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Münster, September 1533

Anna klopfte das Herz bis zum Hals. Heute musste sie sich ganz allein auf den Weg in die Stadt machen, und diesmal wollte sie alles, nur nicht auffallen.

Sie trug ein helles, leichtes Leinenkleid, hochgeschlossen bis hinauf zum Hals, die langen roten Haare versteckte sie züchtig unter einem Tuch. Die paar Strähnen, die sich darunter hervorgestohlen hatten, waren stumpf und staubig. Tatsächlich hatte Anna sich, nachdem sie ihre Verkleidung angelegt hatte, in einer staubigen Ecke gewälzt, damit es so aussah, als sei sie schon seit längerem unterwegs.

Ihr Plan ging auf. In der Masse der Reisenden, die auf Münster zustrebten, achtete niemand auf sie, der Strom der Menschen spülte sie einfach an den Stadtwachen vorbei durchs Tor. Während einige Männer angehalten und nach ihrem Begehr in der Stadt gefragt wurden, streiften die Soldaten Annas junges, schmutziges Gesicht nur mit einem kurzen Blick und ließen sie passieren.

In der Stadt zerstreuten sich die Massen ein wenig, strebten in verschiedene Gassen davon, aber es achtete immer noch niemand auf Anna, als sie weiterging.

Ihre Befürchtung, man könne sie wegen des Auftritts vor zwei Tagen wiedererkennen, erwies sich als vollkommen unbegründet. In ihrem farblosen Kleid sah sie aus wie alle anderen auch.

Einen erleichterten Seufzer unterdrückend schritt Anna beherzt aus, dem Prinzipalmarkt entgegen. Wenn sie in der Stadt Fuß fassen wollte, erfahren wollte, was vor sich ging, brauchte sie als erstes Arbeit, und zwar nicht irgendwo!

Sie hatte die ganze Nacht mit Markus geredet und Pläne geschmiedet, ihn von der Stadt, in der er schon seit Wochen immer wieder Patrouille ging, erzählen lassen, hatte alle Informationen, die er ihr hatte geben können aufgesaugt wie ein Schwamm.

Sie fühlte sich gut vorbereitet und wusste, was sie tun musste. Aber zu ihrem Plan gehörte leider nicht nur Vorbereitung, sondern auch eine gehörige Portion Glück!

Den Prinzipalmarkt zu finden war ein Kinderspiel. Auch dort summte es von Menschen, Händler verkauften ihre geschmuggelten Waren im Schatten des St.-Paulus-Doms, Kinder lachten, Frauen zankten. Der Platz war das pulsierende Herz der Stadt.

Anna ließ die Blicke schweifen, entdeckte das mehrstöckige, reich verzierte Rathaus mit seinem Bogengang, der sich an den übrigen Gebäuden, die den Markt einschlossen, fortsetzte. Drei Gebäude weiter entdeckte die Rothaarige, wonach sie gesucht hatte. Ein schmiedeeisernes Schild mit einem Krug zierte die Taverne ›Zum Krug‹. Markus hatte berichtet, dass es das teuerste Gasthaus in der Stadt war. Zu teuer für Handwerker, Händler und Reisende. Hier verkehrten die Ratsherren und Patrizier, die reichen Kaufleute und der Adel.

Hier wurde nach Ratssitzungen und Abstimmungen hitzig weiterdiskutiert, hier wurden die tatsächlichen Entscheidungen in Münster getroffen.

Genau der richtige Ort für Annas Vorhaben!

Flink überquerte sie den Marktplatz, wollte gerade nach dem Türgriff der Taverne greifen, als der Eingang mit einem lauten Poltern aufflog und eine blonde Frau mittleren Alters hindurchtaumelte, das Gleichgewicht verlor und stürzte.

»VERSCHWINDE HIER, DU HURE, UND LASS DICH NICHT MEHR BLICKEN! DAS IST EIN ORDENTLICHES HAUS«, brüllte ihr eine wütende Männerstimme hinterher.

Die so gedemütigte Frau erhob sich ächzend und fluchend, klopfte den Staub von ihrer Kleidung und richtete ihr Mieder, das ihren üppigen Busen ein wenig zu weit nach oben schob.

»Blöder Hund, blöder«, hörte Anna sie schimpfen. »Soll nur mal sehen, ob er eine andere findet, die ihm für so wenig Geld die ganze Arbeit allein schafft … braucht er sich doch nicht wundern, wenn ich mir ein Zubrot verdiene …«

Wütend stapfte die Frau davon. Anna wusste, dass es keine bessere Gelegenheit als diese mehr geben würde und betrat die Gaststube des ›Kruges‹. Es war eindeutig, dass dieser keine Spelunke war. Buntglasfenster ließen warmes Licht in den blitzsauberen Raum, statt dem üblichen strohbedeckten Sandboden gab es hölzernes Parkett, das wie die Tische blank poliert worden war.

Ein vornehm gekleideter Mann erhob sich von seinem Tisch und setzte seinen Hut auf.

»Das Frühstück war wie immer hervorragend! Und endlich seid ihr dieses schreckliche Weib losgeworden! Die drängte sich ja auf, man konnte kaum in Frieden essen!«

Der Wirt, ein hochgewachsener, drahtiger Mann, der den Mangel an Haaren auf seinem Kopf mit einem prächtigen, bereits ergrauten Bart wettmachte, der ihm fast bis zum Bauch hinunterreichte, stand am Tresen und wischte Gläser trocken. Er brummte unwirsch.

»Fragt sich nur, wo ich so schnell Ersatz herbekomme!«

Der Gast lachte und ging zur Tür.

»Dir wird schon etwas einfallen, Thomas. Gehab dich wohl!«

Anna trat zwangsläufig zur Seite, um den Mann nach draußen zu lassen, und fiel erst jetzt dem Wirt auf. Er zog die buschigen Brauen zusammen, musterte ihre staubige Kleidung.

»Wir geben nichts!«

Die guten Christen, musste Anna unwillkürlich denken, ließ den Gedanken jedoch nicht den Weg auf ihr Gesicht finden. Schüchtern trat sie näher, schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, Herr, ich will keine Almosen! Ich suche Arbeit!«

»Arbeit? Hier?« Erstaunt ließ der Wirt sein Bierglas sinken. »Du bist so ein dürrer Stecken, was willst du hier denn schon machen?«

Entrüstet stemmte Anna die Hände auf die Hüften.

»Dürrer Stecken? Ich kann arbeiten wie ein Pferd! Was mir an Kraft zum Heben fehlt, mache ich durch Schnelligkeit wett. So schnell wie ich bin, habt Ihr noch keine Schankmaid gesehen. Ich kann vielleicht kein Fass aus dem Keller holen, aber ich kann einschenken und bedienen, kochen und putzen und waschen. Und ich kann zwar nicht lesen und schreiben, aber rechnen!«

Ein ungläubiges Lachen hallte durch den Raum, und der Wirt stellte sein Bierglas auf den Tresen.

»Rechnen? Du? Ein Mädchen? Dazu eins, das aussieht, als sei es in der Gosse groß geworden?«

Tatsächlich war es ungewöhnlich, dass eine Frau rechnen konnte. Aber Silvanus war kein normaler Mann, und Rechnen war das Erste, was er seinen Huren beibrachte, damit sie nicht von den Freiern übers Ohr gehauen wurden. Mit hochgerecktem Kinn kam Anna näher.

»Ich kann es Euch beweisen! Ihr sagt mir, wie viel Eure Getränke kosten und lasst mich eine beliebige Bestellung zusammenrechnen. Wenn ich es richtig mache, stellt Ihr mich dann ein?«

Der Bärtige lachte schallend.

»Wenn du es richtig machst, stelle ich dich nicht nur ein, du darfst auch noch umsonst bei uns essen und wohnen UND ich kaufe dir ein Kleid zum Bedienen! Mathilda, komm raus, das musst du sehen!«

Eine dunkelhaarige Frau mit gewaltigen Formen, die von ihrem Kleid kaum gebändigt werden konnten, kam aus der Küche, wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab.

»Was muss ich sehen, Thomas?« Sie entdeckte Anna, und ihre Miene verfinsterte sich. »Schon wieder eine Bettlerin?«

Thomas lachte.

»Die Kleine will hier als Schankmaid arbeiten. Sie sagt, sie kann rechnen!«

Nun lachte das Wirtspaar gemeinsam, bis Anna mit der Hand auf den Tresen klopfte.

»Jetzt macht schon! Lachen könnt ihr noch, wenn ich mich verrechnet habe!«

Thomas sah sie lauernd an.

»Also gut, Mädchen!«

Der Wirt des ›Kruges‹ beugte sich auf Anna zu und ratterte eine Getränkeliste herunter, gab dann eine gemischte Liste von Wein und Bier an und schob der Rothaarigen eine Tafel und einen Griffel zu, aber sie nahm ihn gar nicht.

Die Augen zur Decke gerichtet, murmelte sie gedämpft ein paar Zahlen vor sich hin und nannte dann dem Wirt mit herausforderndem Blick die Summe.

Thomas fiel die Kinnlade herunter, und es war so still im Raum, dass man aus der Küche etwas in der Pfanne brutzeln hören konnte.

Schließlich brach Mathilda das Schweigen.

»Was is nu, Thomas? Hat sie´s?«

»Hol mich doch der Teufel, sie kann rechnen«, japste der Wirt. »Und das, ohne eine einzige Zahl aufzuschreiben!«

Mathilda schürzte die Lippen und griff Anna am Arm. Wieder einmal wünschte sie sich, ihr Mann würde den Mund nicht immer gleich so voll nehmen!

»Komm mit. Ich zeig dir dein Zimmer! Aber in unserem Haus wird nicht gehurt!«

Gewalt des Glaubens: Kampf um die Freiheit

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