Lächeln, das nun über den Rand der Gesichter in diesem Zimmer huschte, auch auf den Gesichtern von Schwarzen gesehen hatte, wenn sie von den Vorfällen während der Rassenunruhen in Chicago und Detroit, von den Lynchmorden im Süden oder der Polizeigewalt im Norden sprachen.
Kurz darauf beendete ich meinen Besuch. Mit gemischten Gefühlen verließ ich die kleine Gruppe. Der Klang der Worte der jungen Frau: ‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht› verdüsterte den klaren blauen Himmel. Die sanfte, unschuldige Brise, die durch den kleinen Park unweit des Hauses wehte, das ich gerade besucht hatte, verwandelte sich in einen bedrohlichen Agenten des Bösen. Das bezaubernde Gesicht meiner Gastgeberin schwebte vor meinen Augen wie das Bild einer mythologischen Gestalt oder das Negativ einer schönen Frau, die tot war. Ich identifizierte mich dermaßen mit ihrem Schmerz, dass ich mich selbst wie ein Jude fühlte. Das schreckliche Ungeheuer, SIE, die anderen, lauerte in den dunklen Ecken meines Bewusstseins, und so bildete ich mir eine perverse und böswillige Feindseligkeit in allen Gesichtern ein, die mir begegneten. Die geringste Aufmerksamkeit von Leuten auf der Straße oder öffentlichen Plätzen verstörte mich!»
An dieser Stelle konnte sich die kleine Gruppe junger Männer, die sich im Mövenpick um mich scharte, nicht mehr beherrschen.
«Moment mal!», rief jemand. Ich hörte auf zu sprechen und sah mich um, auf der Suche nach der Stimme, die meine Erinnerungen unterbrochen hatte.
«Ja», sagte ich, ein wenig verträumt und bemerkte, wie am Himmel ein Stück weiches Blau aufleuchtete. Dann sagte der Jemand – ich wusste nicht, wer es war:
«Ich kann verstehen, wie sich die Juden gefühlt haben müssen, aber dass die Menschen dich anstarrten, ist doch klar. Offenbar ist dir nicht bewusst, dass wir Europäer nicht jeden Tag Schwarze zu Gesicht bekommen!»
«Doch», entgegnete ich ungeduldig, denn ich wollte den roten Faden meiner Gedanken nicht verlieren. Zugleich bedauerte ich, dass ich nicht innehalten und auf seinen Einwand eingehen konnte, ich hätte überempfindlich auf das Gaffen der Leute reagiert. «Vermutlich hast du recht», sagte ich. «Ich komme später noch darauf zurück, aber jetzt würde ich gern zu Ende erzählen, warum ich aus Amsterdam weggegangen bin.
Ich habe versucht zu beschreiben, wie sehr mich das Gespräch mit der jungen Dichterin erschüttert hatte. Was mich aber vollends aus dem Gleichgewicht brachte, war ein anderer Herr, dem ich vorgestellt worden war. Er war Grafologe. Er interessierte mich, einmal wegen seines Berufs, zum anderen, weil er offenbar Spinoza genauso bewunderte wie ich. Er war ein groß gewachsener blonder Mann mit feinen Gesichtszügen und einer leicht gebeugten Haltung. Er saß, stand oder ging gewöhnlich mit gesenktem Haupt, als trüge er eine schwere unsichtbare Last – und genauso war es auch!
Ich hatte ihn über meinen Gastgeber in der Prinsengracht kennengelernt. Eines Tages lud er mich zu sich nach Hause ein und stellte mir seine Frau und seinen Sohn vor. Sie war eine kräftige, dunkelhaarige kleine Person, die aussah wie dreißig, aber eher vierzig sein musste. Trotzdem sah sie sehr gut aus. Sie war extrem ernst und auf seltsame Art lebendig. Ihr Sohn war zwölf und außergewöhnlich hübsch.
Der Mann hatte versprochen, mir seinen Beruf zu erklären, nachdem ich ihm gestanden hatte, diesen schon immer mit einer Portion gesunder Skepsis betrachtet zu haben. Doch als ich bei ihm eintraf, steckte mich seine Frau mit ihrer Begeisterung für Musik an. Sie hatte eine kleine Plattensammlung mit Werken von Bach, Mozart und Vivaldi, um nur einige zu nennen.
‹Musik ist alles, was mir geblieben ist›, sagte sie feierlich. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mich privilegiert fühlen sollte, sie mit ihr teilen zu dürfen. Anschließend blieb uns nichts anderes übrig, als zuzuhören. Und so machten wir es uns um den Plattenspieler herum gemütlich. Mein Platz war neben dem Fenster, durch das ich über die Dächer von Amsterdam sah. Ansonsten konnte ich den Blick nicht von ihr abwenden. Sie war auf starke, überzeugende Weise ein Zentrum der Anziehungskraft für uns alle.
Später erfuhr ich, dass diese kleine Frau während des Krieges sehr mutig gewesen war. Die Nazis hatten sie mehrmals festgenommen, und jedes Mal war ihr die Flucht gelungen. Ihre Augen glühten wie Feuer, während sie die Musik in sich aufnahm, als wäre sie das Leben selbst. Wir anderen nahmen an diesem Ritual teil wie Besucher, die den Gottesdienst einer Kirche besuchen, ohne deren Glauben anzugehören.
Dann war die Musik zu Ende. Sie servierte uns Kaffee, und ich hatte das Thema Grafologie vergessen. Wir unterhielten uns über Spinoza.
‹Wir sind alle Teil eines Ganzen, das Gott ist … egal auf welche Art man ihn wahrnimmt … Das ist alles, was er sagen wollte.› Sie sprach die Worte mit großer Eindringlichkeit aus.
‹Ja›, antwortete ich. ‹In der Ausgabe der Ethik, die ich gelesen habe, hatte der Herausgeber das Dokument der Exkommunikation beigefügt, das Spinoza von der Kirche vorgelesen wurde. Ich war erstaunt über die scheinbar unzähligen Arten, mit denen er von den Kanonikern des Kirchenrechts verflucht worden war. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er sich gefühlt haben muss, als Ausgestoßener unter seinen eigenen Leuten. Und das zu einer Zeit, als es in der westlichen Welt nur wenige Staaten gab, in denen ein Jude Asyl erhielt. Es machte mich sehr traurig …›
‹Sie sollten einen Spaziergang mit mir durch die Altstadt machen›, sagte der Grafologe. Seine Frau sah ihn mit schmerzerfülltem Ausdruck in den Augen an. Ich fühlte mich unwohl. ‹Ich zeige Ihnen das Ghetto, in dem Spinoza lebte … Den Platz, wo die alte Synagoge stand.›
‹Den würde ich sehr gern sehen›, sagte ich und versuchte, den Gesichtsausdruck seiner Frau zu deuten.
Wir tranken unseren Kaffee aus, ich bedankte mich bei ihr für die wundervolle Musik und verabschiedete mich.
Es war ein sonniger und träger Tag. Langsam schlenderten wir durch die Altstadt von Amsterdam, vorbei an vielen Häusern, die gerade abgerissen wurden, und an anderen, die nur noch Ruinen waren. Nach einer Weile kamen wir zu einer Art Platz mit einem alten Springbrunnen aus Stein in der Mitte. ‹Hier halten wir unseren Markt ab, aber heute gibt es keinen›, erklärte er mir. Wir gingen weiter. Nachdem wir den Platz überquert hatten, zeigte er geradeaus und sagte: ‹Dort drüben stand die alte Kirche. Sie ist vor langer Zeit zerstört worden. Die da ist neu.› Die Mauern des Gebäudes waren gespickt mit Einschüssen von Maschinengewehren und Löchern von Mörsergranaten. So gut wie alle Fenster waren zersplittert. Ich sah ihn fragend an. ‹Der Krieg›, erklärte er.
Wir gingen weiter. Gelegentlich deutete er auf ein Gebäude oder ein Haus und machte eine erklärende Bemerkung. An einer Stelle zeigte er mir ein dreistöckiges Gebäude einige Straßen von der Synagoge entfernt und sagte: ‹Dorthin haben sie meine Familie verschleppt. Sie wurden alle umgebracht.› Er sprach mit unterdrückter, halb erstickter Stimme. Da er einen Schritt hinter mir zurückgeblieben war, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Beim Klang seiner Stimme blieb ich abrupt stehen und versuchte, das beklemmende Gefühl, das mich überkam, abzuschütteln. Ich dachte an den schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht seiner Frau.
Sie hat es gewusst, dachte ich.
Die Sonne schien auf das stumpfe graue Gemäuer und auf die Pflastersteine der Straße und überzog sie mit einem hellen Glanz. Ich hörte nichts, nur seine Stimme, seinen Atem und die Stille, wenn wir verstummten. Ich sah das schöne Gesicht der Dichterin vor mir. Sie saß in dem lichtdurchfluteten Zimmer und sah mich unverwandt an. Sie hatte die Hände in ihrem Schoß verschränkt. Der wilde Kater tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und sprang auf ihren Schoß. Sie streichelte seinen Kopf und sagte: ‹Aus meinen Eltern haben sie Seife gemacht.› Ich zuckte zusammen, drehte mich um und sah ihn an, so laut war die Stimme, die ich soeben gehört hatte. Ich fragte mich, ob auch er sie gehört hatte. Als sich unsere Blicke kreuzten, wurde er kreidebleich. Die randlose Brille, die er trug, ließ seine Augen riesig und flüssig erscheinen, als blickten sie mich durch ein mit Wasser gefülltes Glas an.
‹Sie kamen alle um›, sagte er. ‹Nur … mich haben sie nicht mitgenommen. Sie kamen am Morgen in aller Frühe und nahmen meine Familie mit. Sie brachten sie dahin, zu diesem alten Gebäude. Es waren schon viele andere da. Da standen sie …›
Ich wandte mich von ihm ab. Wie konnte er mir das erzählen, dachte ich, nur zehn Jahre später? Und warum mir? Warum erzählte er ausgerechnet mir diese schreckliche Geschichte! Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren, wiederholte die Einzelheiten, bis ich Lust hatte, ihm ins Gesicht zu spucken. Ich drehte mich wieder zu ihm um und legte ihm die Hand auf die Schulter. ‹Warten Sie!›, sagte ich. Aber er hörte mich gar nicht.
‹Sie haben mich nicht mitgenommen, weil ich nicht so aussah wie ein Jude. Wie um Himmels willen sieht ein Jude denn aus!› Schweigend kehrten wir langsam zurück. Wir sahen uns nicht an. Und beim Gehen dachte ich, er beichtet es allen Leuten, weil er seine Identität verborgen hat und nicht mit den Mitgliedern seiner Familie gestorben ist … Er assoziiert mich mit ihm, weil ich schwarz bin …
Bei dieser Vorstellung überkam mich ein Gefühl von Mitleid, vermischt mit Übelkeit; nicht aufgrund dessen, was er erlitten hatte, sondern weil mir bewusst wurde, dass er ein perverses Vergnügen daran fand, die intimen Einzelheiten des Todes seiner Familie zu erzählen, an dem Schmerz, den er sich selbst und anderen zufügte.
Wir kamen zum Stadtzentrum. Er musste nach rechts, ich geradeaus. Wir verabschiedeten uns und gingen unserer Wege. Ich sah den Grafologen nie wieder.
Inzwischen war ich so aufgewühlt, dass dieses Gefühl all meine Handlungen beherrschte. Ich hatte kein Zimmer finden können. Die Zeit verstrich, und ich machte mir Sorgen wegen meiner Stellung in der Welt. Überall lauerten Gefahren. Ich fasste einen Entschluss, den ich langsam in die Tat umsetzte, wenn auch sehr indirekt. Nachdem ich mich von dem Grafologen getrennt hatte, bestand meine erste entscheidende Reaktion darin, Descartes’ Haus aufzusuchen. Es erinnerte mich an sein Schicksal durch die Hand der Kirche, und das war alles andere als eine fröhliche Reminiszenz. Und für den Fall, dass das nicht reichte, um mir die Entscheidung, die ich getroffen hatte, vor Augen zu führen, schaute ich mir auch noch Rembrandts alte Residenz an, um mir erneut ins Gedächtnis zu rufen, wie er fast verhungert war, weil er sich geweigert hatte, so zu malen wie die Bürgerschaft es von ihm verlangte. Nach diesem Besuch spürte ich, wie die unsichtbaren Flammen des Nationalsozialismus, des Judentums, des Katholizismus und des Puritanismus zu meinen Füßen flackerten. Ich erinnerte mich an die Hexenverfolgungen in New England. Ich sah, wie im tiefsten Winter zitternde Grüppchen von holländischen Puritanern – darunter auch Juden, zweifellos – an der windzerzausten Küste von Plymouth standen. Und dann spaltete sich der entscheidende Gedanke von meinen Gefühlen ab. Das war der Ort, aus dem sie geflohen waren! Und deshalb war klar: Das ist kein Ort für mich.»
«Und da bist du nach Bern gekommen?», fragte der junge Mann, der mich zu dieser Erklärung veranlasst hatte.
«Nicht sofort. Zuerst bin ich nach Deutschland gefahren.»
«Nach Deutschland!», riefen alle verblüfft.
Ich nippte an meinem Glas. Der Wein schmeckte sehr sauer. Meine Lippen waren trocken. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Eingang. Es war bereits spät. Ich sollte wirklich gehen … sagte ich mir, während ich darüber nachdachte, warum ich nach Deutschland gegangen war und es dann wieder verlassen hatte. Es kam mir jetzt seltsam vor, dass ich das getan hatte. Ich hatte oft daran gedacht, eine Geschichte darüber zu schreiben. Ich brauchte nur den passenden Ansatz, eine erste Zeile. Meine Gefühle kreisten um diese Spannung, die Deutschland war, und ich begann zu sprechen, ohne mir dessen oder der anderen ringsum bewusst zu sein.