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Auf der Suche nach einer neuen Weltordnung Europa 1918/19
ОглавлениеNach dem Ende des Ersten Weltkrieges musste die politische Landkarte Europas neu gezeichnet werden. Die drei großen Kaiserreiche existierten nicht mehr. In Russland wurden die 300 Jahre lang herrschenden Romanows gestürzt und die Zarenfamilie ermordet. Im Zuge von Revolution und Bürgerkrieg gingen in dem Riesenreich massive Umwälzungen vor sich, Nationen spalteten sich ab und gründeten unabhängige Staatswesen. Unter der Gewaltherrschaft von Lenins Bolschewiki galt der größte Staat der Erde mittlerweile als die massivste Bedrohung der zivilisierten Welt. Deutschland wiederum, die bedeutendste Militärmacht Europas, hatte letzten Endes den Krieg doch verloren, die Monarchie unter den seit 1871 als Deutsche Kaiser regierenden Hohenzollern abgeschüttelt und sich in eine demokratische Republik umgewandelt. Doch in einer Zeit, wo kein Stein auf dem anderen blieb, war auch diese durch einen kommunistischen Umsturz ernsthaft bedroht. Das dritte Kaisertum mit der ältesten Dynastie Europas, das Habsburgerreich, war nicht nur besiegt, es hatte nach der Gründung seiner Nachfolgestaaten überhaupt aufgehört zu bestehen. Die zentrifugalen nationalen Kräfte hatten sich für die Stützen der Monarchie als zu stark erwiesen. Neue, unabhängige Staatswesen wurden gegründet, Nachbarn des aufgelösten Österreich-Ungarns erhielten Gebietszuwächse.
So besaß Europa nach dem Krieg mehr staatliche Einheiten als bei dessen Ausbruch: Zur Tschechoslowakei und Polen kamen im Nordosten an der Baltischen See Finnland, Estland, Lettland, Litauen hinzu, die sich von Russland losgesagt hatten. Das neu gegründete Jugoslawien vereinigte nicht bloß Teile der zerschlagenen Habsburgermonarchie, sondern mit Serbien und Montenegro auch zwei bereits vor dem Weltkrieg existierende Staatswesen.
Zu Beginn des Jahres 1919 war der Große Krieg seit knapp zwei Monaten zu Ende. Trotz des Waffenstillstandes war unter den Völkern Europas aber keineswegs überall Friede eingekehrt. Gebietsstreitigkeiten führten in der Mitte und im Osten des Kontinents zu verschiedenen militärischen Kampfhandlungen. Deutsche, Polen, Russen, Ukrainer, Tschechen und Slowaken, Ungarn, Rumänen, Italiener, Südslawen und Österreicher waren daran beteiligt. Nach Russland drohte nun auch in Deutschland die kommunistische Revolution. In Berlin herrschten Mitte Jänner bürgerkriegsähnliche Zustände, die sich in weiterer Folge auf die ganze junge Republik ausdehnten. Nachdem an den Fronten endlich die Waffen schwiegen, wurde Europa von Streiks, Krawallen, Plünderungen, Besetzungen, ja selbst Pogromen und politischen Attentaten heimgesucht.
Das Elend schien noch immer kein Ende zu nehmen. Doch nicht nur Gewalt bedrohte die Menschen. Weltweit grassierte die Spanische Grippe, eine verheerende Pandemie, die sogar mehr Opfer als der Weltkrieg forderte. Eine Metropole im Herzen Europas wie Wien, die ehemalige Haupt- und Residenzstadt der mittlerweile zertrümmerten Donaumonarchie, litt weitgehend alleingelassen unter Hunger und Kälte, ihre darbenden Menschen waren auf Lebensmittellieferungen aus dem Ausland angewiesen. Die Schweiz und Großbritannien waren dabei die ersten Staaten, die halfen.
Es war hoch an der Zeit, das allgemeine Chaos in Europa durch eine internationale Nachkriegsordnung zu beheben. Eine solche sollte im Rahmen einer großen Friedenskonferenz geregelt werden. Als Austragungsort einigte man sich auf Paris. Der britische Premier David Lloyd George wollte die Konferenz eigentlich nicht in der Seine-Metropole abhalten, sein Verbündeter, Ministerpräsident Georges Clemenceau, soll jedoch so lange protestiert, ja sogar geweint haben, bis ihm nachgegeben wurde. Aber selbst die Weltstadt Paris war nach über vier Jahren Krieg auf einen derartig groß angelegten Kongress nicht vorbereitet. Neben Staatsmännern, Diplomaten und Militärs trafen auch Wissenschaftler, Juristen und Persönlichkeiten aus der Wirtschaft in der französischen Hauptstadt ein. Alle Nationen der Erde – bis auf das Russland der Bolschewiki – suchten, auf der Konferenz ihre Zukunft mitzugestalten, ihre Lage zu verbessern oder wenigstens das Schlimmste zu verhindern. »Die Züge sind überfüllt, Zimmer kaum zu haben«, schilderten Berichterstatter eine regelrechte Massenwanderung an die Seine. »Paris ist voll Siegesfreude«, hieß es euphorisch, und so mancher glaubte bereits an einen zweiten Wiener Kongress. Doch allein die gut 500 Journalisten entwickelten eine völlig andere Atmosphäre als jene, die nach dem Sieg über Napoleon während des Friedenskongresses in der Donaumetropole mehr als 100 Jahre zuvor geherrscht hatte.