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Unfreiwillige Endstation Föhr
ОглавлениеIn Sanitz erfuhren wir auch, dass mein Cousin Waldemar (* 25. März 1925), der als Soldat verwundet worden war, nach seinem Lazarettaufenthalt in Bark, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bad Segeberg (Schleswig-Holstein), bei einem Bauern untergekommen war. Das war wieder einmal eine gute Nachricht. Im Rahmen der Familienzusammenführung bot sich nun die Chance, die russische Zone zu verlassen. Bald schon wurde ein Zug bereitgestellt, der außer uns noch viele Familien westwärts befördern sollte. Es war zwar nicht Bad Segeberg, das wir erreichten, vielmehr befanden wir uns letztendlich an der Nordseeküste. In der Nähe von Lübeck gab es einen Zwischenstopp. Alle mussten den Zug verlassen und sich in den halbrunden Wellblechbaracken, den so genannten Nissenhütten, einer gründlichen Entlausung unterziehen. Dick eingestaubt mit dem weißen Pulver durften wir den Zug wieder besteigen, der nun Richtung Niebüll dampfte. Wo immer auch dieser für uns unbekannte Ort liegen mochte! Dort angekommen hieß es: »Alle in die Kleinbahn umsteigen!« War das eine Aufregung! Ohne zu wissen, wo es nun hinging, befolgten alle den Umsteigebefehl. Nach kurzer Zeit war Dagebüll erreicht. Das war aber immer noch nicht das Ziel, denn nun lautete der Befehl: »Alle aussteigen, gleich geht’s mit dem Schiff weiter!« Und das mit uns Landratten! In aller Eile wurde auch dieser Befehl befolgt, denn keiner wollte irgendwo zurückbleiben. Als das Schiff schon von der Mole abgelegt hatte und sich auf der Nordsee in Richtung Insel Föhr bewegte, stellten wir fest, dass wir den Marmeladeneimer mit den letzten Habseligkeiten in der Kleinbahn vergessen hatten. Am 24. (oder 25.) Januar 1946 erreichten wir Wyk auf Föhr: Wir hatten nur das, was wir am Leib trugen, doch wir hatten immerhin unser Leben gerettet.
In Wyk wurden wir am Südstrand bei einem schon sehr alten Ehepaar einquartiert. Sie waren Eigentümer eines großen Kolonialwaren-Geschäfts in der Osterstraße. Außer uns waren hier schon andere Flüchtlingsfamilien untergebracht worden, so dass für uns nur noch eine kleine Abstellkammer unter dem Dach übrig blieb. Sie hatte kein Fenster, dafür aber eine kleine Luke. Das wenige einfallende Licht zeigte uns aber immerhin an, ob es Tag oder Nacht war. Die markanteste Erinnerung aus dieser Zeit war für mich der nicht enden wollende Hunger. Anfangs wurde für die Flüchtlinge im Kurhaus Suppe gekocht. Diese Bezeichnung war fast übertrieben, denn wir konnten von Glück reden, wenn wir in unserer Kelle ein Kartoffelstückchen erwischten, von Fett ganz zu schweigen. Meine Tante sagte manchmal lachend: »Zwei Augen schauen in die Suppe und eines schaut heraus.« Mit dem einen herausschauenden Auge war das kleine Fettauge in der Suppe gemeint. Nach dem langen Rückweg war die Suppe schon wieder vergessen, und der Magen meldete sich aufs Neue.
Werner Gitt als 9-Jähriger, 1946.
In Wyk begann für mich nach langer Zeit auch wieder der Schulunterricht. Zwecks Einstufung in die richtige Klasse musste ich einen Text lesen. Nach über einem Jahr »Zwangsferien« fiel dieser Test nicht gerade überzeugend aus, und so musste ich als Neunjähriger noch einmal mit den ABC-Schützen durchstarten. Diesen Rückschritt konnte ich später jedoch bequem wettmachen.
Seit Februar 1945 galt ich als Vollwaise. Meine Mutter war verschleppt worden; die letzte Nachricht von Vater lag bereits einige Jahre zurück. So wurde die Vermutung, dass Vater im Krieg umgekommen sei, immer stärker. Doch dann geschah etwas schier Unglaubliches. Meine Tante erhielt von einem entfernten Verwandten aus Bochum einen außergewöhnlichen Brief. Wie es dazu kam, sehe ich als ein Wunder an.
Nach Kriegsende kam mein Vater in französische Gefangenschaft, und er wusste nichts von dem Schicksal seiner Familie. Es wurde den Gefangenen gewährt, pro Monat einen Brief nach Deutschland zu schreiben. Dafür gab es einen formularartigen Papierbogen mit wenigen vorgegebenen Zeilen; der Inhalt wurde stets kontrolliert. Da nahezu alle unsere Verwandten in Ostpreußen wohnten, schrieb mein Vater immer wieder dorthin. Als er aber nie eine Antwort erhielt und auch nicht wusste, wo wir uns inzwischen befanden, stellte er das Schreiben ein. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein, von niemandem etwas zu hören! Es gab für ihn zwei Vermutungen über den Verbleib seiner Familie: Entweder war sie in Ostpreußen durch die Rote Armee umgekommen, oder sie konnte noch rechtzeitig flüchten und befand sich irgendwo im Westen. Wo aber mochten seine Lieben sein, wenn das Letztere zutraf?
Eines Nachts hatte Vater im Lager einen Traum: Er traf darin einen weit entfernten Verwandten, der schon etliche Jahre vor dem Krieg im Rheinland wohnte. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen, und als sie sich nach ihrem Wiedersehen verabschiedeten, lud der Verwandte meinen Vater ein mit den Worten: »Hermann, besuch mich doch mal!« Mein Vater sagte im Traum zu und stellte noch die entscheidende Frage: »Aber wo wohnst du denn? Ich kenne doch deine Anschrift nicht.« Der Verwandte erklärte ihm deutlich: »Bochum, Dorstener Str. 134a.« Da wachte mein Vater auf, zündete in der Nacht ein Licht an und schrieb die soeben im Traum erfahrene Adresse auf. Den wach gewordenen Kameraden im Schlafsaal erzählte er die sonderbare Traumgeschichte. Sie verlachten ihn, weil er sie ernst nahm und sogar beteuerte, dass er gleich am folgenden Tag dorthin schreiben wollte. Welch eine Überraschung! Bald traf der Antwortbrief ein, der die geträumte Adresse als exakt richtig bestätigte. Über diesen entfernten Onkel kam der Kontakt zu meiner Tante Lina nach Wyk auf Föhr zustande. Nun erfuhr mein Vater Schreckliches: Fast die ganze Familie war umgekommen; nur der kleine Werner war übrig geblieben. Bei allem schwer zu Verarbeitenden war dennoch auch Freude dabei. Der Jüngste von allen lebte.
Die Nachricht, dass mein Vater am Leben war, machte mich überglücklich. Ich weiß heute noch, wie ich draußen vor Freude gehüpft bin. Ich konnte es zunächst gar nicht fassen, dass ich nicht mehr Waise war, sondern einen Vater hatte. Nach allem Elend eine Freudenbotschaft: Ich bin nicht der einzige Überlebende. Ich habe einen Vater, zu dem ich gehöre. Nun hatte mein Leben eine ungeahnte Wende erfahren. Es gab wieder eine Perspektive.
Als Vater im Frühjahr 1947 aus französischer Gefangenschaft entlassen wurde, lautete seine Zieladresse Gut Wensin (Kreis Bad Segeberg). Seinem älteren Bruder Fritz war es gelungen, mit Pferd und Wagen von Ostpreußen bis zu diesem Ort in Schleswig-Holstein zu flüchten. Kurz darauf kam er nach Föhr, um mich abzuholen. Offensichtlich wussten wir nicht seine Ankunftszeit, sonst wäre ich schon Stunden vorher am Schiffsanleger gewesen. Unvergesslich ist mir unsere erste Begegnung im Treppenhaus. Ich lief gerade »zufällig« nach oben, da sprach mich Vater an, ohne mich jedoch zu erkennen: »Sag mal, wohnt hier die Frau Riek?« Ich hatte ihn sofort wiedererkannt, ging aber gar nicht auf seine Frage ein, sondern fragte ihn auf Platt: »Papa, kennst mi nich?« So lange hatten wir uns nicht gesehen, dass er mich nicht wiedererkannte. Welch unbeschreibliche Freude, nach so langer Trennung von einem liebenden Vater umarmt zu werden.
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Während ich diesen Text sehr lange nach all diesen Ereignissen niederschreibe, wird mir so recht bewusst, dass ich oft in Todesgefahr gewesen bin – und Gott hat mich bewahrt und geschützt. Ich staune und danke meinem Herrn für alles Durchtragen und für das Geleit im Leben. Die dritte Strophe von »Lobe den Herren« bewegt mich immer wieder zutiefst, und ich kann sie von ganzem Herzen mitsingen:
Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet; in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.
Die Rückkehr meines Vaters war das größte Geschenk nach all den schrecklichen Kriegsereignissen. Er hat noch einmal geheiratet, so dass ich wieder ein familiäres Zuhause hatte. Meinem Vater und der mir ebenfalls sehr zugetanen Stiefmutter habe ich es zu verdanken, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Den weiteren Verlauf meines Lebens habe ich in dem Buch »Fragen, die immer wieder gestellt werden«16 geschildert, so dass ich meinen Bericht hier an dieser Stelle beende.