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Gespräch mit einer alten Hexe

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„Komm herein, Korbinian!“, sagte eine Stimme hinter der Tür, an die das Oberhaupt der Magier geklopft hatte. Korbinian musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf am niedrigen Türsturz anzuschlagen. Dann stand er in Linneas kleiner Hütte.

Linnea war sehr alt. Niemand wusste genau, wie alt sie war, aber ohne Zweifel war sie mit weitem Abstand die älteste Hexe der Gemeinschaft. Korbinian war bereits als Junge zu ihr in die Lehre gegangen. Damals hatte er die Kunst der Heilung bei ihr gelernt. Und auch Korbinian war inzwischen ein alter Zauberer.

Linnea war eine der wenigen, die außerhalb des Haupthauses wohnten. Ihre kleine Hütte lag noch hinter der Pferdekoppel am nördlichen Rand des Dorfes und duckte sich in den tiefen Schatten einer uralten, turmhohen Tanne.

Die Hütte bestand aus nur drei Räumen. Der Kleinste war eine Kammer mit Vorräten und allerlei Fläschchen und Tiegeln mit kaum erkennbarem Inhalt. Nur ein klein wenig größer war ihre Schlafkammer. Außer dem Bett war nur noch Platz für einen winzigen Schrank. Im größten Raum stand auf der linken Seite am Fenster ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Dahinter, nah an der Tür zur Schlafkammer, stand ein großer, gemütlicher Sessel. Die Wand zwischen dem Hauptraum und den beiden Kammern war vollständig bedeckt von einem großen Regal mit Büchern. Nur der Herd, in dem immer ein Feuer brannte, fand noch einen kleinen Platz. Den meisten Raum im Zimmer beanspruchten ein großer Tisch in der Mitte und ein kleinerer langer Tisch an der anderen Fensterseite. Auf ihnen standen in scheinbar vollständigem Durcheinander unzählige Mörser, Schmelztiegel, Glasröhrchen, bauchige Flaschen, Vasen mit frischen und Dosen mit getrockneten Kräutern, Fläschchen und Gläser mit Flüssigkeiten und Pasten in allen möglichen und unmöglichen Farben, kurzum: die Ausstattung einer Heilerin.

Linnea saß in dem großen Sessel und schaute von einem alten Buch auf, in dem sie offenbar gerade gelesen hatte. „Welch seltener Besuch“, lächelte sie Korbinian an. „Tu einer alten Frau einen Gefallen und mach uns einen Tee, mein Junge.“

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Korbinian musste lächeln. Es gab nicht viele, die so alt waren, dass sie ‚Mein Junge‘ zu ihm sagen konnten – Linnea war eine dieser wenigen, und Korbinian fühlte sich dann immer ein bisschen wie damals, als er ihr Lehrling war.

„Glaub nicht, dass ich nicht gesehen hätte, dass Du Dich gerade über eine alte Frau lustig machst!“, schalt sie ihn, allerdings mit einem Lächeln auf den Lippen. „Du kommst mich überhaupt viel zu selten besuchen. Ich dachte schon fast, Du hättest mich vergessen!“

Sie winkte ab, als Korbinian zu einer Entschuldigung ansetzte. „Ich weiß ja. Dein neues Amt als Oberhaupt und die Suche nach dem siebten Lehrling.“ Als Korbinian sie erstaunt ansah, fuhr sie fort: „Guck nicht so. Ich mag zwar alt und tatterig sein, aber das eine oder andere bekomme ich schon noch mit, auch wenn ich nur selten ins Dorf gehe. Meinst Du, Du wärst der Erste meiner ehemaligen Schüler, der sich in den vergangenen Tagen zu mir verirrt hätte?“

Linnea war aufgestanden und zu Korbinian hinübergegangen, der inzwischen am Herd das Wasser für den Tee kochte. „Komm, mein Junge, gieß uns beiden ein und dann wollen wir reden, Ich sehe doch, dass Du nicht nur wegen meiner leckeren Teesorten zu mir gekommen bist.“

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Sie setzten sich an den kleinen Tisch, und Korbinian erzählte von Amina und wie sie scheinbar zu Milan Kontakt aufgenommen hatte.

„Und Du denkst nun, sie hat das Zweite Gesicht.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Das wäre wirklich ein großes Glück! Das Zweite Gesicht ist so selten, dass man manchmal den Eindruck haben könnte, es wäre nur eine Sage. Die letzte Hexe mit dem Zweiten Gesicht hat uns vor mehr als zwei Generationen verlassen, wie Du weißt. Und Du denkst, ich könnte ihr helfen, ihre Gabe zu verstehen und besser zu nutzen.“

Wieder eine Feststellung. Manchmal war Linnea Korbinian unheimlich. Er nickte und nahm noch einen Schluck Tee.

„Auch wenn ich gedacht hatte, ich würde mein langes Leben in Ruhe beschließen können, für diesen Zweck werde ich gern noch einmal die Ärmel aufkrempeln! Aber ich werde eine Menge Zeit brauchen, also schick sie am besten gleich, wenn ihre Lehrzeit um ist“, fuhr sie fort.

Korbinian erhob sich und ging zum Herd hinüber. „Weißt Du, Linnea, ich hatte eigentlich gedacht, wir könnten die Suche nach dem Lehrling mit ihrer Begabung unterstützen ...“

„Unmöglich“, war Linneas knappe Antwort. Aber Korbinian ließ nicht locker. Er argumentierte, bat und flehte, bis er Linneas Herz schließlich erweichte.

„Also gut. Ich will es versuchen. Aber, mein Junge, denk daran: Eine Begabung ist noch lange keine Fähigkeit. Die Chance, dass es funktioniert, ist so gering wie die Aussicht, dass Du jeden Tag zum Tee kommst.“

Lächelnd schob sie ihn zur Tür. „Schick das Mädchen zu mir, wenn sie wieder da ist. Wir werden es versuchen. Mehr kann ich nicht versprechen.“

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Amina war an der Stelle angekommen, an der der Weg vor dem Höhenzug nach Osten abbog. Sie hatte aus der Erfahrung des Vormittags gelernt und den Rappen meist nur noch im Schritt gehen lassen. Das hatte natürlich Zeit gekostet – die Sonne hatte den Zenit schon weit überschritten.

Wie weit war es noch? Sie ritt ein Stück den Weg entlang, hielt an und rief nach Milan. Nichts. So ritt sie Stück um Stück weiter und versuchte ihr Glück. Weit vom Weg konnte Milan nicht sein, er hatte gesagt, er hätte ihn kurz vor seinem Sturz in die Wolfsfalle bereits gesehen.

Milan saß am Boden der Grube, hungrig und durstig, und haderte mit seinem Schicksal, als er plötzlich glaubte, seinen Namen zu hören. Rasch stand er auf und lauschte. Ja, da war etwas, jemand rief seinen Namen, aber noch weit entfernt. Amina hatte es tatsächlich geschafft! Sein Herz machte einen Sprung.

Er wartete noch ein wenig, um Amina näherkommen zu lassen. Das nächste Mal, als er seinen Namen hörte, war es schon viel näher. Milan holte tief Luft und schrie aus vollem Hals: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Und noch einmal: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Dann lauschte er.

Es war bereits der fünfte oder sechste Versuch, als Amina die vertraute Stimme antworten hörte. Sie hatte ihn gefunden! Schnell schätzte sie die Richtung ein, aus der der Ruf gekommen war, und setzte den Rappen in Trab. Ein Stück weiter im Wald wiederholte sie ihren Ruf, und nun kam die Antwort aus nächster Nähe.

Wenige Meter vor sich sah sie die Kante der Wolfsfalle. Geschickt ließ sie sich vom Rücken ihres treuen Begleiters fallen und ging am Rand der Grube in die Knie.

„Milan!“

„Amina! Ich bin so froh, dass Du da bist!“

„Was soll ich tun?“

„Hast Du ein Seil dabei?“

„Ja. Ich binde es an einem Baum fest und werfe Dir das andere Ende herunter, dann kannst du daran hochklettern, in Ordnung?“

„Ja, alles klar.“

Wenige Augenblicke später war Milan seinem Gefängnis entkommen. Unschlüssig und ein wenig verlegen standen er und Amina sich gegenüber, bis Milan die Spannung durchbrach, Amina in seine Arme schloss und „Danke!“ in ihr Ohr flüsterte.

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Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und es wurde langsam Zeit für die Versammlung. Korbinian nahm das Abendessen in seinem Kontor zu sich. Er brauchte Ruhe, um seine Rede nochmals durchzugehen. Der Plan war ausgereift, die Reihenfolge der Zauberer und Hexen, Lehrlinge und Gesellen namentlich festgelegt. Würde es klappen? Wo war der eine Lehrling, den sie noch brauchten?

Nach einigem nutzlosen Grübeln schob Korbinian schließlich die dunklen Gedanken beiseite. Es war ihr einziger Plan. Und er würde funktionieren!

Korbinian stand auf und ging zum Spiegel. Er hatte ein festliches Gewand angelegt, um die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zusätzlich zu unterstreichen. Noch einmal kontrollierte er den Sitz seines Umhanges, dann machte er sich auf den Weg zum See.

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Amina musste einige Zeit auf Milan einreden, bis sie ihn überzeugen konnte, dass er wegen seines verletzten Knöchels auf dem Rappen reiten und sie danebenhergehen würde. Milan gab nach, bevor es ernsthaft zum Streit kam. Allerdings nur unter der Bedingung, dass Amina hinter ihm aufsitzen würde, wenn sie müde war.

Dann brachen sie auf. Es war längst dunkel, und Amina döste langsam beim Gehen ein. Sie hielt sich am Zaumzeug des Pferdes und trottete fast mechanisch neben dem Rappen her. Milan war Aminas Müdigkeit nicht entgangen. „Wann hast Du eigentlich das letzte Mal geschlafen?“, fragte er sie.

„Gestern Abend ein wenig, bevor ich aufgebrochen bin“, antwortete Amina schläfrig.

„Na komm, steig auf und ruh Dich ein bisschen aus. Der Rappe ist kräftig, er kann uns beide wenigstens ein Stück weit tragen.“ Er zog Amina mit einer Hand mühelos vom Boden hoch und hinter sich auf das Pferd. „Lehn Dich an meinen Rücken und halt Dich gut fest, damit Du nicht herunterfällst“, ermahnte er sie.

Amina legte die Arme um Milans Hüften und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. Dann legte sie den Kopf auf seinen breiten Rücken. Für kurze Zeit war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Ihr Magen oder irgendetwas anderes in dieser Gegend schlug einen Purzelbaum nach dem anderen. Sie schmiegte sich eng an Milan und seufzte ganz leise und sehr glücklich. Dann schlief sie ein.

Milan ließ den Rappen weiter im Schritt gehen und bewegte sich so wenig wie möglich. Ihm war der leise Seufzer hinter seinem Rücken nicht entgangen. Er war wie elektrisiert, und das Kribbeln in seinem Magen, das er schon vor ein paar Tagen gespürt hatte, wollte nun nicht mehr weichen. Sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, dass er schon glaubte, es könne Amina aufwecken. Er vergaß sogar zwischendurch, dem Pferd die Richtung nach Filitosa zu geben, aber der Rappe kannte seinen Weg nach Hause zum Glück auch allein.

Der 7. Lehrling

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