Читать книгу Die O´Leary Saga - Werner Diefenthal - Страница 28
ОглавлениеDezember 1891
Dublin
John Berkley saß an seinem Schreibtisch und rechnete. Der letzte Monat war nicht schlecht gewesen, stellte er fest. Die Einnahmen, die ihm sein Schiff bescherte, waren so gut, dass er daran dachte, sich ein zweites zuzulegen. Das Problem war nur, das geeignete Objekt zu finden.
Denn neben den normalen Laderäumen benötigte er zusätzlichen Raum, der durch die Zollbeamten oder Polizisten nicht so leicht zu finden war. Es würde ohne Umbauten nicht gehen, das war ihm klar, aber je mehr Männer davon wussten, umso größer war die Gefahr, dass jemand plaudern würde. Und das war etwas, was er überhaupt nicht leiden konnte. Vor kurzem erst hatte er jemanden aus dem Weg räumen müssen, der zur Gefahr zu werden drohte. Nach außen hin verkörperte John einen biederen Geschäftsmann, was bei seiner Statur nicht gerade einfach war. Er war kräftig, fast schon korpulent, mit einem verschlagenen Gesicht und stechenden Augen. Am schlimmsten jedoch war seine Stimme, die wie rostiges Eisen klang, das man mit einer Drahtbürste bearbeitete. Doch all das hielt ihn nicht davon ab, gute Geschäfte mit den Engländern zu machen. Seine Nebeneinkünfte verschwieg er allerdings, und das aus gutem Grund. Transportierte er doch alles, was Geld brachte. Und es war ihm egal, was es war. Ob Gewürze, Waffen oder auch Menschen, die er versteckte und dorthin brachte, wo sie hinsollten. Er stellte keine Fragen und beantwortete auch keine. Als man ihn vor einiger Zeit dafür rekrutiert hatte, erschien es ihm wie ein Glücksfall. Schnelles, leicht verdientes Geld, beinahe risikofrei. Er wusste zwar nicht, wer sich hinter den seltsamen Gestalten verbarg, die ihm sagten, wann er was zu transportieren hatte, aber solange der Profit in Ordnung war, interessierte es ihn nicht.
Und er war skrupellos. Diesen Ruf hatte er sich in den Spielhöllen und Bordellen in Dublin und Belfast erworben. Er war schnell mit Krediten bei der Hand, aber genauso schnell trieb er sie wieder ein. Es spielte für ihn keine Rolle, wie sie bezahlt wurden. So manche Tochter war auf diese Weise durch ihren Vater in eines seiner Bordelle geraten, so mancher Mann musste sich auf seinem Schiff im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode schuften. James Berkley sorgte dafür, dass sie immer weiter und immer tiefer in die Abhängigkeit gerieten, aus der es kein Entkommen gab. Vor allem während der Hungersnot hatte er gute Geschäfte gemacht. Die war zwar vorbei, aber durch seine neuen Auftraggeber waren seine Einkünfte sogar noch gestiegen. Gelegentlich musste ein Exempel statuiert werden. Meist geschah es dergestalt, dass alle wussten, von wem es kam, aber niemand auch nur ein Wort darüber fallen ließ aus Angst, er könnte der nächste sein, den man mit ausgestochenen Augen, herausgeschnittener Zunge oder anderen Verletzungen, die in der Summe zum Tode führten, irgendwo fand. Bei Frank allerdings hatte er sich dafür entschieden, ihn einfach verschwinden zu lassen. Es gab niemanden, der dem kleinen Gauner nahe stand. Und der Trupp, mit dem er von Howth aus operierte, war absolut zuverlässig. Das hatte Charles Smith bewiesen, als er ihm darüber berichtet hatte, dass Frank womöglich auspacken wollte.
»Dieser Narr. Hoffentlich mögen ihn die Fische«, grinste der Reeder. Ein Klopfen ließ ihn aufschrecken. »Herein«, brummte er.
Sally, eines der Mädchen, die er beschäftigte, öffnete schüchtern die Tür. Sie war klein und zierlich, gerade mal fünfzehn Jahre alt, aber mit dem Gesicht einer Frau, die alle Höllen der Erde erlebt hatte. Und ihr persönlicher Teufel saß auf der anderen Seite des Schreibtisches, zu dem sie trat. Auch ihr Vater war ihm in die Falle gegangen und nun musste das Kind die Schulden bei ihm abarbeiten, was ihr niemals gelingen würde. Bald schon musste er sie ersetzen, das wurde ihm klar, als er sie sah. Aber für ein Bordell am anderen Ende der Welt würde sie noch genügen.
»Entschuldigen Sie, aber das wurde gerade durch einen Boten abgegeben«, flüsterte sie und reichte ihm einen Briefumschlag, auf dem nur ›Berkley‹ stand.
John grinste böse.
»Gut, Sally. Und jetzt ab mit dir und mach dich ordentlich sauber.«
Das Mädchen zuckte zusammen. Sie wusste, was das hieß, und auch, dass Widerworte oder eine Weigerung nur Schlimmeres nach sich ziehen würden. Sie knickste und verschwand. John riss den Umschlag auf, zog einen Zettel hervor, las ihn und brüllte auf vor Wut.
»VERDAMMT!!«
Er knüllte den Zettel zusammen, wuchtete sich hoch, raste aus dem Büro, griff sich seinen Mantel und seinen Hut und eilte zur Tür.
»Ich muss weg!«, rief er noch Sally zu, die ihn entgeistert ansah. »Aber das holen wir nach!«
Schon war er aus der Tür. Dass er dabei den Zettel verlor, bekam er nicht mit. Sally hob ihn auf, strich ihn glatt und versuchte, ihn zu entziffern, was ihr nicht leicht fiel. Sie konnte nur wenig lesen und schreiben.
»Sofort zum Treffpunkt«, entzifferte sie. »Ärger mit der Ladung, teilweise verdorben.«
Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber sie ahnte, dass ihr Herr mehr als schlecht gelaunt sein würde, wenn er wieder nach Hause käme.
Howth
In gemütlichem Tempo rollte die kleine Kutsche den hügeligen Weg entlang. Horatio lenkte das Pferd, ließ aber Sarah nicht aus den Augen. Andrew hatte ihn förmlich dazu gezwungen, eine Ausfahrt mit seiner Geliebten zu machen, aber sie schien sich nicht recht daran freuen zu können, sprach nicht und starrte gedankenverloren in die Ferne.
»Woran denkst du?«
Sarah zuckte zusammen, als habe Horatio sie aus dem Schlaf gerissen. Ein wenig verwirrt sah sie ihn an, winkte ab.
»Ach … nichts.«
»Sarah!«
Sein Seufzen sprach Bände.
»Ich kenne dich gut und lange genug, um zu wissen, dass du nie an nichts denkst! Schon gar nicht, wenn du so schweigsam bist!«
Sie musste unwillkürlich lächeln.
»Du hast Recht. Ich denke ans Heim. An diesen Besuchstag. Ich weiß einfach nicht, ob ich das gut oder schrecklich finden soll, Horatio! Stell dir das doch vor! Die Mädchen sitzen in diesem trostlosen Bau und warten, ob vielleicht jemand von ihrer Familie kommt und sie mit zurück nach Hause nimmt. Oder ob irgendein reicher Gönner sie dort herausholt und ihnen Arbeit gibt. Oder Gott weiß was mit ihnen macht. Da ginge es ihnen im Heim vielleicht noch besser! Sie sitzen dort und werden begafft wie Zootiere! Ein Albtraum!«
Ihre eigenen Albträume erwähnte sie nicht. Sarah wusste, dass ihr Vater und Margret sich schon genug Sorgen machten, weil sie bleich war, erschöpft, übernächtigt. Die Träume waren schlimmer geworden, kamen mittlerweile fast jede Nacht. Entweder besuchte Isabella sie, winkte Sarah, mitzukommen, damit sie ihr etwas zeigen konnte, oder Babygeschrei holte sie aus dem Bett.
Mehr als einmal war Sarah in einem anderen Raum des Gutshauses als ihrem eigenen Zimmer aufgewacht, aber immer war es still, wenn der Traum endete. Sie hörte kein Baby mehr, wenn sie wach war. Das machte es allerdings nicht weniger beängstigend! Sie hatte nie zu Albträumen geneigt, nicht einmal, nachdem sie in London die Prostituierten getötet hatte. Auch von Ruth hatte sie nicht ein einziges Mal geträumt. Aber eine Frau, die sie nie im Leben getroffen hatte, suchte sie in der Nacht heim. Es musste irgendetwas bedeuten! Etwas war faul, und ihr Unterbewusstsein versuchte, ihr auf diese nervenzerreißende Art und Weise mitzuteilen, was es war!
»Da kommen sie!«
Horatios Stimme klang düster, und Sarah schreckte erneut aus ihren Gedanken. Sie wusste gleich, was er meinte - eine lange Reihe von Kutschen rollte den Weg zum Heim hinauf. Die Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, damit man nicht hineinschauen konnte. Sarah verzog angeekelt das Gesicht. Die Familien der Mädchen schämten sich so für sie, dass sie nicht gesehen werden wollten. Es war widerlich. Immer mehr Kutschen kamen an, fuhren durch das Tor und verschwanden im Innenhof. Sarah hatte nicht gedacht, dass der Besuchstag so stark frequentiert sein würde.
Horatio legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Lass uns heimfahren.«
Die junge Frau schüttelte ihre rote Mähne.
»Noch nicht. Elsie hat mich heute Morgen gebeten, nach ihrer Mutter zu sehen, und das werde ich tun. Fahr mich zum Doherty-Hof.«
Gutshof
Andrew kämpfte sich wieder einmal durch die Unterlagen, die sein Onkel hinterlassen hatte. Die Arbeit war unverändert mühsam, aber heute konnte er sich noch weniger als die Male zuvor darauf konzentrieren.
Der Anblick Sarahs beim Frühstück ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er erkannte sie kaum noch als seine Tochter! Seine Sarah war stets fröhlich, voller Tatendrang und Energie. Das Mädchen auf der anderen Seite des Tisches war totenbleich gewesen, mit tiefen Ringen unter den Augen, völlig erschöpft und übermüdet und ohne jeden Elan. Er hatte sie schon einmal so erlebt - damals, als sie geglaubt hatte, Horatio hätte sich umgebracht.
Andrew wusste, dass die Situation der Frauen im Magdalenenheim und die Tatsache, dass sie sich immer noch nicht zu Horatio bekennen durfte, Sarah schwer zu schaffen machte, aber dass es sie derartig auslaugte, das konnte der Arzt sich nur schwer vorstellen. Sie war schon vorher mit widrigsten Umständen konfrontiert worden, und hatte immer mit Leidenschaft versucht, Probleme zu lösen statt an ihnen zu verzweifeln. Was war diesmal anders?
Ein Räuspern schreckte Andrew aus seinen Gedanken, und er hob den Kopf. Ronald Murray stand im Türrahmen und drehte seine Mütze in den Händen. Ein Anblick, den Andrew mittlerweile schon kannte. Es bedeutete, dass der Verwalter ein Gespräch mit ihm führen wollte, das ihm unangenehm war.
»Dr. O’Leary, kann ich Sie einen Moment sprechen?«
Andrew schob den Papierstapel, durch den er sich gerade grub, beiseite.
»Natürlich, Mr. Murray. Kommen Sie herein.«
Der Verwalter gehorchte und schloss die Tür hinter sich. Das nun verwunderte Andrew. Bei vergangenen Gesprächen hatte Murray die Tür stets offengelassen, als ob er sichergehen wollte, bei Bedarf schnell flüchten zu können.
Auch der Aufforderung, sich zu setzen, kam der Mann nach, schien dann erst einmal nicht zu wissen, wie er beginnen sollte. Schließlich sah er Andrew in die Augen.
»Dr. O’Leary, es gibt da etwas, das Sie wissen müssen. Im Dorf spricht man nicht darüber, aber die Leute dort sehen auch nicht, was ich sehe! Wenn man noch etwas retten kann, dann nur, wenn Sie Bescheid wissen!«
Andrew runzelte die Stirn.
»Was reden Sie da, Mr. Murray? Bitte, keine mysteriösen Andeutungen! Kommen Sie zum Punkt!«
Wieder begann der Verwalter, seine Mütze zu drehen.
»Die Albträume Ihrer Tochter, Sir. Ihr Schlafwandeln. Dass sie glaubt, Babygeschrei zu hören. Das ist schon einmal vorgekommen. Isabella hat sich ganz genauso verhalten! Und dann hat sie sich von der Klippe gestürzt!«
Andrew glaubte, sich verhört zu haben.
»Wie bitte? Man hat mir gesagt, es sei ein Unfall gewesen!«
»Dieses Dorf ist voll von Katholiken, was glauben Sie denn?«, schnarrte Murray. »Wenn auch nur der Hauch eines Verdachts laut geworden wäre, dass sie sich umgebracht hat, hätte sie nicht einmal in geweihter Erde bestattet werden können, vom Skandal ganz zu schweigen! Der alte O’Leary hat jedem mit ernsten Konsequenzen gedroht, der das Wort Selbstmord auch nur dachte! Aber es war kein Unfall! Ein paar Fischer haben sie stürzen sehen, und an dieser Stelle gibt es keinen Pfad. Es gab keinen Grund für sie, dort zu sein! Und jetzt verhält Sarah sich genauso wie sie!«
»Unsinn!« Ärgerlich winkte Andrew ab. »Sarah bedrückt einfach nur die Situation im Magdalenenheim, das ist alles! Sie steht unter großem Stress, darum hat sie Albträume, aber sie wandelt nicht Schlaf! Und das Babygeschrei … ich vermute, es ist die Art, wie der Wind ums Haus heult. Das kann schon einmal täuschen!«
»So, meinen Sie!« Ronald Murray verzog das Gesicht zu einem freudlosen Grinsen und erhob sich. »Legen Sie sich doch nachts einmal auf die Lauer, dann werden Sie schnell sehen, wie Ihre Tochter nicht schlafwandelt! Wenn Sie die Augen vor den Tatsachen verschließen wollen, dann tun Sie das. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Ich bin kein Fachmann für sowas, der Arzt sind Sie, aber ist es nicht richtig, dass es Wahnvorstellungen gibt, bei denen Babygeschrei gehört wird? Ich bin nicht der Einzige, der denkt, dass Sarah Isabella sehr ähnlich sieht! Die Familienähnlichkeit ist verblüffend!«
Murray wartete nicht, ob Andrew noch etwas zu erwidern hatte, verließ den Raum. Er hätte auch lange warten müssen. Minutenlang starrte der Arzt auf die geschlossene Tür, nicht in der Lage, etwas zu sagen oder auch nur den kleinen Finger zu rühren.