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Kapitel I A. D. 194, Dezember Der Gefangene

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Es war dunkel und jegliches Gefühl für Zeit war Cumail längst verloren gegangen. Zu Beginn seiner Gefangenschaft hatte er noch versucht, die Tage mittels in die Wand geritzter Striche zu zählen. Aber seine Kerkermeister nahmen ihm alles weg, was dazu dienlich sein konnte, kaum dass sie Cumails Markierungen entdeckten. Auch die Abstände, in denen man ihm Wasser und Dinge brachte, die er essen sollte - zu Beginn seines Aufenthaltes aber nicht hinunterbrachte -, halfen ihm nicht, die verstrichene Zeit zu messen. Mit perfidem Vergnügen kamen seine Wächter zu den unterschiedlichsten Zeiten und warfen ihm das Essen vor die Füße. Mittlerweile aß er auch das, was er auf Ynys Môn niemals über die Lippen gebracht hätte. Trotzdem litt er ständig Hunger. Lediglich den Krug mit Wasser stellten sie ab. Widerwillig wie ihm schien. Mehr als einmal stieß einer der Wächter ganz zufällig dagegen und er musste zu dem Krug eilen, um wenigstens den Rest zu retten, der sich noch darin befand.

Cumail verfluchte sich, dass er so dumm gewesen war zu glauben, er könne aus dem Sohn der Königin einen anständigen Picten machen. Ein wenig tröstete ihn der Gedanke, dass er nicht der einzige Druide war, der sich etwas vorgemacht hatte. Jahrelang hatte er mit bewundernswerter Geduld die ständigen Obszönitäten ignoriert, die ihm sein Schüler an den Kopf geworfen hatte. Auf Beleidigungen antwortete er mit Wissen, höhnisches Gelächter erwiderte er mit leiser, betonter Stimme und bösartiges Grinsen vergalt er mit freundlichen Worten. In all den Stunden seiner Lehrtätigkeit war er immer zu der Einsicht gelangt, dass sein Schüler jedes seiner Worte aufsog wie trockener Boden die lang ersehnten Regentropfen. Das Gesicht seines Schülers mochte bei aller äußerlichen Schönheit noch so abstoßend verzerrt gewesen sein, die Augen jedoch ließen eine unendliche Neugier und permanente Wachsamkeit erkennen, die ihn erfreute und erschreckten zugleich.

In Diskussionen mit Yan mac Ruith und Púca wurde lange darüber debattiert, wo sie die Grenze ziehen sollten zwischen dem Wissen, dass sie Brannon mac Ruith, ihrem Schutzbefohlenen, angedeihen lassen wollten und dem Wissen, dass er nie erfahren durfte. In vielen Details waren sie sich uneins gewesen und stets hatte am Ende Yan mac Ruith, der Vaterbruder Brannons, entschieden. Doch in einem Punkt waren sich alle Druiden einig gewesen:

Brannon mac Ruith durfte niemals erfahren, dass sein Vater ein Druide gewesen war und seine Mutter die aktuelle Königin aller Cruithin.

Und kein einziges Wort über die Tafel.

Niemand von ihnen ahnte damals, dass er dieses Wissen längst besaß.

Cumail wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, als man ihn wieder einmal aus dem Schlaf riss, mit harten Griffen auf die Beine half und ihm die Augen verband. Sie kamen immer zu dritt und er fühlte sich durch diese Zahl tatsächlich geschmeichelt. Zeigte es ihm doch, dass sie es immer noch für nötig befanden, einem alten Druiden wenigstens drei ausgewachsene Krieger gegenüberzustellen. Natürlich war er längst so abgemagert und entkräftet, dass auch ein einziger Krieger vollauf genügt hätte, um ihn zu bändigen.

Er lachte bei diesem Gedanken auf und dachte an die Zeiten zurück, als die zehnfache Menge an Kriegern nicht ausgereicht hätte, um ihn und seine Kräfte auszuschalten. Doch die miserable Ernährung, die ständige Kälte, der Hunger und nicht zuletzt die Folterungen machten aus ihm ein wandelndes Skelett. Der unregelmäßige Schlaf, ständig unterbrochen und die fast permanente Dunkelheit zehrten an seinen inneren Kräften und verweigerten ihm jedweden Zugriff auf druidisches Wissen und die dafür zwingend notwendige Konzentration. Er fühlte sich wie ein leerer Eimer, der sich daran erinnerte, wie es einmal war, mit frischem Wasser bis an den Rand gefüllt zu sein. Im Grunde sehnte er sich längst nach dem Tod. Seine lang gehegte Ahnung wurde von Tag zu Tag stärker, dass es ein Gnadenakt wäre, würde er einfach an Entkräftung sterben und zu Boden stürzen. Doch genauso ahnte er, dass ihm diese Gnade vorenthalten bleiben würde.

Wie sehr habe ich versagt?, dachte er und nahm den Schlag des Wärters hin, der sein Auflachen missverstand.

»Halt´s Maul, alter Sack!«

Er kannte längst den Weg zu der Kammer, in der ihn Brannon verhören würde. Oder auch Alain, dessen Sklave. Mit Schock und allergrößter Bitterkeit hatte Cumail reagiert, als er in einer der Stimmen seiner Bewacher die des Sohnes von Fionnghal mac Carnonacae, des Fürsten des Bärenclans, erkannt hatte. Er fragte sich ununterbrochen, wie es Brannon geschafft hatte, aus diesem Bär von einem Mann einen gehorsamen Schoßhund zu machen. Es erschreckte ihn, dass ein Mann, nein, im Grunde ein Kind - ohne jegliche druidische Ausbildung - sich eines ausgewachsenen Pictenkriegers bemächtigen konnte.

Seine Gedanken wurden von der Erkenntnis unterbrochen, dass sie nicht den üblichen Weg nahmen. Anstelle zwei Mal links, dann geradeaus und anschließend rechts abzubiegen, waren sie nur einmal links, dann geradeaus und wieder links gelaufen. Er erhielt mit einem erneuten unerwarteten Richtungswechsel die Bestätigung, dass sie tatsächlich nicht den üblichen Verhörraum zum Ziel hatten, als ihm klar wurde, was das bedeuten konnte.

Heute werde ich sterben.

Ein Teil von ihm erschrak. Die Furcht vor Schmerzen schwappte an die Oberfläche seines Bewusstseins, sodass er strauchelte und ihm die Gänsehaut aufsteigen ließ. Ein anderer Teil begrüßte sein kommendes Ende mit Erleichterung.

»Reiß dich zusammen!«, fuhr ihn einer der Männer an und schlug ihm die Faust in den Rücken. Er torkelte blind durch den Gang und musste sich mit den Händen an den rauen Wänden abfangen. Schon einmal hatte er versäumt, sich vor den nur sehr grob behauenen Steinen zu schützen und sich das Gesicht daran aufgerissen. Die Wunde hatte lange geblutet, blieb natürlich unbehandelt und war sogar jetzt noch nicht richtig verheilt.

Wahrscheinlich bleibt mir nicht mehr die Zeit, dass sie sich wieder schließt, dachte er und wurde von einem anderen Mann am Genick gepackt und nach vorn gestoßen.

»Bleib dort stehen!«

Er befolgte den Befehl und hörte mit einem dumpfen Schlag eine offensichtlich massive Tür hinter sich zufallen. Die Schritte seiner Eskorte entfernten sich und Cumail stand ein wenig zittrig in einem kalten Raum. Zumindest vermutete er, dass es ein Raum war, denn die Geräusche seiner Bewegungen wurden von nahestehenden Wänden zurückgeworfen. Er hatte schon immer ein ausgezeichnetes Gehör besessen.

Eine kleine Zelle ...

Als einige Zeit nichts geschah, wagte er es, eine Hand an die Binde zu heben, die man ihm über die Augen gebunden hatte. Fast zögerlich berührte er das dreckige Gewebe.

»Nur zu, Cumail«, drang die Stimme Brannon mac Ruiths plötzlich auf. Cumail hasste diesen süßlichen Ton.

Glaubt er, mich damit einlullen zu können?, dachte er und schob den einfachen aber dicht gewebten Stoff von den Augen. Doch es blieb dunkel. Er ließ die Binde einfach fallen und hob den Kopf. Konnte es sein, dass die Stimme seines obersten Wärters ein wenig von oberhalb gekommen war? Cumail hob den Kopf etwas höher und drehte ihn nach links und rechts.

»Streng dich nicht an, alter Mann, ich bin hier«, kam es im gleichen Tonfall von rechts über ihm.

Cumail blinzelte in diese Richtung und konnte immer noch nichts sehen.

Mein Augenlicht ist trotz meines Alters noch sehr gut und bei den bisherigen Folterungen hat man fast peinlich darauf geachtet, dass meine Augen unversehrt blieben.

Nicht das Cumail sich über dieses Vorgehen beschwert hätte. Aber es war ihm klar, dass Brannon eine entsprechende Anweisung ausgegeben und er die Verschonung der Augen aus einem ganz bestimmten Grund befohlen hatte.

Er will mir etwas zeigen oder mich mit dem Anblick von etwas gänzlich Schrecklichem besonders quälen. Nur mit was?

Plötzlich wurde eine Kerze entzündet und ihre kleine Flamme erschien ihm wie ein glühendes Eisen, das in seine Augen stach. Sofort schloss er die Lider und erinnerte sich nur zu gut echter erhitzter Eisen, die man ihm mehrfach in die Haut gedrückt hatte. Es erstaunte ihn noch jetzt, dass er diese Marter lediglich mit grässlichen Schreien und Herzrasen überstanden hatte und nicht zusammengebrochen oder einfach gestorben war.

Die Kunst des Foltermeisters ist es, das Opfer so lange am Leben zu lassen, wie es ihm befohlen wurde. Oder bis man jede Information aus ihm herausgepresst hatte, die man haben wollte.

»Soll ich die Kerze wieder löschen, Cumail?«, kam es von oben und der Angesprochene empfand die gespielte Besorgnis genauso abstoßend wie diese ekelhafte Süße in Brannons Stimme. Er erwiderte nichts auf die Frage, sondern senkte einfach den Arm, den er zusätzlich vors Gesicht gehoben hatte. Er blinzelte ein paar Mal, dann konnte er das Licht der Kerze ertragen, ohne weiße Flecke auf seiner Netzhaut tanzen zu sehen.

»Du fragst dich sicherlich, warum du heute in diesem Raum befragt wirst und nicht in deiner gewohnten Zelle.«

Als ob man sich an Folter gewöhnen könnte, dachte der Druide und sah sich in der Kammer um. Alle vier Wände des rechteckigen Raumes waren mit Regalen bedeckt, nur von der massiven Tür unterbrochen. Doch in den Regalen stand kein einziger Gegenstand, außerdem waren die Bretter nach vorn mit dichten Gittern versehen.

Was soll ein Regal, in das man nicht hineingreifen kann, um dessen Inhalt in die Hand zu nehmen? Und als Schutz für wertvolle Gegenstände scheint mir der ganze Raum nicht gedacht, überlegte er und versuchte die weiteren Worte Brannons von sich zu drängen. Gänzlich unhörbar machen konnte er sie leider nicht.

»Weißt du, Cumail, heute ist ein besonderer Tag«, schwatzte die klebrige Stimme weiter. »Ich habe die Zeit mir dir genossen, wirklich. Und ich bin dir sogar dankbar für deine Ausbildung.«

Oh ja, zuckte es durch Cumails Kopf und beinahe hätte er seine Nichtbeachtung seines Gastgebers fallen lassen. Wie falsch lagen wir? Wir dachten, dass man mit Lehre und Wissen einen verderbten Geist heilen könnte. Nun haben wir aus einem dummen Mörder einen gelehrten Mörder gemacht!

»Ich habe mich entschlossen, deinen Aufenthalt hier zu beenden.«

Cumails Kopf ruckte nach oben und im gleichen Augenblick ärgerte er sich, dass er sich nicht besser in der Gewalt hatte. Seine Wut auf sich selbst half ihm jedoch den Anblick zu ertragen, den er im schwachen Licht der einzigen Kerze deutlicher sah, als ihm lieb war.

Brannon stand an der Kante einer der Wände, die sich nun als Bestandteil einer kleinen Grube erwiesen. Mit einem schnellen Blick erkannte Cumail, dass die Grube die Mitte eines größeren Raumes darstellte.

Wie eine Galerie mit Sitzplätzen für Zuschauer, zuckte es durch sein Hirn. Er will meinen Tod zu einem Schauspiel machen. Genügt es ihm nicht mehr, sich selbst an Perversitäten zu ergötzen? Braucht er nun schon ein Publikum um sich zu erhöhen?

Aber außer Brannon schien sich niemand weiter auf der Galerie aufzuhalten. Vielleicht standen sie aber auch reglos im Schatten und würden erst zu Beginn der Folter nach vorne treten. Cumail verlegte sich wieder auf die Musterung der Grube, in der er stand.

Der Boden war festgetretene Erde, durchsetzt mit kleinen Steinchen und allerlei Flecken, von denen er überzeugt war, dass sie getrocknetes Blut waren. Die Gitter überzogen tatsächlich alle Wände. Nun, da er genauer hinsah, sah er an manchen Stellen kleine Scharniere, die jeweils einen handgroßen Teil der Gitter in kleine Öffnungen verwandelte. Wieder kam ihm die ganze Konstruktion sehr befremdlich vor. Er konnte sich keinen Zweck vorstellen, der Öffnungen erklärte, die einen begrenzten Zugriff – auch mit dünnen Armen – in die Regale erforderte.

»Ich sehe, du machst dir Gedanken um mein kleines Spielzeug hier.«

Hätte Cumail irgendeinen Gegenstand besessen, hätte er ihn mit aller verbliebenen Kraft der Quelle der pappig-ätzenden Stimme entgegengeschleudert. Stattdessen hob er den Kopf und blickte seinem Widersacher endlich in die Augen.

»Ich bin nicht zu Spielen aufgelegt, Jungchen!«, donnerte er. »Sag, was du sagen musst und dann mach ein Ende. Von mir wirst du niemals das Versteck der Tafel erfahren.«

Dabei musste er sich wirklich zusammenreißen, um den Anblick des jungen Mannes zu ertragen, zu dem Brannon geworden war: mindestens zwei Meter groß, wenn nicht sogar ein wenig mehr. Dabei nach dem Alter immer noch ein Jüngling von nicht einmal 14 Jahren!

Ein blutjunger Dämon im Körper eines erwachsenen Mannes.

Cumail fand immer noch keine Erklärung für dieses enorm beschleunigte Wachstum. Alle, die Königin, ihr Schwager und der gesamte Druidenorden auf Ynys Môn, rätselten seit Brannons Geburt über dessen rapide Entwicklung. Und was sie alle noch mehr erschreckte, war die unverhohlene Bosheit, Aggressivität und Perversion des Jungen. Cumail schüttelte - wie er glaubte unmerklich - den Kopf, aber Brannon sah die Bewegung sehr wohl.

»Schüttelt es dich bei meinem Anblick? Gefällt dir etwa meine neue Haut nicht?«, sagte er provozierend und bewegte seine Arme in den Lichtschein der Kerze.

Cumail fühlte weiteren Ekel in sich aufsteigen, als er die Haut- und Fellfetzen an Brannon kleben sah. Plötzlich nahm er den Geruch frischen Blutes wahr, der durch die Bewegung scheinbar zu ihm herunterdringen konnte. Die meisten Teile waren Stücke von Tieren, doch andere waren eindeutig menschlichen Ursprungs. Als wären sie besondere Trophäen, präsentierte Brannon ihm Hautstücke mit weiblichen Brustwarzen, die nun seine starken Oberarmmuskeln zierten. Auf seiner breiten Brust pappten mehrere Nasen und Ohren, großzügig umgeben von der Gesichts- und Kopfhaut der Opfer. Als Cumails Blick auf die Bauchmitte Brannons fiel, würgte er hart. Doch in seinem Magen befand sich nichts, was er hätte herauskotzen können. Der Anblick sich in raschem Takt vor- und zurückziehender Bauchmuskeln - und der darauf mit Blut befestigten Vagina - färbte sein Gesicht grünlich. Er spuckte verächtlich aus und wandte sich ab.

»Oh, freut dich dieser Anblick nicht?«, höhnte Brannon. »Ich wollte dir zum Schluss eine Freude machen, alter Mann. Ich glaube nämlich, dass es schon sehr lange her ist, seit du eine feuchte Fotze so pulsieren gesehen hast.« Dann wandelte sich die süße Stimme plötzlich in ein eiskaltes Knirschen.

»Oh doch, du wirst mir das Versteck der Tafel verraten, alter Mann. Ich habe viele Freunde, die mir dabei behilflich sein werden. Und ein paar – zumindest am Anfang – wirst du sogleich kennenlernen.«

Mit einer raschen Bewegung löschte Brannon das spärliche Licht der Kerze und nur Augenblicke später knirschte es metallisch an mehreren Stellen rings um Cumail.

Die Scharniere, blitzte es durch den Druiden.

Dann hörte Cumail zunächst ein leises Fiepen, gefolgt von zwei, drei antwortenden Pfiffen. Und bald darauf das leise Rascheln und Trappeln vieler Füße. Mit einem Mal war Cumail klar, wofür die vergitterten Regale dienten.

Es waren Lauframpen.

Sie dienten allzu bekannten Tieren, die nun auf ihn zu rannten.

Ratten.

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