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ОглавлениеAn einem der Abende saß sie mit dem Dichter Diedrichsen zusammen. Wyndthausen war mit Psyche, Gertrude Schwarz, in die »Altdeutschen Weinstuben« gefahren. Er hatte Diedrichsen und sie aufgefordert, in Christines Wagen nachzukommen. Christine hatte freundlich abgelehnt. Sie fahre nur im Zauberwagen des Triptolemos, und der habe nur für zwei Personen Platz. Sie ärgerte sich, daß sie die Stadt und die Weinstuben als ihr persönliches Eigentum betrachtete, als einen reservierten Garten des gemeinsamen Erlebnisses, in dem diese Gans von Psyche nicht die paar spärlichen Blumen der Erinnerung schnatternd wegfressen sollte.
Gut – sie blieb also mit Diedrichsen in Hennekes Gaststuben. Die Totenrichter klopften rhythmisch ihren Skat. Petersen, der Regisseur, war betrunken und zankte sich laut mit dem gleichfalls bierschweren Manager Körner, der wiedermal grollte, weil die Proben zu langsam vorangingen. Mumbo Petersen wiederholte immer den gleichen Satz, eine alkoholische Weisheit: »Liebe und Begabung muß man wachsen lassen.« Körner entgegnete hartnäckig: »Das Geld wächst noch langsamer als die Liebe, mein Lieber.« Mumbo legte beschwörend seinen Arm auf Körners Arm. Die zarte Meßwarb dürfe man nicht mit so grobem Geschütz niederkartätschen. Das sei Sünde am Dienste der Götter.
Diedrichsen versuchte von seiner verpfuschten Ehe zu berichten, der Ehe mit einer reichen Frau, die so geizig war, daß sie ihn zwang, »Brotarbeit« zu verrichten. Brotarbeit! Er schüttelte sich, als sei Brot etwas Stinkendes, Unflätiges. Sie knechtete den armen Dichter, der ... weiter kam er nicht. Christine erklärte, sie sei bereit, jetzt mit ihm über die holde Kunst zu reden oder gelegentlich auch mal mit ihm spazierenzugehen und die Herrlichkeit der Natur zu genießen, den Singsang des Windes auf dem Mühlenberg und was er sonst wolle. Aber sie sei nicht bereit, mit ihm zusammen seine ehelichen Kümmernisse zu beweinen. »Sie haben eben nie etwas Düsteres und Tragisches erlebt«, sagte der Dichter unwirsch. Christine antwortete freundlich: »Nein, niemals. Ich lächelte mich so durchs Leben und werde mich weiter durchlächeln.«
»Sie haben niemanden zu beklagen, niemanden zu beweinen?« fragte Diedrichsen, der sie nicht verstand. Christine antwortete ernst: »Mein Leben lief hell und munter murmelnd wie ein Bach ... der in die Unterwelt hinabplätschert.«
Mumbo Petersen kam jetzt schwankend an Christines Tisch, setzte sich und schwätzte betrunken auf sie ein. »Sie sind mein Fall«, lallte er, »wenn man Sie laufen läßt, kommen Sie an. Nicht zu viel Temperament, aber sehr viel Atem. Deshalb sind Sie immer zur rechten Zeit da. Und sogar ’n Stück Herz am rechten Fleck.« Er nahm Diedrichsens Bierglas und trank es leer. Dann sprach er weiter: »Daß Sie ein Herz haben, verraten Sie bitte Ihrem Sonnengatten, Herrn Triptolemos, nicht. Der hält nichts von derlei anfälligen Organen.« Und als Christine nicht antwortete: »Weil er kein Herz hat, Ihr Triptolemos, deshalb hat er so ’ne eiserne Konstitution. Kann nicht an Herzweh zugrunde gehen.«
Er stand mühsam auf und schwankte an seinen Tisch zurück.
»Alle lieben Sie«, seufzte Diedrichsen und setzte mühsam eine große Zigarre in Brand. Er hatte seinen Schreibblock vor sich liegen, kritzelte nervös seinen Namen aufs Papier und umgab ihn mit Ballons, mit Blumen, mit Bäumen. »Alle lieben Sie«, wiederholte er hartnäckig. Christine antwortete fröhlich: »Warum sollen sie auch nicht? Ich tue niemanden was. Ich neide niemandem was. Das ist doch Grund genug, geliebt zu werden.«
Diedrichsen dampfte wie ein Totenrichter. Er examinierte sie streng: »Sie beneiden niemanden? Prüfen Sie genau! Niemanden?« Christine sah ihn vergnügt an: »Doch, einen beneide ich: Wyndthausen. Über den haben die Götter alle Gaben ausgegossen.« Diedrichsen hob abwehrend die Hände. Sie solle doch nicht griechisch-hymnisch reden. Nicht von Triptolemos, den sie nach dem Diktat des Stückes, nach Diedrichsens Diktat lieben müsse. Aber bitte keine Verwechslungen: den Herrn Wyndthausen müsse sie nicht lieben. Der sei – das wolle er als alter Freund mal sagen –, Wyndthausen sei gewiß ein Talent, ein Könner von Rang. Aber – Christine wußte schon, was nun kam –: die Kälte. Die Gefahr, sich an dieser Kälte zu entzünden. Wieder eine Warnung. Sie mußte sich hüten, diesen von allen angegriffenen Mann zu verteidigen. Sie hörte nur noch von ferne die Lobsprüche auf ihr Genie und auf ihre Locken, auf ihre Begabung und auf ihre Zierlichkeit, auf ihr Können und ihre tiefblauen, melancholischen Augen, klematisblau ... das hatte er auch bereits herausgefunden. Bekennerische Männer kann man nicht unterbrechen. Sie dachte derweil etwas ganz anderes. Daß es nun endgültig zu spät war abzureisen, daß Persephone nur wegreisen konnte, wenn der Hades sie rief oder, was dasselbe war, wenn Pluto, der Fürst über die Reichtümer und die Unterwelt sie raubte. Es war zu spät, Wyndthausen zu entgehen, wenn er sie haben wollte. Er sie wollte ... welche Demut, was für eine fatalistische Hingabe! Die Entscheidung lag bei Wyndthausen. Seine Entscheidung war das Schicksal, das sie ohne Widerspruch hinnehmen mußte. Wenn sie jetzt allein gewesen wäre, ohne Diedrichsen, dann wäre sie in die Stadt gefahren, ganz einfach. Sie hatte eine schamlose, eine unerträgliche Sehnsucht nach ihm. Und es war ihr ganz einerlei, ob er mit der Psyche dort saß, schäkerte, schmale Zigaretten rauchte und sich ihren Namen für sein Etui erbat. Ganz einerlei. Weil es sich eben nicht nur um Liebe handelte, sondern um Schicksal. Oder machte sie einen pathetischen Schmus um die Tatsache herum, daß sie den Mann haben wollte, daß es ihr unerträglich war, ihn nur auf der Bühne zu umarmen und ihn dann an den Alltag zu verlieren?
Sie stand plötzlich auf. Sie streichelte dem Dichter Diedrichsen über die Wangen. Sie sagte: »Ich freue mich, daß ich einen so treuen Freund gefunden habe. Man braucht viele, viele Freunde.«
Der Dichter schaute mit seinen halbblinden Augen zu ihr hinauf. Er sagte: »Der Angeklagte muß für das milde Urteil dankbar sein.« – »Gute Nacht, Diedrichsen«, sagte sie und lief hinaus, lief hinauf in das schauderhafte Zimmer und schloß die Tür mit Heftigkeit ab. Das wenigstens verlangte das Schicksal nicht von ihr, daß sie auf Wyndthausen wartete.