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Die ersten acht Tage waren überstanden. Acht harte Arbeitstage. Mit schwierigen Proben, mit einsamen Spaziergängen in der Dämmerung. Mit Eiswinden in der Nacht, die auf die Fenster drückten und das häßliche Zimmer in einen Eiskeller verwandelten. Acht Tage, in denen das Mittagsgeläut der Riedinger Glocken Christine getröstet hatte, weil es das nahe Ende der Vormittagsproben ankündigte und in denen sie auf die Abendglocken wartete, die das Ende der Nachmittagsproben einläuteten. Seitdem Körner, der Geschäftsführer der Theatertournee, da war, wurde hart, heftig und grollend gearbeitet. Wenn Mumbo Petersen die gute Arbeitslaune gerade wieder hergestellt hatte, kriegte es Körner fertig, mit seiner Ungeduld und seiner essigscharfen Kritik die Schauspieler von neuem aufsässig zu machen. Körner hatte – wie die Souffleuse Olga Berliner – mit allen Größen der Schauspielkunst gearbeitet. Er kannte – wie er behauptete – die Ausflüchte und Mätzchen der Stars, den Aberglauben, die Existenz-Angst der »mittleren Größen«. An Spangenberg und Christine wagte er sich nicht heran. »Ich finde die beiden eine Fehlbesetzung«, hatte er dem Regisseur am zweiten Tag erklärt, »ich kann diese moderne Art nicht ausstehen. Aber sie kommt wahrscheinlich an. Wenigstens der Herr Wyndthausen bringt Geld in die Kasse. Was die Meßwarb bringt, das muß man abwarten.«

Christine war es gleichgültig, was Körner von ihr hielt. Sie arbeitete unter dem Schatten des jungen Baumes, sie stand unter dem Schutz Wyndthausens. Auf der Szene vertrugen sie sich ausgezeichnet. Christine verstand es, seinen Ton aufzunehmen, ihn ein wenig zu verstärken und mit ein bißchen Seele zu durchleuchten. Nicht etwa mit Herz. Das hätte er ihr nicht erlaubt. Denn die Persephone, die dreigeteilte, die bald das Mädchen Kore war, bald die Gattin des Unterweltfürsten und bald die Frau des Triptolemos ... diese Frau konnte – nach Wyndthausens Ansicht – ihr dreifaches Leben nicht im herzlichen Einvernehmen mit ihren beiden Männern führen. Aber sie konnte durch die Wandlungen ihrer Seele stets von neuem deren gleichgestimmte (mit gleicher Stimme sprechende) Gefährtin sein.

Sie waren seit dem Abend in der Stadt nicht wieder privat zusammengewesen. Manchmal sah Christine in der Erinnerung die schlangenkopfgeschmückte Messingklinke leise auf und ab gehen. Manchmal bedauerte sie, daß sie damals (vor Ewigkeiten also), abgeschlossen hatte. Meist dachte sie nicht daran. Es war nur merkwürdig, auf den Proben die Leidenschaft seiner Umarmungen zu spüren, die heftige Freude des Wiedererkennens, den wilden Schmerz des Abschieds. Es war seltsam, immer wieder den ungestümen Herzschlag des geliebten Triptolemos zu hören und gleich darauf Herrn Wyndthausen mit flaschengrünen Cordhosen, gelbem Pullover an der Seite Psyches am Abendbrottisch wiederzufinden oder flirtend mit einer der drei Horen, von denen Mumbo, der Regisseur, gesagt hatte, es fiele diesen Damen schwer, den Herren ein O für ein U vorzumachen.

Sie suchten einander nicht. Sie wichen einander auch nicht aus. Dreimal z. B. begegneten sie sich beim Orangensaftschlürfen auf der Treppe. Sie lachten miteinder und stellten die leergetrunkenen Gläser auf der oberen Treppenstufe einträchtig nebeneinander, während jeder grußlos in seinem Zimmer verschwand. Auch dieses grußlose Auseinandergehen hatte sie von ihm angenommen. Es war nett und unverpflichtend. Einmal hatte sie ihm »Aufwiedersehen« nachgerufen. Er kam zurückgelaufen und plapperte unbefangen: »Ja ... Aufwiedersehen. Eigentlich wahr. Wann werden wir uns mal wiedersehen?« Sie zitierte spöttisch: »Wenn die Augen zurückkehren ... wenn sie das Gefild der Blumen ... wenn sie sich selber sehen, wie sie den anderen erblicken.« Das war aus einer Ungeduldsszene, die Verse, mit denen Triptolemos um Persephone wirbt. Er sagte ungeduldig: »Daß wir uns auf der Probe sehen, weiß ich. Aber ich dachte, Du wolltest nichts von mir wissen.« Sie lachte. »Ich?« Diese Umkehrung war fast verrückt. Aber sie setzte sich nicht zur Wehr.

Sie setzte sich nicht zur Wehr, und sie suchte ihn nicht. Sie richtete sich ganz nach ihm, nach seiner undurchsichtigen Art. Sie sah, wie alle anderen Frauen ihn umgirrten, von den Horen angefangen über Psyche, Gertrude Schwarz, die anscheinend die Nächte mit ihm verbrachte, bis zu Ellen Heß, der Demeter, die behauptete, sie interessiere sich »rein menschlich« für ihn. Er sei ein künstlerisches Phänomen, etwas Einmaliges, Unergründliches, das zu beobachten eben hinreißend sei. Ja, sogar bis zu Olga Berliner, der Souffleuse, die ihn kurzweg als das amüsanteste Mannsbild bezeichnete, das ihr jemals begegnet war. »Ein kaltes, hintertriebenes Ekel nebenbei, ein Egoist von hundert Karat, glänzend, funkelnd, blendend. Liebt und lobt nur sich selbst. Achtung ... bissig und immer weibshungrig.«

Alle diese Urteile stimmten. Aber keines traf den Kern seines Wesens. Das spürte Christine. Das beschäftigte sie. Aber an einem Tag war sie von diesem rätselhaften Mann angezogen und gefangen. Am nächsten Tag ließ er sie völlig kalt. Ihr war’s allein wichtig, einen ebenbürtigen, einen überlegenen Bühnenpartner zu haben. Die größte Überraschung blieb es für sie, daß Wyndthausen das einmal Festgelegte, das einmal Erprobte und Eroberte immer präsent hatte, immer mit gleicher Zurückhaltung oder gleicher Gewalt darstellen konnte. Es war aufregend zuzusehen, wie er die Gestalt des sonnenhaften und untragischen Triptolemos bildhauerisch herausarbeitete, des Gewinners, der sich schon wieder vor dem Verlust fürchten mußte. Sich ihm anzupassen ... was war natürlicher? Sich seiner größeren Erfahrung zu unterwerfen, seinem heftigeren Temperament, seiner glühenden, und dennoch kalten Leidenschaft. Sie lernte, auf die kleinsten Gebärden zu achten und mit einer gleichfalls winzigen Gebärde zu antworten. Manchmal fürchtete sie, daß diese winzigen Bewegungen überflüssig seien, weil sie doch nicht den mächtigen Bühnenrahmen füllen konnten, weil sie in der breiten Szenerie verflattern mußten. Aber allmählich begriff sie, daß durch die Vielfalt dieser Gebärden im Darsteller selbst jene Veränderungen hervorgerufen wurden (er nannte sie bayerisch-pathetisch: Aufweckungen), die aus den zufälligen Schauspielern, Herrn Wyndthausen und Fräulein Meßwarb Bühnengestalten und schließlich Schicksalsfiguren machten.

Warum er sie hartnäckig Fräulein Meßwarb nannte, das verstand sie ganz gut und ließ es sich gefallen. Seine kleinen Zwischenbemerkungen auf den Proben waren manchmal ein lehrhaftes, lehrerhaftes Kolleg über das Wesen des Theaters, des Schauspielers und des Menschen von heute. Er hatte viel und gescheit nachgedacht. Wunderlich und wunderbar, daß er’s fertig bekam, seine Theorien in lebendige Kunst umzusetzen.

Der Granatapfelbaum

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