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ERSTER TEIL: Weite Wege

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Der alte Mann am Kopfende klopfte mehrmals mit einem kleinen Hammer auf den großen alten Eichenholztisch. Während er noch einmal aus dem Fenster zu seiner Rechten beobachtete, wie der Wind im letzten Licht des Tages schwere Regenwolken über das Land peitschte, wurden lange Reihen von Stühlen mit kunstvoll geschnitzten Rückenlehnen umständlich zurechtgerückt. Dann hatten sich alle Anwesenden gesetzt. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus, während alle Augen auf den alten Mann am Ende des Tisches gerichtet waren.

„Ich begrüße Euch, ehrwürdige Brüder und Schwestern“, begann Korbinian seine Rede. „Ich hoffe, eure Reise war von Frieden und Glück begleitet. In den Dörfern ist die Ernte fast eingebracht; lasst uns sehen, ob auch eure Suche Früchte getragen hat.“

Seine Augen schweiften über die großen Gemälde, die die alten Steinwände zwischen den bleiverglasten bunten Fenstern mit den schweren Vorhängen zierten. Für einen kurzen Moment ruhte sein Blick auf dem großen Banner, das fast wandhoch zwischen zwei Fenstern hing. Auf kunstvoll gestaltetem Hintergrund erstrahlte, aus goldenen Fäden gestickt, die Rune Gebæ. Sie war seit Jahrhunderten das Symbol all derer, die über die Gabe verfügten, das Geschenk, das sie von allen anderen Menschen unterschied. Die starke Verbundenheit dieser kleinen Gemeinschaft war im Convenium, der großen Versammlungshalle, genauso spürbar wie die Wärme, die vom Feuer in dem mannshohen, reich verzierten Kamin in den Raum hineinstrahlte. Korbinian fuhr fort.

„In diesem Jahr war unsere Suche leider noch nicht sehr erfolgreich – vier Lehrlinge sind nicht gerade das, was man als gutes Jahr bezeichnen kann. Wir werden uns anstrengen müssen, damit alle Lehrmeister weiter ihrem ehrenvollen Auftrag nachkommen können, denn immerhin werden in diesem Jahr sieben Gesellen auf Wanderschaft gehen. Und sieben Plätze müssen unbedingt wieder besetzt werden.“ Zustimmendes Murmeln in der Versammlung.

„Ihr alle wisst, dass die Zeiten lange vorbei sind, als die Lehrlinge von allein zu uns kamen. Die Menschen haben uns fast vergessen. Sie reden höchstens noch in Geschichten über uns. Wie sollen da die Kinder, die wir suchen, erkennen, welches Talent in ihnen schlummert? Ja, es ist sehr schwierig geworden. Deshalb sage ich nach wie vor: Es war eine gute Entscheidung, den Gesellen die Suche nach Lehrlingen als ständigen Auftrag für die Jahre ihrer Wanderschaft mitzugeben. Ich weiß, dass nicht alle hier dafür waren. Und ich weiß auch, dass einige nach wie vor Vorbehalte gegen diese Entscheidung haben. Sicher, die Gesellen sind unerfahren. Aber im Gegensatz zu uns Alten kennen sie noch sehr genau das Gefühl, ein besonderes Talent zu haben und nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll. Und … “, er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Bedeutung zu verleihen, „… immerhin wurden zwei unserer vier diesjährigen Anwärter von Gesellen auf der Wanderschaft entdeckt!“

Als die Teilnehmer der Versammlung ihrer Überraschung und auch ihrem Unglauben mit hin- und herfliegenden Worten Luft machten, huschte ein kleines zufriedenes Lächeln über Korbinians Gesicht.

Er hatte lange dafür kämpfen müssen, die Gesellen mit diesem zusätzlichen Auftrag auf den Weg schicken zu dürfen. Fast alle waren am Anfang dagegen gewesen. Das hatte es noch nie gegeben, Grünschnäbel mit derart wichtigen Aufträgen zu versehen! Aber er war hartnäckig geblieben. Es war ihm nicht ganz klar, ob es nun diese Hartnäckigkeit war oder die Tatsache, dass er vor wenigen Jahren zum Oberhaupt der Gemeinschaft gewählt worden war und der Widerstand deshalb nach und nach weniger wurde. Natürlich gefiel er sich selbst am besten darin, es seiner Überzeugungskraft zuzuschreiben. Naja, das war eigentlich auch gleichgültig. Denn selbst wenn die Zustimmung zu seinem Plan nur darauf zurückzuführen gewesen wäre, dass niemand mehr seiner ewigen Lamentiererei ausgesetzt sein wollte: Im Augenblick zählte nur die Tatsache, dass zwei der wandernden Gesellen erfolgreich gewesen waren.

Noch einen kurzen Moment genoss Korbinian in aller Stille seinen kleinen Erfolg, bevor er fast unmerklich mit den Fingern ein paar schnelle Bewegungen in der Luft machte und wie aus dem Nichts eine große Landkarte an der Wand über dem Kamin erschien. Sofort trat Ruhe ein. Die Versammlung wandte sich dem Kamin zu.

Auf der Karte waren vier Ansiedlungen mit roter Farbe umkreist. Korbinian erhob sich und deutete nacheinander auf die Markierungen. „Das sind die Orte, aus denen unsere diesjährigen Lehrlinge stammen. Volzum. Merlehusen. Falkenberg. Und Neuenweg.“ Die Kreise begannen sanft zu leuchten, sobald der dazugehörende Name fiel. „Ich bitte Euch nun, das Ergebnis Eurer Suche auf der Karte einzutragen.“

Ohne dass eine Bewegung zu sehen gewesen wäre, leuchteten zwei weitere Kreise auf der Karte auf: Wasserfall und Rotstock. Wieder ging ein Zischen und Murmeln durch die Versammlung, diesmal allerdings deutlich enttäuscht.

Korbinian wandte sich den Versammelten zu. Alle Zufriedenheit war aus seinem Gesicht verschwunden; es war mit einem Mal fast weiß geworden. „Sonst niemand? Wirklich niemand?“

Er setzte sich auf seinen Stuhl und schaute in die Runde. Alle blickten vor sich auf den Tisch oder suchten Wände und Decke nach klugen Fragen, den dazu passenden Antworten oder nach der rettenden Idee ab. Sie alle hatten in ihren Häusern diese Landkarte, die erst vor wenigen Wochen so wie jeden dritten Vollmond durch einen Boten ergänzt worden war. Sie hatten alle befürchtet, dass es diesmal knapp werden würde. Aber dass es dann tatsächlich nicht klappen sollte, daran hatte keiner geglaubt.

„Eine Katastrophe“, sagte Korbinian nach einer langen Stille. Seine Stimme war fast ein Flüstern. „Sechs sind zu wenig, dass ist euch allen klar. Wenn wir es nicht schaffen, bis zum übernächsten Vollmond den siebten Lehrling hier in Filitosa begrüßen zu dürfen, wird unser Zuhause ohne jeden magischen Schutz sein! Sieben mal sieben Lehrlinge geben einen Teil ihrer Kraft für die Zauber, die jeden Menschen ohne die Gabe an unserem Dorf vorbeiziehen lassen, als wenn es diesen Ort nicht geben würde. Sieben mal sieben, die all jene ihre Gedanken an uns vergessen lassen, mit denen wir Handel treiben. Wenn jetzt die Kette reißt, wird uns jeder finden, sich jeder an uns erinnern können. Und wie sollten wir uns sicher sein, dass die Menschen uns nicht wieder verfolgen, weil sie nicht begreifen, dass wir nur ein wenig anders sind? Die Situation ist ernst. Wirklich ernst!“

Nach einer weiteren nachdenklichen Pause erhob er sich wieder und wandte sich der Tür zu. „Lasst uns morgen früh weiter beraten. Für heute Abend können wir noch einmal die trüben Gedanken ein wenig beiseite stellen. Wir sollten uns stärken und bei einem guten Glas Wein über Eure Erlebnisse sprechen. Wir haben uns alle lange nicht mehr gesehen, da gibt es sicher viel zu erzählen. Und hoffentlich bringt uns ein guter Schlaf auch eine gute Idee. Wir brauchen eine Lösung. Unbedingt!“

Alle standen auf und warteten an ihren Plätzen, bis ihr Oberhaupt den Raum verlassen hatte. Danach löste sich die fast greifbare Spannung etwas, und die Teilnehmer verließen unter leisen, ernsten Gesprächen das Convenium. Das Licht der Kerzen verlosch wie von Geisterhand, als die schwere Tür ins Schloss fiel.

Über dem flackernden Kamin schimmerten die sechs Kreise auf der Karte in der Dunkelheit.

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Meara schritt zügig aus. Im Tal vor sich konnte sie schon das Dorf erkennen, in dem sie vor dem aufziehenden Unwetter um Schutz bitten wollte. Eine Scheune würde schon genügen; im Vergleich zu einer Nacht in freier Natur war ein Heuhaufen schon fast ein Himmelbett! Und wenn sie schon in einem Dorf war, wollte sie auch gleich nach einer Arbeit fragen. Ihr Geldbeutel litt seit einigen Tagen unter bedenklicher Magersucht – dagegen musste etwas unternommen werden! Sie verstand sich gut auf ihr erlerntes Handwerk, auch wenn man ihr die Zimmermannskunst nicht unbedingt an der Breite der Schultern ansehen konnte.

Meara war im vorigen Sommer mit ihrer Lehre fertig geworden und befand sich nun schon seit einem Jahr auf Wanderschaft. Sie trug mit Stolz die Kleidung der wandernden Gesellen, das Hemd aus weißem Leinen sowie Hose, Weste und Jacke aus festem schwarzem Kordstoff. Ihre langen flachsblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter dem großen schwarzen Hut keck hervorschaute. In ihrem rechten Ohr blitzte ein schmaler goldener Ohrring. Den Knotenstock hatte sie über die Schulter gelegt, an seinem Ende war der Beutel mit ihrer Habe fest angebunden.

Meara war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Die Burschen in den Dörfern und Städten hatten ihr schon oft hinterhergepfiffen, der eine oder andere hatte sie sogar auf einen Wein in die Schänke eingeladen. Aber Meara hatte immer dankend abgelehnt. Sie wusste, dass eine Freundschaft mit einem der Burschen nie von Dauer gewesen wäre, denn die Lehre als Zimmermann war nicht die Einzige, die sie im vergangenen Sommer erfolgreich beendet hatte – sie musste damals auch ihre Hexenprüfung ablegen und hatte diese mit Bravour bestanden!

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Ein deutlicher Rülpser war zu vernehmen, als Quentin sich an den breiten Birkenstamm zurücklehnte. „Hups! Entschuldigung!“, sagte er, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Genau! Jetzt entschuldige ich mich schon bei den Bäumen für mein schlechtes Benehmen!“, prustete er, bevor ihn ein neuer Lachanfall durchschüttelte und er, sich den Bauch festhaltend, zur Seite sackte.

Nach und nach kam Quentin wieder zu Atem. Ein letztes Kichern entwich ihm, dann konnte er sich wieder aufsetzen. Er machte es sich erneut am Stamm gemütlich und schaute auf den weiten See hinaus. Der See war so groß, dass er das gegenüberliegende Ufer ahnen, aber nicht wirklich sehen konnte. Vor ihm entstand in diesem Moment ein überwältigender Anblick. Die Sonne ging unter. Sie verwandelte den Himmel mit seinen Wolkentürmen in eine schaurig-schöne Märchenlandschaft aus tausend verschiedenen Abstufungen von Rot, die sich auf der Oberfläche des Sees spiegelte. Quentin saß still und staunend am Ufer, bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war.

Dann war es dunkel. Die Flammen umspielten das Feuerholz und warfen tanzende Schatten in den Wald hinter ihm.

Angst hatte Quentin nicht. Er war in einem kleinen Dorf an einem Waldrand aufgewachsen und oft im Dunkeln durch den Wald gelaufen. Aber das alles lag jetzt viele Tagesmärsche im Süden ... Seine Gedanken flogen zurück zu seinem Elternhaus.

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Quentin war ein Junge mit ständig zerrissenen Hosen, aufgescheuerten Knien, dreckigen Fingernägeln, und das Ganze natürlich nicht unbedingt zur Freude seiner Mutter. Aber es gab ja auch so viel zu entdecken! Überall konnten Schätze versteckt sein, einmal hatten sie sogar eine alte Münze gefunden! Quentin zog ständig mit Simon, seinem bestem Freund, durch das Dorf und den angrenzenden Wald. Wenn sie nicht gerade auf Schatzsuche waren, angelten sie am Bach, schwammen im See und taten auch sonst alles, was Jungs Spaß macht.

Mit den anderen Kindern im Dorf hatten Quentin und Simon nicht viel Kontakt. Die fanden ihn „komisch“, nannten ihn „Spinner“. Dabei fand er sich eigentlich ganz normal. Bis auf die Sache mit den Geschichten. Das konnten die anderen irgendwie nicht. Nicht Geschichten erzählen, sondern das, was passierte, wenn Quentin Dinge berührte. Dann erzählten ihm die Dinge ihre eigene Geschichte.

Wenn er einen Stein auf dem Weg berührte, wusste Quentin plötzlich, aus welchem Steinbruch er kam. Wie er aus dem Felsen gehauen wurde und wie er dann auf dem Weg gelandet war.

Wenn er einen Nagel berührte, erzählte ihm dieser seine Geschichte. Wie er geschmiedet worden war. Dass er vielleicht einmal ein Hufeisen an einem Reitpferd festgehalten hatte.

Zuerst hatte Quentin gedacht, ihm würde das alles einfach nur einfallen. Zuerst hatten die anderen Kinder auch immer gelacht. Die Erwachsenen hatten gesagt, er habe „eine blühende Fantasie“. Aber Quentin merkte immer deutlicher, dass er nicht fantasierte, sondern tatsächlich etwas besaß, was die anderen nicht hatten.

Und als er immer wieder Dinge erzählte, die tatsächlich wahr waren, die er aber nie und nimmer wissen konnte, zogen sich die Kinder – meist auf Geheiß ihrer Eltern – mehr und mehr von ihm zurück.

Da war zum Beispiel die Sache mit dem Bilderrahmen im Haus des Schusters. Der umrahmte ein Bild von einem bunten Blumenstrauß. Als Quentin ihn berührte, wusste er sofort, dass früher einmal das Bild von der Mutter des Schusters darin gehangen hatte. Der Schuster staunte nicht schlecht, als Quentin ihn neugierig fragte, was er denn mit dem Bild seiner Mutter gemacht habe.

Es dauerte nicht sehr lange, da wurden seine Eltern von den Nachbarn gemieden. Das war besonders deshalb schlecht, weil sein Vater eine Mühle hatte und für die Bauern das Korn mahlte. Das Geschäft ging immer schlechter. Im Dorf wurden schon Worte wie „die Hexenmühle“ hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Schon zweimal hatte irgendjemand versucht, die Mühle anzustecken. Zum Glück hatte die Familie das Feuer jedes Mal rechtzeitig bemerkt, sonst wäre alles niedergebrannt.

Simon war das mit den Geschichten egal. Er hatte viel Spaß mit Quentin. Vielleicht hätten die anderen Kinder das ja auch gern gehabt, aber sie hatten nun mal Eltern, die sagten: „Spiel nicht mit Quentin, der ist komisch, der passt nicht hierher!“

Bei Simon war das anders. Er wohnte beim Gastwirt in der Dorfschänke. An seine Eltern konnte er sich kaum noch erinnern. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater war eines Tages vom Bäumefällen im Wald nicht mehr zurückgekommen. Da hatten ihn die Wirtsleute bei sich aufgenommen. Er musste natürlich in der Wirtschaft helfen, aber das war für ihn eher ein Spaß als eine Arbeit. Jedenfalls sagten der Wirt und seine Frau nichts zu Quentins Geschichten.

Simon zog Quentin sogar manchmal damit auf. Wenn die beiden auf ihren Entdeckungsreisen an einem Wegstein vorbeikamen, sagte Simon zum Beispiel: „Quentin, fass doch mal den Stein da an! Ich würd’ gern wissen, wann der Marketender mit den süßen Sachen wieder ins Dorf kommt!“

Dann kam der schlimmste Tag in Quentins Leben. Sein Vater nahm ihn beiseite und sagte mit sorgenvollem Blick: „Mein Junge, Deine Geschichten machen uns das Leben immer schwerer. Wir haben bald keine Arbeit und auch kein Essen mehr, weil die Leute nicht mehr zu uns kommen. Wir müssen aber doch essen und trinken! Es ist einfach so: Du machst den Leuten Angst mit diesen Geschichten. Der Himmel allein weiß, wie Dir immer solche Sachen einfallen! Du kannst wohl nichts dafür, aber Du bist irgendwie anders als die anderen. Und die Leute mögen es nicht, wenn jemand anders ist. Quentin, Du bist jetzt alt genug, um bei einem Handwerksmeister in die Lehre zu gehen. Es zerreißt mir das Herz, Dich fortzuschicken, aber es ist für uns alle besser, wenn Du gehst und anderswo Dein Glück suchst!“

Er gab ihm einen Rucksack voll mit nützlichen Sachen, seine Mutter packte ihm ein wenig zu essen ein. Jedes seiner sechs Geschwister gab ihm noch ein kleines Andenken mit.

Dann kam die Stunde des Abschieds. Sie waren alle sehr traurig, aber sie schickten ihn von zuhause weg. Quentin verstand nicht, warum das so war. Aber er war dreizehn Jahre alt, und er war ein folgsames Kind. Und deshalb tat er, was seine Eltern von ihm verlangten, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.

Als er ging, verschwamm der Weg nach Norden in seinen Tränen. Er hatte noch nicht einmal Simon Lebewohl sagen können.

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Quentin öffnete verschlafen die Augen und blinzelte in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Über seine Gedanken an zuhause musste er eingeschlafen sein. Es war kühl, aber die Nacht war trocken geblieben. Das Feuer war heruntergebrannt, aber als Quentin ein bisschen in der Asche stocherte, fand er noch ein wenig Glut. Er legte dünne Zweige an und blies ganz vorsichtig in die Asche, bis eine kleine Flamme aufflackerte. Schnell brannte ein Feuer, an dem Quentin sich wärmen konnte. Der Rest des leckeren Karpfens, den er am Vorabend nicht mehr geschafft hatte, vertrieb die letzten traurigen Gedanken.

Nach einer Weile machte er sich auf den Weg. Wieder Richtung Norden, ohne ein echtes Ziel. Das würde sich schon von allein ergeben, da war Quentin sich sicher.

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Korbinian begann seinen Tag mit einem frühen Spaziergang durch das um diese Zeit noch sehr ruhige Dorf Filitosa. Filitosa war eine weitläufige Anlage, die vor unzähligen Generationen mitten im Wald, weitab von der nächsten Ansiedlung, angelegt worden war. Es gab Bauernhöfe, ein Sägewerk, eine Tischlerei, eine Schmiede, eine Käserei, einen Metzger, einen Bäcker, eine Töpferei, eine Glasbläserei, eine Imkerei, eine Mühle, eine Weberei, ein kleines Weingut, eine Schneiderei, und all das umrahmte der dichte Wald in Form eines großen Pentagramms. Im Zentrum lag ein großes wehrhaftes Gebäude. Es bildete die Hauptunterkunft der Zauberer und Hexen.

Das Dorf war unabhängig von jeglicher Versorgung, und zwar mit Absicht. Als die Menschen begannen, sich mehr und mehr von den Magiern abzuwenden, sie aus ihren Dörfern zu verjagen oder schließlich sogar zu verfolgen, beschloss die große Versammlung, einen sicheren Rückzugsort zu gründen. Und so schufen sie das Dorf Filitosa. Alle Wege dorthin waren mit mächtigen Zaubern geschützt, und niemand, der nicht über die Gabe verfügte, hätte das Dorf jemals gefunden.

Die Betriebe in Filitosa wurden allesamt von fast ausgelernten Lehrlingen geführt, ältere Magier kümmerten sich als Lehrmeister nur um die handwerkliche Ausbildung. Alle Lehrlinge erlernten so neben der Magie auch einen richtigen Beruf, der ihnen das Leben in der Welt der Menschen erleichterte. Etliche Hexen und Zauberer lebten auf diese Weise in den Dörfern und Städten außerhalb von Filitosa, ohne jemals aufzufallen.

Der Name Filitosa kam übrigens nicht von ungefähr: Viele Orte mit magischer Bedeutung auf der ganzen Welt trugen diesen Namen. Als die Zauberer und Hexen damals dem Dorf seinen Namen gaben, hofften sie, dass damit Magie in seine Mauern einziehen würde. Nun, ob es tatsächlich am Namen Filitosa lag, konnte nach der langen Zeit niemand mehr herausfinden. Tatsache blieb, dass aus Filitosa im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ein äußerst magischer Ort geworden war.

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Korbinian begrüßte auf seinem Weg durch Filitosa alle, die um diese frühe Zeit schon unterwegs waren. Er kannte hier jeden mit Namen, obwohl das Dorf insgesamt auf etwa einhundertundsechzig Hexen, Zauberer und Lehrlinge kam. Korbinian nahm sich für alle Zeit, die sich mit kleinen oder größeren Anliegen an ihn wandten. Das verstand er nicht nur als seine Pflicht, er tat es gern. Außerdem spielte Zeit in Filitosa keine wirklich große Rolle. Über die Hast der Menschen konnte Korbinian meist nur lächeln. Nur im Moment nicht. Das Problem mit der unbesetzten Lehrlingsstelle war tatsächlich sehr ernst. Er hatte noch keine Idee, wie sie es schaffen sollten, in der Zeit bis zum übernächsten Vollmond einen geeigneten Kandidaten zu entdecken. Hoffentlich würde die Versammlung eine Lösung finden. Korbinian war zum ersten Mal in seinem langen Leben wirklich ratlos.

Als er an der Bäckerei vorbeikam, konnte er dem Duft nicht widerstehen, der aus der offenen Tür wehte, er zog ihn magisch an. Mit einem Lächeln darüber, dass er gerade in Gedanken auch Brot und Brötchen in die Familie der Magier aufgenommen hatte, betrat er die Bäckerei.

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Adina, die die Bäckerei leitete, empfing ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Ihre Zwillingsschwester Amina, die eigentlich die Metzgerei führte, war ebenfalls anwesend und stimmte fast gleichzeitig in den Morgengruß ein. Beide Schwestern waren in ihrem letzten Lehrjahr und sollten demnächst ihre Prüfungen ablegen.

Nachdem Korbinian den beiden ebenfalls einen guten Morgen gewünscht hatte, schaute er sich in dem kleinen Laden um. Wie immer war alles blitzblank geputzt und aufgeräumt, die verschiedensten Gebäcke lagen in friedlicher Eintracht nebeneinander in den Regalen und warteten auf Kundschaft. Brot und Brötchen waren schon lange fertig, die Bäckerlehrlinge hatten bereits angefangen, süße Teilchen und Kuchen für den Nachmittag vorzubereiten.

Korbinian malte sich schon in Gedanken aus, wie er in ein knuspriges Brötchen biss, da wurde er von Adina angesprochen. „Kann ich Dir etwas Bestimmtes geben, Korbinian? Alles ist ganz frisch! Hier, von den Maisbrötchen solltest Du unbedingt probieren, die backen wir erst seit einer Woche!“ Sie sah, dass Korbinian sich zwischen den vielen verschiedenen Sachen nicht entscheiden konnte und wartete ein wenig. Korbinian schüttelte langsam den Kopf und sah sie an. „Liebe Adina, das sieht alles so gut aus … ich weiß gar nicht, was ich zuerst probieren soll!“

Amina hatte einen Einfall: „Wie wär’s, wenn ich schnell ein wenig Wurst aus der Metzgerei hole? Honig müsste ich auch noch da haben. Dann können wir zusammen frühstücken, und Du kannst in aller Ruhe von allen Brötchen probieren, bis Du weißt, welches am besten schmeckt!“

Korbinian musste nicht lange überlegen. Bis zum Versammlungsbeginn waren es noch einige Stunden, und im großen Speisesaal würde sein Fehlen beim Frühstück niemanden stören. Also willigte er zur Freude der Zwillinge ein.

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Quentin wanderte durch einen Wald. Die Vögel sangen ihre schönsten Lieder, als wenn sie ihn freudig in ihrem Zuhause begrüßen wollten. An einem Bach machte er die erste Pause an diesem Morgen und trank von dem klaren Wasser. Er hatte sich für seine Rast eine kleine Lichtung ausgesucht. Dickes Moos wuchs auf dem Boden und bildete einen weichen Teppich. Zum Bach hin wuchsen Wiesenschaumkraut und andere kleine Blumen, die Quentin aber nicht kannte. Schmetterlinge flatterten geschickt von einer Blüte zur anderen und sammelten Nektar. Quentin setzte sich auf das Moos und blickte in die Runde. Ein Stück weiter unterhalb sah er ein Reh, das ebenfalls seinen Durst am Bach löschte. Sie sahen sich beide an, und Quentin befürchtete schon, dass das Reh gleich fliehen würde. Aber das Tier schien zu spüren, dass von dem Jungen keine Gefahr ausging. Es trank ruhig weiter und ging dann zu einem Grasflecken in der Nähe, um zu äsen. Quentin sah dem Reh noch eine Weile zu, dann machte er sich wieder auf den Weg.

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Als er den Wald verlassen hatte, sah er in der Ferne vor sich, dass sein Pfad auf einen anderen Weg stieß. Er musste sich einer Ansiedelung nähern, Kreuzungen waren dafür immer ein erstes Zeichen. Quentin ging vor lauter Vorfreude etwas schneller.

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Meara hatte die Nacht in einem Heuschober verbracht. Freundliche Bauersleute hatte ihr diese Unterkunft gegeben. Der Bauer war vor seiner Heirat selbst als Zimmermann durch die Lande gezogen, und er hatte Meara beim Abendessen viel von seinen Erlebnissen erzählt. Ihm waren unzählige Geschichten eingefallen, und daher war es auch sehr spät gewesen, als alle endlich schlafen gingen.

Die Bauersfrau hatte Meara noch zum Frühstück eingeladen. Bei dieser Gelegenheit fragte Meara, ob sie nicht eine Baustelle wüssten, auf der sie arbeiten könne. „In unserem Dorf leider nicht“, antwortete die Bauersfrau. „Aber in Balsberg wird ein großes Kornhaus gebaut, die suchen bestimmt immer mal wieder tatkräftige Hände.“

Mit vielen Dankesworten verabschiedete sich Meara von den freundlichen Bauersleuten. Sie war ausgeschlafen, satt und ging voller Zuversicht nach Süden, die Richtung, die ihr der Bauer gewiesen hatte.

Es gab doch viele gute Menschen! Naja, allerdings hatten die Bauersleute sie ja auch für einen normalen Menschen gehalten und nicht für eine Hexe. Wer wusste schon, ob sie auch dann noch so freundlich und hilfsbereit gewesen wären …

Meara fand das alles seltsam. Die alten Hexen und Zauberer in Filitosa hatten ihr von einer Zeit erzählt, in der Menschen und Magier völlig selbstverständlich miteinander lebten. Da gab es noch keine Notwendigkeit, einen Handwerksberuf als „Tarnung“ zu benutzen. Allerdings machte ihr das Zimmermannshandwerk viel Spaß. Nur Hexe zu sein fand sie fast langweilig. Gut, eine echte Dorfhexe hatte früher sicher eine Menge zu tun. Da hätte man wohl keinen anderen Beruf mehr nebenbei geschafft. Wenn sie es sich recht überlegte: Ausprobieren würde sie es schon gern einmal, als Dorfhexe ihren Unterhalt zu bestreiten.

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Für junge Magiergesellen auf der Wanderung gab es klare Regeln. „Zaubere niemals, wenn ein erwachsener Mensch dabei ist“, lautete eine davon. Erwachsene waren sehr misstrauisch. Angeblich fürchteten sie sich sogar vor Magiern. Und wenn man den älteren Hexen und Zauberern glauben durfte, waren schon etliche unter Stockschlägen und Steinwürfen aus Ortschaften vertrieben worden – dabei hatten sie nur helfen wollen.

Bei Kindern musste man da nicht so vorsichtig sein. Wenn Kinder erzählten, dass jemand gezaubert hätte, ging den Erwachsenen normalerweise nur ein Lächeln über das Gesicht. Wahrscheinlich erinnerten sie sich dabei an ihre eigene Kindheit und die Geschichten, die sie selbst damals erfunden hatten.

Eine andere Regel lautete: „Finde neue Lehrlinge.“ Das war leichter gesagt als getan! Schließlich lief niemand mit einem großen Schild durch die Gegend, auf dem stand: „Ich kann so merkwürdige Sachen, und die anderen Kinder wollen nicht mehr mit mir spielen. Helft mir!“

Die meisten Magier waren unter den Menschen aufgewachsen und kannten sich nur zu gut damit aus, anders als die anderen Kinder zu sein. Geärgert und verspottet zu werden. Und oft auch: von zuhause weggeschickt zu werden. Wenn nicht rechtzeitig eine fremde Frau oder ein Mann des Weges kam und unter einem geschickt vorgetragenen Vorwand das Kind mit sich nahm.

Auch Meara war auf diese Weise gerade noch vor der Vertreibung gerettet worden. Die anderen Kinder und auch die Erwachsenen hatten bereits begonnen, sie komisch anzusehen. Fast keines der Kinder durfte noch mit ihr spielen. Ihre Eltern machten sich die größten Sorgen. Da kam eines Tages ein wandernder Händler durch das Dorf. Er stützte sich schwer auf seinen Wanderstab. Ein alter Esel zog den kleinen klapprigen Karren, auf dem sich seine Waren befanden.

Meara fühlte auf unerklärliche Weise sofort, dass sie dem Mann vertrauen konnte. Sie setzte sich zu ihm, als er am Brunnen eine Pause machte. Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihm ihre Probleme mit den anderen Kindern anvertraut.

Irgendwann hatte der alte Mann sie dann um den bunten Anhänger gebeten, den sie an einem Lederband um den Hals trug. Meara wusste noch ganz genau, wie sprachlos sie gewesen war, als der Mann den Anhänger in die Hand nahm, kurz die Augen schloss und ihr dann erzählte, woher der Anhänger kam, dass es ein Geschenk ihrer Mutter zu ihrem fünften Geburtstag war und dass sie von ihrem Vater ein dazu passendes Lederband geschenkt bekommen hatte. Dass sie den Anhänger eigentlich nie ablegte, auch nicht, wenn sie zu Bett ging. Das hatte Meara noch nie erlebt! Es gab außer ihr noch jemanden, dem Gegenstände Geschichten erzählten!

Dann ging alles sehr schnell. Der alte Mann hatte mit ihren Eltern gesprochen, ihnen gesagt, dass ihm die Arbeit immer schwerer falle und er immer dringender jemanden zur Unterstützung brauchte. Schließlich hatte er das Kind als seine Gehilfin mit auf die Reise genommen. Meara der Abschied unendlich schwer gefallen, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, dass eine spannende Zeit vor ihr lag.

So war es dann auch gekommen. Der alte Mann ging mit ihr geradewegs nach Filitosa und übergab sie ihrem späteren Lehrmeister Samuel.

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Meara riss sich aus ihren Träumen. Irgendwann würde sie bestimmt selbst einen Kandidaten finden, da war sie sich sicher. Ihr „ziviler“ Beruf sorgte dafür, dass sie immer ein paar Tage oder Wochen an einem Ort blieb, bevor sie weiterzog. Und da große Baustellen immer auch Kinder anziehen, konnte sie diese zwischendurch gut beobachten.

Bislang war sie nicht erfolgreich gewesen. Sie wusste, wie wichtig es Korbinian war, dass die Gesellen auf ihrer Wanderschaft neue Lehrlinge fanden. Die Versammlung der alten Hexen und Zauberer hielt allerdings nichts davon. Die Gesellen seien alle Grünschnäbel, viel zu unerfahren, hätten nicht den richtigen Blick, den würde man nämlich nur mit viel Erfahrung bekommen, und so weiter und so fort.

Das war aber für die wandernden jungen Hexen und Zauberer nur noch mehr Ansporn, neue Lehrlinge zu finden! Sie würde schon die Augen aufhalten. Und wer weiß, vielleicht stand sogar in der nächsten Stadt schon jemand in der Menge …

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Korbinian ließ es sich richtig schmecken. Erst nachdem er fünf verschiedene Brötchensorten durchprobiert hatte – immer nur die Deckelhälfte, weil da die leckeren Körner drauf waren –, legte er das Messer zur Seite. Er lehnte sich mit seiner Tasse Kaffee in der Hand zurück und sah die Zwillinge an: „Es war sehr, sehr gut! Ganz ausgezeichnet! Aber genug geschlemmt! Erzählt, was gibt es bei euch denn Neues?“

Amina und Adina erzählten ein wenig von ihren Geschäften, von der Handwerkslehre und auch von ihrer Hexenlehre. Bei einer weiteren Tasse Kaffee kamen sie dann auf aktuelle Ereignisse.

„Ist es eigentlich richtig, dass noch nicht alle Lehrlingsplätze besetzt sind?“, fragte Adina. Offenbar hatte sich die schlechte Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Korbinian nickte, sagte aber nichts weiter. „Oh je, es bleiben aber nur noch knappe zwei Monate! Wie sieht denn Euer Plan aus?“ Amina knuffte ihre Schwester in die Seite: „Sei nicht so vorlaut, Adina! Es steht Dir nicht zu, solche Fragen zu stellen!“

„Nein, nein, ist schon gut“, beruhigte Korbinian die beiden. „Wir sind in der Versammlung noch zu keinem Ergebnis gekommen. Die Beratung wird nachher fortgesetzt. Aber …“ Korbinian rieb sich nachdenklich über die Augen, „ich glaube nicht, dass wir zu einer schnellen Lösung finden werden. Alle Hexen und Zauberer, die in der Versammlung sind, haben das ganze Jahr über gesucht. In allen Teilen des Landes. Es ist ja nicht so, dass sie alle nur vor dem Kamin gesessen hätten! Sie haben gesucht, wirklich gesucht! Aber die Anzahl derer, die zu uns und nicht zu den Menschen gehören, wird entweder geringer, oder wir erkennen sie nicht mehr so gut wie früher. Ich weiß es wirklich nicht.“ Korbinian seufzte und trank einen Schluck Kaffee.

„Aber wenn nicht sieben neue Lehrlinge gefunden werden, dann wäre das ja ganz furchtbar!“, rief Amina. „Alle Schutzzauber ...“

Korbinian nickte. „... würden zusammenbrechen, wenn die sieben mal sieben Lehrlinge nicht mehr vollzählig sind. Ja, die Lage ist ernst.“ Sie versanken in nachdenkliches Schweigen.

So saßen sie eine Weile da und starrten in ihre Kaffeetassen. Plötzlich hob Adina den Kopf: „Aber wenn …“ Korbinians Blick war zuerst ein wenig belustigt, aber dann immer aufmerksamer, während Adina die Idee vorstellte, die ihr gerade durch den Kopf geschossen war.

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Quentin kam über einen Hügel und konnte deshalb weit in jede Richtung schauen. In der Ferne sah er die ersten Häuser einer größeren Ansiedelung. Es war jetzt bald Mittag. Quentin war klar, dass er es am heutigen Tag nicht mehr bis dorthin schaffen würde. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte noch fünf Streichhölzer und außerdem unterwegs eine Menge Pflaumen gesammelt. Und die Champignons, die er auf einer Wiese gefunden hatte, würden ein leckeres Abendessen geben.

Mittlerweile wanderte Quentin auf einem breiteren Fahrweg. Von Zeit zu Zeit begegnete er anderen Wanderern, allesamt mit Waren beladen und auf dem Weg zur Stadt. Da Quentin nichts Schweres zu tragen hatte, überholte er die meisten ziemlich schnell. Die Gespräche waren nur kurz und nicht besonders aufschlussreich. Wenigstens hatte er den Namen der Stadt am Horizont herausgefunden: Balsberg.

Quentin setzte sich am Wegesrand unter einen Baum und blickte auf die Stadt. Während er genüsslich ein paar Pflaumen aß, dachte er nach. In Balsberg würde er bestimmt eine Arbeit finden. Vielleicht kam er sogar in einer Schänke unter, so wie Simon. Dann wäre auch die Essensfrage gelöst. Quentin war schon richtig gespannt! Eine so große Siedlung hatte er noch nie gesehen!

Nach einer kleinen Weile und mindestens einem Dutzend Pflaumen machte er sich wieder auf den Weg. Auf halber Strecke zur Stadt hatte er eine Baumreihe gesehen, da war sicher ein Bach. Dort würde Quentin sein Nachtlager aufschlagen.

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Den Rückweg zum Haupthaus der Magier musste Korbinian eilig zurücklegen, wenn er noch pünktlich sein wollte. Unterwegs arbeitete sein Gehirn fieberhaft. Er dachte über Adinas Idee nach. Drehte sie hin und her, besah sie von allen Seiten. Prüfte sie auf Fehler, aber er konnte keinen Mangel entdecken. Natürlich würde es unglaublich anstrengend werden. Die wandernden Gesellen mussten außerdem gegen die Tradition verstoßen, derzufolge sie vor Ablauf von drei Jahren und einem Tag nicht nach Filitosa zurückkehren durften. Aber in Anbetracht ihrer Notlage sollte das alles doch trotzdem machbar sein. Außergewöhnliche Situationen erfordern eben manchmal außergewöhnliche Maßnahmen.

Er überlegte, wie die Versammlung wohl reagieren würde – Begeisterung würde sicher nicht ausbrechen. Er legte sich einen Plan zurecht. Ja, so könnte es gehen, dachte er schließlich bei sich, als er die letzte Treppe zum Convenium hinaufeilte.

Alle Hexen und Zauberer waren bereits anwesend. Korbinian ließ sich nichts anmerken. Er betrat den Saal so frisch, als wenn er nicht eben noch durch das halbe Dorf geeilt wäre, sondern gerade von einem erbaulichen Spaziergang im Garten zurückkäme.

Zuerst begrüßte er alle Magier persönlich, dann nahm er auf seinem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. Alle anderen setzten sich ebenfalls.

„Nun, ehrwürdige Brüder und Schwestern, ich sehe euch ausgeruht und gestärkt vor mir, gewappnet für die Suche nach der Lösung. Lasst uns beginnen.“

In den folgenden Stunden wurden viele Ideen besprochen, abgewägt, verworfen, verändert, nochmals diskutiert, wieder verworfen. Zwischendurch trugen Lehrlinge einen Mittagsimbiss auf, der aber unbeachtet auf den Seitentischen stehen blieb, so sehr waren die Magier in die Diskussion vertieft. Gegen zwei Uhr nachmittags verordnete Korbinian eine einstündige Pause. Dafür waren die Hexen und Zauberer sehr dankbar: Allen rauchte der Kopf vor lauter Nachdenken und Diskutieren.

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Korbinian eröffnete die Sitzung erneut. Sie waren noch kein Stück weitergekommen. Alle bisherigen Vorschläge waren an irgendetwas gescheitert. Es war langsam an der Zeit, Adinas Idee zu präsentieren. Aber zuerst sollten sie noch ein wenig ihre Köpfe anstrengen! Der Vorschlag, den Korbinian ihnen unterbreiten wollte, hatte erst dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Zauberer und Hexen völlig ratlos waren.

Was nun kam, war zermürbend. Zauberer um Zauberer, Hexe um Hexe gingen die Ideen aus. Alle Vorschläge hatten irgendeinen Haken. Korbinian achtete sorgsam darauf, dass er nicht zu oft derjenige war, der diesen Haken fand. Er brachte das eine oder andere Argument für und gegen die Entwürfe und ging dabei so geschickt vor, dass an irgendeinem Punkt der Diskussion eine Hexe oder ein Zauberer wie von ganz allein auf die Schwachstelle kam, sich erhob und sagte: „Aber …“. Damit war dann auch diese Idee erledigt.

Nicht, dass Korbinian dies auch bei guten Vorschlägen gemacht hätte. Wäre wirklich etwas dabei gewesen, was auch nur einigermaßen Erfolg versprechend gewesen wäre, dann hätte er sich dieser Lösung angeschlossen. Aber es kam nichts.

Als wiederum zwei quälende Stunden ohne Ergebnis vorüber waren und der Nachmittag sich langsam dem Ende neigte, erhob sich Korbinian von seinem Stuhl.

„Ehrwürdige Brüder und Schwestern. Es ist zu Recht diesem erfahrenen Gremium vorbehalten, die richtigen Wege zu finden und zu bestimmen. Bislang haben wir das auch immer geschafft.“ Zustimmendes, erschöpftes Nicken in der Versammlung.

„Aber wie ich feststellen muss, sind keine weiteren Vorschläge mehr da, und auch ich bin mit meinen eigenen Ideen längst am Ende angelangt. Wir haben heute zum ersten Mal versagt.“ Die Betroffenheit und das stille Eingeständnis, keine einzige Idee mehr zu haben, waren aus jedem Gesicht deutlich herauszulesen.

„Aber vielleicht gibt es doch noch eine kleine Hoffnung.“ Müde, zweifelnde Augenpaare wandten sich ihm entgegen, hier und da blitzte ein kleiner Schimmer Zuversicht auf.

„Als ich heute Morgen durch das Dorf spazierte, traf ich eine erstaunliche junge Hexenschülerin mit einer noch erstaunlicheren Idee.“ Sofort schlug die Stimmung um. Korbinian wollte ihnen offensichtlich schon wieder irgendwelche grünschnäbeligen Pläne auftischen. Das hatte jetzt gerade noch gefehlt! Nicht genug damit, dass er erst vor Kurzem den Wandergesellen einen schier unglaublichen Auftrag verschafft hatte, jetzt kam er sogar mit der Idee einer Schülerin um die Ecke! Korbinian musste den Verstand verloren haben! Mehrere Magier sprangen auf und machten ihrem Unmut mit deutlichen Worten Luft. Die Versammlung drohte aus den Fugen zu geraten.

Da schlug Korbinian so fest mit der Faust auf den Tisch, dass es laut durch den ganzen Saal krachte. Er donnerte die Versammelten an: „So! Ihr haltet das für Unfug, was? Ihr, die ihr seit Stunden hier sitzt und keine einzige brauchbare Idee präsentieren könnt! Ihr, die ihr in diesem Jahr nur vier von sechs Lehrlingen gefunden habt, obwohl ihr alle wusstet, dass wir sieben brauchen? Ihr, die ihr mit Euren Einfällen genauso wie ich völlig am Ende seid? Ihr besitzt tatsächlich die Überheblichkeit, Euch diesen Vorschlag noch nicht einmal anhören zu wollen? Wenn aus unseren Überlegungen auch nur eine einzige brauchbare Lösung hervorgegangen wäre, glaubt mir, ich hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, euch diesen Vorschlag zu unterbreiten. Aber so wie ich die Situation sehe, können wir weder wählerisch sein, noch uns einbilden, immer die einzig guten Lösungen für alles zu haben. Also setzt euch gefälligst wieder hin und hört euch erst einmal an, was ich zu sagen habe!“

Korbinians Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Diejenigen, die gerade noch laut schimpfend herumgestanden hatten, setzten sich wieder und schwiegen. Eingebildet zu sein, wollte sich keine Hexe und kein Zauberer unterstellen lassen. Und irgendwie hatte Korbinian ja auch recht: Es konnte nicht schaden, sich die Idee anzuhören. Vermutlich war der Vorschlag sowieso nicht besser als das, was sie bisher diskutiert hatten. Er würde genauso scheitern wie alle anderen bisherigen Versuche. Vielleicht sah Korbinian dann endlich ein, dass es Zeitverschwendung war, sich die unausgegorenen Fantasien von jungen Lehrlingen anzuhören.

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Quentin schlief tief und fest. Er hatte einen schönen Lagerplatz an einem Bach gefunden. Eine uralte Trauerweide streckte ihre mächtige Krone zur einen Hälfte über das Wasser und zur anderen Hälfte über das Ufer. Mit ihren lang herabhängenden Ästen hatte sie auf diese Weise einen kreisrunden Platz geschaffen, der gegen Wind, Regen und insbesondere neugierige Blicke gut schützte. Man brauchte das Versteck noch nicht einmal zu verlassen, um frisches Wasser zu holen, schließlich floss der Bach geradewegs an der Weide vorbei. Die Zweige waren so dicht, dass sogar der Schein eines kleinen Feuers von außen kaum zu sehen war, während im Inneren ein sehr behaglicher und warmer Raum entstand. Quentin hatte sich ein Feuer gemacht und seinen kleinen Topf daraufgestellt. Dann hatte er mit seinem Taschenmesser die Champignons geputzt und zusammen mit etwas klein geschnittenem Speck und wildem Lauch gebraten. Was für ein Festmahl! Nach dem Essen hatte er noch eine Weile ins Lagerfeuer geschaut und war irgendwann eingeschlafen.

Quentin träumte von der Stadt Balsberg und malte sich in den buntesten Farben aus, was er alles erleben würde. So lag er friedlich schlummernd am langsam niederbrennenden Feuer, während am Himmel über der alten Trauerweide die Sterne ihre Bahn zogen.

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Korbinian hatte den Hexen und Zauberern Adinas Plan dargelegt. Bevor jedoch darüber diskutiert wurde, unterbrach er die Versammlung für das Abendessen.

Der Speisesaal war riesig. Lange Tische und Bänke standen unter hohen Kreuzgewölben, deren Bögen auf gewaltigen siebeneckigen Pfeilern ruhten. Pentagramme, geheimnisvolle Schriftzeichen und Reliefs schmückten die Schlusssteine jedes einzelnen Gewölbes. Die langen Wände waren mit Bildern verziert, die Geschichten aus dem Leben der Magier vor einigen hundert Jahren erzählten. An jedem Pfeiler waren sieben Fackeln angebracht, die ein helles, unruhiges Licht in den Saal warfen und die Figuren auf den Wandgemälden scheinbar zum Leben erweckten.

Alle Magier waren gern in diesem Saal. Sie fanden ihn sehr gemütlich, und oft kam es vor, dass sich ein Abendessen bis tief in die Nacht erstreckte.

Während alle im großen Speisesaal saßen und hungrig über den leckeren Braten, die Kartoffelklöße und das Gemüse herfielen, wurde natürlich über Adinas Vorschlag geredet. Und hier, abseits der eher strengen Versammlungsregeln, geschah etwas Unerwartetes: Es gelang den Befürwortern der Idee, die Zweifler langsam, aber sicher auf ihre Seite zu ziehen. Korbinian merkte dies und beendete das Essen daher bei Weitem nicht so schnell, wie er eigentlich beabsichtigt hatte. Er musste schmunzeln: Er hätte nicht gedacht, dass bereits einige andere – und ihre Zahl war nicht gering – auf seiner Seite waren.

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Es war ein eindeutiges Abstimmungsergebnis für Adinas Vorschlag. Korbinian war unendlich erleichtert – wenn Adina das erst hören würde!

Den Versammelten war die Erleichterung ebenfalls deutlich ins Gesicht geschrieben. Nach der Rückkehr ins Convenium hatte die Beratung nicht mehr lange gedauert. Die unverhofften Helfer hatten gute Vorarbeit für Korbinian geleistet. Eigentlich ging es nur noch um die Art und Weise, wie der Plan umgesetzt werden sollte, und nicht mehr wirklich darum, ob er überhaupt von der Versammlung angenommen würde. Aber es gab ja auch keine Alternative.

Korbinian ließ einen alten Rotwein ausschenken, dann stießen sie auf das Gelingen ihres Plans an. Und der sah so aus:

Es gab ein Netz aus Beobachtern, das das ganze Land überspannte, alles erfahrene Hexen und Zauberer. Das waren natürlich die anwesenden Teilnehmer der Ratsversammlung. Sie waren alle zu ihrer jährlichen Sitzung angereist, auf der eigentlich die neuen Lehrlinge ausgewählt werden sollten.

Außerdem gab es die wandernden Gesellen. Sie waren ebenfalls über das ganze Land verstreut und auf der Suche nach Arbeit, Erfahrung und – neuen Lehrlingen.

Schließlich gab es noch etliche Magier, die ohne besondere Aufgabe über das Land verstreut oder in Filitosa wohnten, und die Lehrlinge, die in Filitosa ihre Ausbildung absolvierten. Die Versammlung hatte sich geeinigt, alle Lehrlinge ab dem dritten Ausbildungsjahr bei der Suche mit einzusetzen.

Und all diese Hexen, Zauberer, Gesellen und Lehrlinge würden gemeinsam nach dem einen Lehrling suchen, den sie um jeden Preis bis zum übernächsten Vollmond gefunden haben mussten.

Filitosa lag etwa in der Mitte des Landes. Das bedeutete, dass man vom Dorf aus gesehen die Suche so durchführen konnte, wie sich die Zeiger einer Uhr drehten. Auf diese Weise würde kein Dorf, keine Stadt, kein Flecken ausgelassen.

Es sollten drei Ketten gebildet werden. Eine Kette würde bei 12, eine bei 4 und eine bei 8 Uhr mit der Suche beginnen und im Uhrzeigersinn vorwärts gehen. Jede Kette würde in einer festgelegten Reihenfolge zusammengestellt sein: immer zuerst ein älterer Zauberer oder eine Hexe, dann ein Geselle, dann wieder ein Magier, ein Lehrling, dann wieder von vorn. Auf diese Weise war immer rechts und links von einem Lehrling ein erfahrener Nachbar. Der Rest der Magier würde sich in Filitosa um die notwendigen Vorräte und die Vorbereitungen für die feierliche Aufnahme der neuen Lehrlinge kümmern.

Die Versammlung hatte sich eine Woche Zeit gegeben, um alle Magier zusammenzurufen. Daran sollten sich sieben Wochen Suche anschließen. Die neunte und letzte Woche vor dem übernächsten Vollmond war für die Reise des Lehrlings nach Filitosa vorgesehen.

Je länger die Magier über den Plan nachdachten, umso besser gefiel er ihnen. Korbinian hob die Versammlung auf und bat alle, in den Speisesaal zu gehen, denn diese Entscheidung musste gebührend gefeiert werden!

Aber bevor er selbst zur Feier gehen konnte, mussten noch ein paar Dinge erledigt werden.

Der 7. Lehrling

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