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Die einleitende Frage

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«Was sind das für Geschichten?» Er klingt wie ein Zollbeamter, der ein verdächtiges Gepäckstück kontrolliert. Er hat nie oder nur selten davon gehört oder gar selbst einen Schwarzen getroffen, hegt aber den leisen Verdacht, dass es welche geben muss, die schreiben. «Was für Geschichten schreibst du?»

Ich hole tief Luft.

«Ach … ich – also, das weiß ich eigentlich selbst nicht. Schwer zu sagen.»

Er lächelt spöttisch. Ich hole erneut Luft, überlege, wie ich präziser werden könnte, und verlagere mein Gewicht von der rechten auf die linke Gesäßhälfte.

«Liebesgeschichten?»

«Äh, nein – eher nicht … Aber natürlich kommt gelegentlich auch Liebe vor. Schließlich ist Liebe … Ich meine, die Men­schen haben …»

«Psychologische?»

«Ganz bestimmt! Menschen haben psychologische Aspekte, nicht wahr? Trotzdem, ich kann wirklich nicht sagen …»

«Philosophische?»

«Jede Geschichte hat irgendwas Philosophisches. Klar! Aber …»

«Was schreibst du denn dann?»

«Nun, ich versuche, eine Geschichte zu schreiben, in der jemand ein bestimmtes Problem hat. Und dann einen Zusam­menhang zwischen ihm und – meiner – und einer allgemeinen moralischen Überzeugung herzustellen.»

«Universell.»

«Was?»

«Zeitlos.»

Ich hole tief Luft.

«Das Problem, du meinst …»

«Schreibst du für eine Zeitung?»

«Nein.»

«Zeitschriften?»

«Ich schreibe für niemanden … außer für mich. Das heißt, ich schreibe die Geschichte erst mal auf und versuche sie dann zu verkaufen, egal an wen.»

«Hast du schon was veröffentlicht? Ich würde gern etwas schreiben, das du gelesen hast –»

«Du meinst lesen?»

«Würde ich gern …»

«Du meinst, etwas lesen, das ich … Ich habe aber nichts. Nicht viel. Eine Geschichte. Ich habe eine kleine Geschichte veröffentlicht – nicht mal allzu gut – in der Annabelle …»

«Wo?»

«Annabelle. Letztes Jahr …»

«Krimi?»

«Nein, es war eine Liebesgeschichte.»

«Also doch …»

«Nicht exakt eine Liebesgeschichte. Aber es kam Liebe drin vor.»

«Wie …»

«Sie handelte von einem weißen Mädchen und einem schwarzen Jungen. Sie gingen aufs selbe College.»

«Amerikanische Demokratie!»

Ich atme tief durch.

«Ich habe ein paar Sendungen für das Radio gemacht.»

«Wo?»

«Radio Bern.»

«Wann?»

«Seit ich hier bin. Die letzte lief Weihnachten vor einem Jahr.»

«Davon hab ich nie was gehört.»

«Hörst du denn Radio Bern?»

«Sottens. Es hat ein besseres Programm … Schade. Ich würde gern etwas schreiben, das du gelesen hast …»

Während er mich mustert, fahre ich mir mit dem Handrücken über die Stirn. Sieht gar nicht wie ein Schriftsteller aus, denkt er: Ich fühle es. Und dann, wie sehen Schriftsteller denn aus? Er kneift die Augen zusammen, als würde er mich jeden Moment nach meinem Pass fragen. Ich starre zurück und fühle mich wie eine Hure in einem holländischen Puff.

Dann sehe ich, wie sich sein Gesicht verändert. Die große Ader, die seine Stirn in zwei ungleiche Hälften teilt, schwillt an und pocht so heftig, als würde sie jeden Augenblick durch die Haut platzen. Ich kann buchstäblich sehen, wie er seine Fantasie anstrengt, um die neue Vorstellung, mit der ich ihn konfrontiert habe, mit mir in Einklang zu bringen. Es kommt mir vor, als würde er mich wie ein Puzzlestück aus dem Rahmen seiner bisherigen Auffassung des Universums herauslösen und erst auf diese und dann auf jene Weise in sein Bild von einem Schriftsteller einfügen. Er kämpft mit Goethe, Rilke, Gotthelf, Harriet Beecher Stowe und mir. Plötzlich huscht ein wilder, ja ekstatischer Ausdruck über sein Gesicht. Er zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, als würde ein befreiter Teil seines Bewusstseins einem unterjochten Teil den erschütternden Widerspruch seiner gesamten augenblicklichen Erfahrung vor Augen führen. Dann fällt der Arm schlaff herab und seine Augen werden trüb und leblos, überwältigt von der Anstrengung, die er aufbringen musste, um seinen Standpunkt zu verändern. Doch nur für einen Augenblick, denn jetzt kommt es mir vor, als hätte er das alte Problem beiseitegeschoben, als würde sein Ausdruck nun durch ein neues Problem wiederbelebt. Meine Brust schwillt an vor Schreck. Gleich wird er mir die verhasste Frage stellen, ich weiß es! Die Frage, die mich seit dreieinhalb Jahren zweimal im Monat ein-, zwei-, manchmal auch viermal pro Woche umbringt.

Meine weisse Stadt und ich

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