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Sie flogen bis Inverness und nahmen am Flughafen einen Leihwagen. Damit fuhren sie in jenes Gebiet, das Harp Canner ihnen aufgrund der alten Schriften beschrieben hatte.

Die Gegend war moorig und über weite Strecken unbewohnt. Muffiger Hauch lag über dem Land.

»Wie in einem Totenhaus«, fand der Chinese.

»Damit bist du vermutlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.« Roger Grey legte seine Stirn in besorgte Falten. Auch ihm behagte diese düstere Gegend nicht.

Der Himmel war verhangen. Aus einem Tal tönte das Blöken von Schafen. Es hörte sich keineswegs friedlich an. Eher erschrocken.

»Sogar die Tiere fühlen es«, sagte Wu O’Ying.

»Die zu allererst. Sie reagieren weitaus sensibler als wir Menschen auf dämonische Aktivitäten.«

»Versuchen wir es mit unseren Ruten?« Der Asiat zog ein silbernes Drahtgebilde aus der Tasche, das wie eine Miniwünschelrute aussah. Roger Grey besaß ein gleichartiges Instrument. Damit waren die Geistervernichter in der Lage, magische Strömungen aufzuspüren und ihnen zu folgen.

»Das ist noch nicht nötig«, sagte der Hüne. »Wir fahren noch ein Stück weiter. Wir sind noch zu weit von dem angegebenen Ort entfernt. O’Ying nickte zustimmend und trat aufs Gaspedal.

Aufmerksam beobachteten sie die Umgebung. Es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

»Halte dort vorn!«, sagte Roger Grey nach einer Weile. »Wir fragen den Schäfer, ob er McFever gesehen hat. Diese Leute besitzen ungewöhnlich scharfe Augen, und ein Fremder fällt ihnen sofort auf.«

Der Chinese brachte den Wagen dicht neben dem Alten zum Stehen und kurbelte das Seitenfenster herunter. Der Schäfer zuckte zusammen und bekreuzigte sich.

Roger Grey lachte vergnügt.

»Wetten, dass er dich für einen Geist hält?«, flüsterte er seinem Freund zu. »Der hat in seinem ganzen Leben noch keinen Chinesen gesehen.«

»Dann sprich du lieber mit ihm«, schlug O’Ying vor. »Ich will nicht schuld sein, wenn er vor Schreck umfällt.«

Grey beugte sich zur anderen Seite hinüber und erkundigte sich nach dem Gesuchten.

»Es kann schon zwei Tage her sein«, erläuterte er. »Länger auf keinen Fall.«

Der Alte hatte sehr helle Augen. Sie waren nahezu weiß. Wie ein Seher durchbohrte er den Rothaarigen mit Blicken.

»Kehr um, mein Sohn!«, murmelte er. »Kehr um! Dort vorn ist der Tod. Nichts wächst. Kein Gras, kein Baum. Nicht mal Moos oder Flechten. Sogar meine Schafe meiden diese Richtung.«

»Das ist kein Wunder«, fand der Chinese, »wenn es dort nichts zu fressen gibt.«

Der alte Mann überhörte diesen Einwand.

»In den Nächten höre ich das Stöhnen der Toten, und in Vollmondnächten tanzen die Hexen satanische Reigen.«

»Haben Sie den Mann nun gesehen?«, bohrte Roger Grey.

»Ich habe schon viele Männer gesehen. Vielleicht war dein Freund auch dabei. Wer weiß? Dieser Weg hat nur eine Richtung. Es gibt keine Wiederkehr. Wenn ihr weiterfahrt, wird schon bald jemand kommen, der nach euch fragt, und ich werde mich nicht erinnern. Es sind so viele.«

Die Freunde blickten sich an. Entweder war der Schäfer nicht mehr ganz richtig im Kopf, oder er war klüger als sie.

Roger Grey ritt plötzlich der Teufel. Er wollte es genau wissen.

»Wir sind doch hier auf dem richtigen Weg zur Hexenrippe, oder?«, fragte er scheinheilig.

Der Alte zuckte nicht mit der Wimper. Nur seine Augen wurden noch eine Spur weißer.

»Lasst dem Dämon, was dem Dämon gehört«, schnarrte er. »Dann lässt er euch, was euch gehört: euer Leben.«

Ohne einen Gruß wandte er sich ab und schlurfte davon. Mit seiner eigentümlich hohen Stimme rief er zu seinen Schafen hinüber. Ein wolliger Hund stürzte herbei. Er sprang an seinem Herrn hoch. Dieser sagte etwas zu ihm, und der Hund blickte zu den beiden Fremden im Auto. Er knurrte und zeigte ein Gebiss, dass nicht so recht zu ihm passen wollte. Seine Nackenhaare sträubten sich.

»Ich fürchte, man mag uns hier nicht«, stellte Wu O’Ying fest.

»Jedenfalls befinden wir uns auf der richtigen Spur, und das ist die Hauptsache«, entgegnete Roger Grey.

Sie setzten ihre Fahrt fort, und keiner blickte sich um. Deshalb sahen sie auch nicht, wie der Schäfer ihnen mit brennenden Augen nachstarrte.

»Fahrt nur!«, flüsterte er höhnisch. »Fahrt nur in euren Tod ... Auch ihr werdet sie nicht bekommen. Keinem wird das jemals gelingen.«

Sie fanden die Stelle, an der Lee McFever zu schlafen versucht hatte, und entdeckten seine Spuren. Der Chinese, ein dürrer Mann mit schwarzen Haaren, die er schulterlang trug, schüttelte verwundert den Kopf.

»Sieh dir das an! Er ist direkt in den Felsen gegangen. Jedenfalls enden seine Fußabdrücke hier.«

Sie untersuchten den kahlen Stein, der sich hoch auftürmte und in einer Höhe von ungefähr vier Yards ein weit überhängendes Dach bildete, doch es gab keinen Spalt und keine Nische.

»In der Tat merkwürdig«, gab Roger Grey zu. »Es kann sich allerdings auch um einen Trick handeln.«

»Um einen Trick?«

»Natürlich, Wu. McFever kann sich denken, dass sich Canner nicht ohne weiteres bestehlen lässt. Er muss damit rechnen, dass ihm jemand folgt. Wer das ist, spielt dabei keine Rolle. Jeder ist ihm gleich unlieb, hindert er ihn doch bei seiner Arbeit, für die er äußerste Konzentration braucht. Er fürchtet Konkurrenz und versucht, seine Verfolger zu täuschen. Zum Beispiel kann er rückwärts gegangen sein. Jeder, der seine Fährte vor dem Fels enden sieht, muss an einen Spuk glauben.«

»Das sagst du nicht, weil du wirklich an diese Möglichkeit glaubst, Roger.«

Der Rothaarige grinste.

»Nein, weil mir nichts anderes einfällt. Wieso hast du mich so schnell durchschaut?«

»Weil ich weiß, dass du kein Trottel bist«, sagte der Chinese schlicht. »Die Abdrücke beim Rückwärtsgehen sehen anders aus. Der Ballen müsste stärker betont sein, hier ist es, wie üblich, die Ferse. Das hast du genauso erkannt wie ich. Der Mann ging vorwärts, und wenn er sich nicht anschließend in die Lüfte erhoben hat, muss er in den Fels eingedrungen sein.«

»Es sieht fast so aus, Wu. Wenn er es konnte, muss es uns auch gelingen. Was meinst du?«

»Vielleicht hat ihm jemand geholfen.«

»An wen denkst du?«

»An den Wächter der Hexenrippe. Es wäre in der Lage, den Stein zu öffnen.«

»Warum sollte er das tun? Er will doch gerade Neugierige fernhalten.«

»Oder sie in ihr Verderben locken. Hast du den Schäfer vergessen? Es waren schon viele hier. Der Fels ist groß. Vielleicht ist er ein riesiges Grab.«

Roger Grey schob sein Kinn vor. Er hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde. Er hatte mit Gefahren und Kämpfen gerechnet, aber wie sollten sie in das Innern eines Steins gelangen, ohne sich gleichzeitig dem hütenden Dämon auszuliefern?

»Es muss einen anderen Weg geben«, erklärte er störrisch. Es wurmte ihn, dass sie bereits hier auf eine anscheinend unüberwindliche Schranke trafen. »Und wenn es gar nicht anders geht, sprengen wir den Brocken. Dann werden wir ja sehen, ob Hexen und Dämonen vom Himmel fallen.«

So leicht, wie er das sagte, nahm er das Ganze allerdings nicht. Er musste nur auf irgendeine Weise seinem Unmut Ausdruck geben.

Sie liefen an dem Felsen entlang, und ließen sich dabei eine Menge Zeit, denn sie wollten nichts übersehen, aber der Brocken war auf allen Seiten gleich glatt und hart und bot ihnen keine Chance zum Eindringen. Nach zweieinhalb Stunden kehrten sie zu ihrem Ausgangspunkt zurück und waren exakt so klug wie zuvor.

»Wir sollten abwarten«, schlug Wu O’Ying vor.

»Warten? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Du weißt, dass wir Lee McFever vor einem grausamen Ende bewahren wollen. Falls das überhaupt noch möglich ist, müssen wir uns beeilen.«

»Ich bin deiner Meinung, Roger. Trotzdem fürchte ich, dass wir uns mit gewissen Gegebenheiten abfinden müssen. Wenn du dir McFevers Decken ansiehst, wirst du feststellen, dass er sein Nachtlager überstürzt verlassen hat. Das war bestimmt nicht geplant. Etwas Unerwartetes muss eingetreten sein, etwas, was sich diese Nacht womöglich wiederholt.«

Roger Grey schwieg. Sein Kopf war voll düsterer Gedanken. Er hatte gehofft, die Hexenrippe an sich bringen zu können und gleichzeitig ihren eventuellen dämonischen Wächter auszuschalten, um McFever jeder Gefahr zu entheben. Wenn sich aber die finsteren Mächte bereits eingeschalten hatten, wenn nur sie bestimmt, wer bis zur Rippe vordringen durfte, dann war der ganze schöne Plan nichts mehr wert.

Wu O’Ying beobachtete seinen Freund. Er wusste, was in seinem Innern vorging. Genau wie der rothaarige Hüne grübelte auch der Chinese über eine neue Möglichkeit, Lee McFever zu vorzukommen. Er ergriff als Erster wieder das Wort, obwohl er für gewöhnlich eher ein Freund des Schweigens war.

»Ich sehe keinen anderen Weg, als zu warten, Roger. Wir können zwar versuchen, uns mit Hilfe unserer magischen Mittel Einlass in den Felsen zu verschaffen, doch ich fürchte, dass wir dabei nur unsere Kräfte verschwenden, die wir später noch dringend brauchen werden. Nach allem, was uns Harp Canner berichtet hat, sind seine Werkzeuge nicht stärker als unsere. McFever hat also zweifellos genauso hilflos vor dem Stein gestanden wie wir. Wir müssen auf Hilfe warten.«

Grey schüttelte entschieden den Kopf.

»Auf keinen Fall, Wu. Begreifst du nicht, was diese Hilfe bedeutet? Wer auch immer die Hexenrippe hütet, er wird uns nicht freundlich willkommen heißen. Falls überhaupt, wird er uns erst dann einlassen, wenn er mit seinem vorherigen Opfer fertig ist. Dann ist es aber zu spät. Wir müssen das verhindern. Deshalb werden wir gewaltsam in den Felsen eindringen, ob das dem Dämon nun angenehm ist oder nicht.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, gab der Chinese mit finsterem Lächeln zurück. »Und sicher hast du auch gleich ein Patentrezept bei der Hand.«

»Sprengen«, erklärte der Rothaarige knapp, »Mit dem Dynamit vernichten wir zwar mit Sicherheit nicht den Geist, aber dieser Brocken hier wird klein beigeben müssen. Und dann werden wir ja sehen, ob das Ding innen hohl ist, oder wie es weitergeht.«

O’Ying meldete seine Bedenken an.

»Und wenn wir McFever dabei mit in die Luft jagen?«

»Wir werden die Ladung sehr vorsichtig dimensionieren. Ich kenne keinen, der mit Sprengstoffen jeder Art besser umgehen könnte als du. Das musst du von deinen Urvätern geerbt haben.«

»Von denen habe ich vor allem meinen gesunden Menschenverstand geerbt«, gab der Chinese zurück. »Ich sage dir, dass das nicht klappen wird.«

»Aber es ist besser als warten, Wu. Wir müssen etwas tun. Wenn es das Falsche war, haben wir zumindest nichts unterlassen, was McFever hätte retten können.«

Dem konnte O’Ying nichts entgegensetzen. Auch er war ein Mann, der aktiv sein musste. Seine äußere Ruhe täuschte nicht darüber hinweg, dass er ein ausgesprochener Kämpfer war. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Wagen hinüber und entnahm ihm einen kleinen Koffer, der ziemlich schwer war. Er kehrte zu Roger Grey zurück und klappte den Lederbehälter auf.

»Ob das reicht?«, meinte er zweifelnd und nahm die fünf Sprengkapseln heraus.

»Wir versuchen es zuerst mit einer einzigen Patrone und warten die Wirkung ab.«

»Dann bleiben uns nur noch vier.«

»Du bist nicht nur ein großer Denker und geschickter Sprengmeister, sondern entwickelst dich auch noch zum mathematischen Genie.«

»Du weißt, was ich damit sagen will.«

Grey nickte ernst.

»Natürlich, Wu. Du meinst, dass es besser wäre, gleich alle fünf Kapseln einzusetzen, wenn wir diesen Felsen ankratzen wollen. Aber das ist mir zu riskant, weil wir McFever darin vermuten, der hoffentlich noch am Leben ist. Wir dürfen ihn nicht gefährden.«

»Na, dann ist ja alles ganz einfach. Fangen wir also an!«

Er legte vier Patronen wieder zurück und begab sich mit der fünften zum Felsen, an dem er schon längst nach einer geeigneten Stelle geforscht hatte. Da sich nicht der winzigste Spalt in dem glatten Stein befand, musste er erst eine Lücke schaffen.

Mit einem Steinmeißel arbeitete er verbissen. Grey löste ihn von Zeit zu Zeit ab, aber sie kamen kaum voran.

»Granit ist dagegen weißer Käse«, stellte der Chinese schnaufend fest. »Wenn der Klumpen ein bisschen ansehnlicher wäre, würde ich behaupten, dass es sich um einen riesigen Diamanten handelt.«

»Den Gedanken, dass wir in diesem Fall allein durch den Dreck, den wir inzwischen abgekratzt haben, reiche Männer wären, brauchst du gar nicht erst weiterzuspinnen. Es ist Stein und weiter nichts. Meinst du, dass es jetzt reicht?«

Wu O’Ying prüfte die Vertiefung im Fels und steckte die Kapsel hinein.

»Es ist einen Versuch wert«, erklärte er. »Fahr den Wagen ein Stück weg und bleib gleich dort. Es wird vermutlich ein wenig rumpeln.«

Roger Grey packte den Koffer und eilte zum Auto. Als er weit genug entfernt war, setzte O’Ying die Zündschnur in Brand und rannte los. Er warf sich in einer Senke zu Boden und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Keine Sekunde zu früh. Es krachte ohrenbetäubend, aber das erwartete Prasseln von Gestein und Dreck blieb aus.

»Sch...«

»Schade wolltest du wahrscheinlich sagen«, rief Roger Grey herüber.

Beide sahen, dass der Sprengstoff nicht das Geringste bewirkt hatte. Der Fels stand unberührt, und es sah so aus, als ginge ein dämonisches Grinsen von ihm aus.

»Dich krieg ich noch!«, sagte Wu O’Ying wütend. »Das war eine typische Rückwärtssprengung, und ich fürchte, dass wir mit einer geballten Ladung auch nur das Gegenteil von dem erreichen, was wir eigentlich wollen.«

»Fällt dir etwas Besseres ein, Wu?«

»Nein.«

»Dann meißle!«

Der Chinese nickte ergeben, und da sie nur ein geeignetes Werkzeug besaßen, mussten sie sich wieder abwechseln. Diesmal dauerte es erheblich länger, denn das Loch musste groß genug sein, um vier Sprengkapseln unterzubringen.

Obwohl es immer kühler wurde, rann ihnen der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. Sie wechselten sich öfters ab, bis der Chinese mit dem Ergebnis zufrieden war.

»Jetzt reicht es«, erklärte er und schob die vier Dynamitstangen in die Öffnung. Er befestigte eine längere Zündschnur, und Roger Grey musste den Wagen noch ein Stück weiterfahren.

Schließlich war es soweit. Die Lunte knisterte, und winzige Funken sprühten. Der Chinese lief, so schnell er konnte, und entwickelte ein beachtliches Tempo.

Plötzlich blieb er abrupt stehen, als wäre er gegen eine Mauer gerannt.

»Was ist los?«, schrie Grey. »Bist du lebensmüde?«

Wu O’Ying antwortete nicht. Entgeistert starrte er auf die Gestalt vor sich. Sie drohte ihm unmissverständlich. Das Eigenartige aber war, dass sie das Gesicht des alten Schäfers besaß. Allerdings war es jetzt nicht freundlich und warnend, sondern hassverzerrt.

»Lauf zu!«, schrie Grey verzweifelt. Er war zu weit entfernt, um dem Freund helfen zu können. Untätig musste er mitansehen, wie der Kleinere jetzt sogar ein paar Schritte zurücktaumelte. Noch dichter auf die verhängnisvolle Gefahrenstelle zu.

»Wu, verdammt!« Roger Grey schrie sich fast die Kehle aus dem Hals, aber sein Partner nahm keine Notiz von ihm. Offenbar sah er etwas, was Roger Grey nicht sehen konnte. Dann lief ein Zittern durch den Erdboden. Eine Druckwelle packte Roger Grey und warf ihn um. Die Explosion hörte er erst danach. Es war, als würde das ganze Hochland auseinanderbrechen. Die Luft füllte sich mit schwarzem Staub und winzigen Gesteinssplittern, die über die Haut rasierten und schmerzende Spuren hinterließen. Roger Grey schützte sein Gesicht und vor allem die Augen. Die Stärke der Explosion erstaunte ihn, aber dieser Fels hielt vermutlich noch mehr Überraschungen bereit.

Es dauerte einige Zeit, bis der Splitterhagel nachließ.

Der Geistervernichter hielt nach dem Chinesen Ausschau, den er auch schnell entdeckte. Er bekam einen gewaltigen Schrecken. Der Freund lag noch immer am Boden und rührte sich nicht.

»Wu?«, brüllte er. Wieder mal wurde ihm klar, dass der Chinese weit mehr als nur ein Partner im Kampf gegen Dämonen und Unwesen war. Einen besseren Freund hatte er nie besessen.

War er tot? Hatte es diesen kleinen, zähen Burschen erwischt?

Er rannte los, und als er das blutüberströmte Gesicht des Asiaten erkannte, verstärkten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Er kniete neben dem anderen nieder und suchte nach Verletzungen, während er behutsam das Blut abtupfte. Wu O’Ying gab keinen Laut von sich und rührte sich auch nicht. Doch sein Puls schlug, und sein Atem ließ sich auch noch registrieren. Allein diese Feststellungen erleichterten Roger Grey.

Er fand keine ernstlichen Wunden, also hatte der Chinese wohl nur das Bewusstsein verloren. Vermutlich war er durch einen größeren Gesteinsbrocken getroffen worden.

Ein Stöhnen entrang sich der Brust des Mannes. Für Roger Grey war es wie Musik.

»He, Wu! Komm zu dir, altes Haus ...! Das könnte dir so passen, dich hier auszuruhen und mir die ganze Arbeit zu überlassen.«

Wu‘s Augendeckel flatterten. Dann schlug er sie auf und blickte sich suchend um.

»Wo ist er?«, erkundigte er sich.

»Wen meinst du?«

»Den Schäfer. Er war da. Ich habe ihn gesehen. Er muss ein Dämon sein. Wahrscheinlich wollte er uns von diesem Ort fernhalten.«

»Jedenfalls hätte er es um ein Haar geschafft, dich aus dem Verkehr zu ziehen, noch bevor der Hexentanz richtig begonnen hat.«

Der Chinese verzog sein Gesicht zu schmerzlichem Grinsen.

»So leicht lässt sich Wu O’Ying nicht aufs Abstellgleis schieben«, sagte er grimmig. »Wenn schon getanzt werden soll, dann dürfen meine Beine nicht fehlen. Was macht der Fels? Ist es diesmal besser gelaufen?«

»Woher soll ich das wissen? Ich musste mich schließlich um einen Halbtoten kümmern.«

O’Ying grinste.

»Du findest auch immer eine Ausrede. Hilf mir lieber! Ich habe keine Lust, hier Wurzeln zu schlagen.«

Wu O’Ying hatte ebenfalls nur ein paar Kratzer von den umherschwirrenden Splittern abbekommen. Die Schrammen bluteten zwar beträchtlich, doch keine brachte eine ernstliche Gefahr.

Sie gingen zu dem Felsen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass der Schäfer nirgends zu entdecken war. Es hatte sich wohl lediglich um eine Vision gehandelt, die Wu erschrecken sollte, um ihn dem Gesteinshagel preiszugeben. Am Felsen erwartete sie eine Überraschung. Ein breiter Spalt klaffte, der wie ein Gang ins Innere führte.

»Bequemer geht es nicht mehr«, fand Roger Grey.

Wu O’Ying zeigte ein misstrauisches Gesicht.

»Fast zu bequem. Das sieht wie eine Einladung aus, hinter der ein teuflischer Gedanke steht.«

»Oder wie das Meisterwerk eines Sprengspezialisten«, entgegnete sein Partner. »Sei nicht so bescheiden, Wu! Das macht dir keiner nach.«

Der Chinese blickte zum Himmel, der sich verfärbte.

»Es wird dunkel«, stellte er fest.

»Das haben Nächte so an sich. Dabei ist nichts Gespenstisches. Hast du deine Lampe?«

»Natürlich.«

»Dann kann es losgehen.«

Wu O’Yings Gestalt straffte sich. Furcht kannte er nicht. Er liebte es nur, eine Situation beurteilen zu können. Diesmal war er dazu nicht in der Lage, und das irritierte ihn.

Der Spalt war nicht breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten, Roger Grey ging voraus. Der Strahl seiner starken Lampe fraß sich an den rauen Wänden des Gesteins entlang. Noch ließ sich nicht abschätzen, wann sie erneut auf Widerstand stoßen würden. Irgendwo musste der Spalt enden.

»Keine Hohlstellen«, sagte Grey, »Ich möchte wissen, wo McFever geblieben ist.«

Das Gelächter, das plötzlich aufbrandete, war wie eine Antwort. Es strömte aus dem Gestein heraus, hallte von allen Seiten wider, und wenn Roger Grey und Wu O’Ying noch einen Zweifel gehabt hatten, sich hier an der richtigen Stelle zu befinden, wurde er jetzt beseitigt. Der Lacher selbst war aber nicht zu sehen. Er blieb unsichtbar.

Die Freunde waren überzeugt, dass der erste Angriff erfolgen würde. Sie griffen zu jenen Waffen, von deren Wirkung sie sich in dieser Situation am meisten versprachen. Aber es kam ganz anders. Ein Knirschen im Fels kündigte an, dass er wieder in Bewegung geriet.

»Der Spalt schließt sich«, schrie Roger Grey und sah den Partner entsetzt an. Sie würden zweifellos zermalmt werden, wenn es ihnen nicht gelang, rechtzeitig aus der tödlichen Falle zu entweichen. Der Chinese hatte begriffen. Er wandte sich um und lief los. Er wusste, dass sich Grey dicht hinter ihm hielt.

Doch es war nicht mehr zu schaffen. Sie waren schon zu weit eingedrungen. Die steinernen Flanken rückten mit beängstigender Geschwindigkeit näher an sie heran. Nur noch Sekunden, dann war ihr Schicksal besiegelt ...

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