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Kapitel II A. D. 195, Januar Die Hüter des Steins
ОглавлениеYan mac Ruith führte die kleine Gruppe Druiden an, die wortlos durch den Wald schritt. Weit hinter ihnen sorgte eine große Abteilung Pictenkrieger dafür, dass niemand den Männern folgen konnte. Es war noch früh am Morgen und die Fünf schienen froh, den kalten Wind mit dem Eintreten in den Wald hinter sich lassen zu können. Zwar stand die Sonne schon ein Stück über dem Horizont und der Himmel war wolkenfrei - was selten genug vorkam -, doch ohne die reflektierende Wirkung des Schnees hätten sie sich schwerer getan, ihren Weg zu finden. Sie marschierten in einer Reihe und nicht umsonst stapfte der Kräftigste von ihnen voran, um den anderen in der wadenhohen Schneedecke eine bequeme Spur vorzutreten.
Cathbad und Miach waren einige Jahre älter als Yan. Ersterer war klein und ein wenig füllig um die Hüften. Letzterer genauso groß wie ihr Anführer, aber eher das, was man als dürren Pfahl bezeichnen könnte.
Die Frau zwischen ihnen wirkte daher wie ein doppelter Kontrast mit ihrer perfekten Figur und eben der Tatsache, dass sie eine Frau war. Airmed war nur zu gut bewusst, welche Ausnahme sie darstellte: Eine der wenigen Druidenfrauen zu sein und dazu zum erlauchten Kreis der Hüter des Steins zu zählen.
Der letzte Druide in der Reihe war Gwyddyon. Noch recht jung an Jahren, gerade einmal 17, doch unter den Adepten des gesamten Ordens schon jetzt ein herausragender Kandidat für besondere Aufgaben.
Yan mac Ruith hätte Gwyddyon gerne noch einige Jahre der Ausbildung gegönnt - und nach der vor ihnen stehenden Aufgabe würde er persönlich dessen weitere Schulung übernehmen. Aber der vermutliche Verlust eines früheren Mitgliedes der Hüter zwang ihn dazu, Gwyddyon vorzeitig in diesen Kreis aufzunehmen. Der Gedanke an den immer noch verschwundenen Cumail verfinsterte Yans Gesicht noch mehr und er beschleunigte seine Schritte.
Unangenehme Dinge sollte man nicht vor sich herschieben.
Yan hatte nach Sétantas Tod – und damit den Besitz des Steins – den Jahresbeginn als Zeitpunkt für ein Ritual gewählt, dass sie nun schon zehn Mal vollzogen hatten. Und genauso oft gescheitert waren.
Der Stein mit dem Rezept des Bluttrankes – die Unheilige Tafel, wie er von allen Druiden mittlerweile genannt wurde – musste vernichtet werden. Solange er mit der Kraft vergossenen Blutes förmlich mit Macht vollgesogen war, war er schier unzerstörbar. Die scheinbar einzige Methode, ihn vernichten zu können, bestand darin, dass der Stein ausgehungert wurde. Wenn ihm nicht mit neu vergossenem Blut seine Kraft und Macht erhalten blieben, sondern er verdorrte, wie ein Grashalm unter sengender Sonne.
Zehn Jahre!, dachte Yan und seine Miene wurde um einige Stufen dunkler, als sie ohnehin schon war. Zehn Jahre ist er nun in unserem Besitz. Seit dieser Zeit wurde kein einziger Trank gebraut, kein einziges Mal die verdammten Worte gesprochen, kein einziger neuer Spiegelkrieger erweckt. Ein alter, aber nichtsdestotrotz angenehmer Gedanke, ließ ihn seinen mürrischen Ausdruck ein wenig milder werden, obwohl niemand seiner Gefährten die Auflockerung seines Gesichtes sehen konnte. Kein feindlicher Römer hält sich mehr in Breith auf. Wir haben keinen weiteren Bedarf an unheimlichen Kriegern.
»Von denen wir aber noch Tausende haben«, murmelte er leise.
Cathbad hatte angehalten und einen Schluck aus seinem Wasserschlauch genommen. Airmed schritt an ihm vorbei, lief nun direkt hinter Yan und bemühte sich, in seine Spuren zu treten. Sein leises Gemurmel war ihr nicht entgangen.
»Was sagst du, Meister?« Ihre Stimme war dunkel wie ihr Haar, ein sattes tiefes Rot, dass Yan immer an kräftigen Rotwein erinnerte.
»Wir sind gleich da«, versuchte er abzulenken.
»Ich weiß, ich war schon einige Male hier«, antwortete sie ruhig.
Yan fragte sich wie jedes Mal bei solchen Märschen, ob seine Entscheidung richtig war. Die ersten Jahre hatten Púca, Cumail, Cathbad, Miach und er die fünf Hüter gestellt. Doch ihre fehlgeschlagenen Versuche hatten ihn zur Einsicht gebracht, dass es vielleicht gut wäre, ab und an andere Druiden einzuweihen und sie ihr Glück versuchen zu lassen.
Mehr Köpfe haben mehr Ideen.
Außerdem wollte er die Tatsache der tödlichen Wirkung der Unheiligen Tafel unter allen Druiden verbreiten. Die Gefahr, dass wieder einer von ihnen – so wie Sétanta und schlussendlich auch Túan – der Macht des Steines erliegen könnte, sah er wohl. Gleichzeitig hoffte er, dass die Nichtbenutzung und auch der fehlende körperliche Kontakt einen ausreichenden Schutz darstellten.
Mehr unbewusst, vielleicht auch wegen einiger vertrauter Wegmarken, hob er den Kopf und sah, dass sie ihr Ziel erreicht hatten.
Der Eingang zu einem weitverzweigten Höhlensystem lag vor ihnen. Der Berg und die Höhlen waren den Cruithin seit Generationen bekannt. Doch Yan war sich sicher, dass niemand das gesamte Ganggeflecht erkundet hatte und jede einzelne Abzweigung im Gedächtnis behalten konnte. Er selbst hatte damals Wochen damit verbracht, einen dünnen, ständig abfallenden Spalt zu erforschen, der keinerlei Spuren von Menschen oder größeren Tieren gezeigt hatte. Bei seiner ersten Begehung hätte er im Licht der rauchenden Fackel beinahe übersehen, dass das scheinbare Ende des Ganges keine Sackgasse bildete, sondern einen sehr scharfen Knick, den man leicht für einen gezackten Vorsprung halten konnte. Jeder arglose Mensch hätte kehrt gemacht und sich die letzten Meter des offensichtlich blinden Ganges erspart. Doch Yan hatte sich die Mühe gemacht und war die kurze Strecke gegangen. Um dann umso überraschter zu sein, als ein starker Luftzug seine Fackel beinahe gelöscht hätte.
Nun schritten sie in diesen Berg hinein und orientierten sich an geheimen Wegmarken, die für Uneingeweihte wie Fledermauskot aussahen, in Wahrheit aber von den Hütern stammten. Mehr als einmal mussten sie anhalten und mit ihren Fackeln nah an die Zeichen herangehen, um sie selbst von echter Tierlosung unterscheiden zu können.
War es draußen schon kalt gewesen, so war die Kälte im Berg noch viel eisiger.
Gut, dachte Yan, vielleicht wird dann Gwyddyons Idee umso besser funktionieren.
Er hoffte, dass das Holz, das sie über viele Tage in die Höhlen geschleppt hatten, immer noch trocken war und gut brennen würde. Sie marschierten fast eine Stunde, bis sie den schmalen Gang erreichten und eine weitere Stunde, bis dieser sie in eine flache, aber weite Höhle entließ, in der die Holzstapel unberührt bereitlagen.
Cathbad und Miach schienen seine Sorge stumm geteilt zu haben, denn sie gingen jeweils auf einen Stapel zu und griffen zwischen die Stämme. Mehrmals wiederholten sie ihre Prüfung und richteten sich dann mit zufriedenen Gesten auf. Ihre Gesichter konnte Yan im Licht der beiden Fackeln, von denen eine er und die andere Gwyddyon trug, nicht besonders gut erkennen.
»Das Holz ist trocken wie Zunder, Meister«, sagte Cathbad.
»Dieser Ort ist wie geschaffen für unser Vorhaben«, bestätigte Miach und sog die trockene Luft ein. »Dieser Teil des Berges muss von verschiedenen Seiten frische Luft erhalten. Die sonst übliche Feuchtigkeit von Höhlen fehlt hier völlig.« Er wandte sich um und wies in Richtung des unterirdischen kleinen Flusslaufes, der in der Nähe rauschte.
»Selbst dieses Wasser kann der Trockenheit hier nichts anhaben.«
Er ging die rund fünfzig Schritte zum Durchgang der Haupthöhle. Fast schien er gehemmt, seine kräftigen Füße an den Ort zu bewegen, in dem die Unheilige Tafel auf ihre nächste Prüfung wartete.
Yan folgte Miach und trat an dessen Seite. Beide blickten im wechselhaften Schein seiner Fackel auf die kleine Erhebung, auf der der Stein ruhte. Für einige Zeit sagten sie nichts und hörten nur die drei anderen hinter ihnen die letzten Vorbereitungen treffen. Ihre leisen Geräusche kündeten von deren Gefühlen, die sie diesem Ort, dem Stein und ihrer Aufgabe entgegenbrachten.
»Nun, es wird Zeit«, sagte Yan mac Ruith und klopfte Miach auf die Schulter. »Wollen wir den anderen nicht die ganze Arbeit überlassen, mein Freund.«
Miach nickte nur und sie wandten sich den anderen zu. Diese hatten bereits Öl und trockene Fetzen, die sie aus ihrem Gepäck genommen hatten, in und um den größten Holzstapel geschüttet, bzw. gesteckt. Eine zufällige Steinformation bildete drei schiefe aber gangbare Stufen, mit deren Hilfe man an die Oberseite des Stapels gelangen konnte.
Yan wandte sich dem hölzernen Wasserlauf zu, der die fünfzig Schritte zur Haupthöhle und noch weiter zum Fluss überbrückte. Er prüfte noch einmal das Gefälle und die Verbindungen von Brett zu Brett. Sicher waren sie nicht völlig dicht, aber dicht genug, um die Masse des eiskalten Wassers ohne große Verluste transportieren zu können. Und vor allem schnell genug.
Noch ist es nicht soweit, dachte er und ermahnte sich selbst zur Geduld. Es hat keinen Sinn, das Wasser frühzeitig fließen zu lassen.
Dann seufzte er und drehte sich seinen Begleitern zu. Sie alle waren mit ihren Arbeiten fertig und warteten ruhig auf seine Anweisungen. Mit übermäßiger Sorgfalt überreichte ihm Airmed zwei lederne Handschuhe, deren Handflächen dicht mit Metalldornen versehen waren. Nach dem dritten Jahr – und dritten Misserfolg – hatte Púca den Vorschlag gemacht, fortan jeden körperlichen Kontakt zu der Tafel zu vermeiden. Dies bedingte die Benutzung irgendeiner entsprechenden Vorrichtung und diese speziell dafür gefertigten Handschuhe erschienen allen als die praktischste Lösung. Yan zog sie an und gleichzeitig kam ihm der Gedanke, dass sie perfekt für seine Hände gemacht waren. Für alle anderen wären sie entweder zu groß oder zu klein gewesen.
Es ist meine Aufgabe, den Stein zu bewegen. Wenn ich von dieser Welt gehe ohne meine Aufgabe erfüllt zu haben, wird mein Nachfolger eigene brauchen.
Wieder seufzte er leise und schritt dann entschlossen in die Haupthöhle. Nur einen Lidschlag zögerte er, bis er mit festem Griff die Tafel nahm und zurück zum Holzstapel schleppte. Die anderen rückten in alle Himmelsrichtungen auseinander, als er die wenigen Stufen nach oben nahm und den Stein in die Mitte des Scheiterhaufens platzierte. Er rückte den Stein fest und stieg dann wieder hinunter.
Wenn das Holz um ihn verbrennt, bleibt er auf dem abgebrochenen Sockel liegen. Die Flammen werden um ihn lodern und ständig von uns mit neuem Holz genährt werden. Wir brauchen so viel Hitze wie nur möglich, wenn wir Erfolg haben wollen.
»Gwyddyon«, rief er verhalten und winkte den jungen Druiden zu sich. »Es ist deine Idee und ich halte sie für sehr hoffnungsvoll. Es ist also dein Anrecht, das Holz zu entzünden«, forderte er ihn auf.
Der Adept warf einen Blick auf die Tafel, die nur mit ihrer Kante zu sehen war und plötzlich hatte Yan den Eindruck, als zögere der junge Druide. Tatsächlich senkte Gwyddyon die Hand mit der Fackel und trat sogar einige Schritte zurück!
Cathbad, Airmed und Miach gaben erstaunte Laute von sich, sagten aber nichts.
Auch Yan mac Ruith blieb still, beobachtete aber genau Gwyddyons Augen.
»Meister«, begann dieser leise und zeigte dabei einen fast schon verzweifelten Ausdruck in den Augen, »ich weiß, die Tafel hat fürchterliche Dinge ausgelöst und viele Menschen mussten wegen ihr sterben, aber …« Er blickte zu den drei anderen und schien sie um Beistand bitten zu wollen, doch keiner gab auch nur einen Laut von sich. »Aber ohne ihre Hilfe würden jetzt noch immer die Römer unser Land in großen Teilen beherrschen.« Er blickte wieder zu Yan und schien ihn um Verzeihung bitten zu wollen. »Aber sie ist auch eine mächtige Waffe! Können wir es uns leisten, auf sie für alle Zeiten zu verzichten … und sie unseren Nachfahren vorenthalten? Auch wenn wir vielleicht nie mehr mit einer römischen Invasion rechnen müssen, so gibt es doch andere Feinde. Und Zeiten, in die wir nicht sehen können.« Seine Stimme war selbstbewusster und sicherer geworden und zu ihrer aller Überraschung lächelte Yan und nickte zaghaft.
»Diese Fragen habe ich mir schon mein ganzes Leben gestellt, junger Druide«, begann er und bedeutete ihnen allen, sich zu setzen. Er steckte seine Fackel neben sich in einen Riss, setzte sich ebenfalls und Gwyddyon tat es ihm gleich.
»Es ehrt dich, dass du dir Sorgen um die Zukunft und unsere – auch deine – Nachkommen machst.« Plötzlich verschwand der freundliche Ausdruck in Yans Lächeln und seine übliche Distanziertheit, ja, von Menschen die ihn nicht kannten sogar vermutete Gefühlskälte, erfasste seine Augen. Gepaart mit dem schlechten Licht der kleinen Fackeln wirkte sein Ausdruck bedrohlicher, als er eigentlich war.
»Cathbad und Miach kennen dies schon, was ich nun auch dir verraten werde. Sogar Airmed hat es schon von mir erfahren. Es schadet aber nichts, wenn wir uns die Tatsachen wieder und wieder vor Augen führen … und konsequent danach handeln!« Seine letzten Worte färbte eine unnachgiebige Härte, die einen wesentlichen Bestandteil seines Charakters ausmachte. Alle wussten dies und werteten es nicht als Zurechtweisung, sondern als wohlgemeinten Rat.
»Es gab einst einige Druiden, die genau so dachten wie du jetzt … und auch ich.« Überrascht fuhren Cathbad, Miach und Airmed zusammen; dieses Detail hatten auch sie noch nicht gewusst. »Kennaigh – der Meister meines Bruders Túan mac Ruith - brachte die Unheilige Tafel als junger Druide vom Festland auf unsere Insel. Woher er sie hatte, das ist in den Schleiern der Zeit vergessen worden. Im Grunde tut es nichts zur Sache, woher er sie hatte. Einzig wichtig ist zu wissen, dass sie von schwarzen Mächten erschaffen wurde, um die Menschen zu knechten, ihr Blut zu vergießen und für alle Zeiten zu bestehen. Ständig eingesetzt, würde sie die Welt in Finsternis werfen …«
Er verstummte für einige Momente, als könne er in einer Vision in solch eine erschreckende Epoche blicken. Dann sprach er weiter.
»Kennaigh setzte die Tafel wohl mindestens einmal, wahrscheinlich eher einige Male ein, um eine römische Legion zu vernichten, die damals Breith bedroht hatte. Die Römer nennen sie noch heute hinter vorgehaltener Hand die verlorene IX. Legion. Währenddessen - oder vielleicht erst danach -, erkannte Kennaigh ihre verhängnisvolle Wirkung auch auf den Besitzer und beschloss, sie nicht mehr einzusetzen. Er spürte am eigenen Leib ihre Macht und hat wohl gerade noch so viel Abstand zu ihr wahren können, dass er weitgehend von ihrem schädlichen Einfluss verschont blieb.« Wieder machte Yan eine Pause und blickte nacheinander allen in die Augen.
»Ein anderer Druide namens Sétanta«, fuhr er fort, »damals noch ein Freund Kennaighs, sah das anders. Er und Kennaigh gerieten darüber in Streit. Es kam zu einem todernsten Kampf … Druide gegen Druide … bei der Kennaigh mit einer für ihn ungewöhnlichen Aggressivität mit Sétanta um die Tafel kämpfte und sie mit unmenschlicher Kraft an einen Felsen schlug. Trotz dieses wuchtigen Schlages brach nur ein winziger Teil der Tafel ab.«
Mit einer beiläufigen Bewegung deutete Yan in Richtung der Tafel, die auf dem Holzstapel drohte und jedes seiner Worte aufzusaugen schien. Zumindest kam es ihnen allen so vor, auch wenn niemand ein entsprechendes Wort von sich gab.
»Die beiden trennten sich im Streit und waren fortan erbitterte Feinde. Um die Tafel vor Sétantas Zugriff zu schützen, verließ Kennaigh mit dem Einverständnis des damaligen Oberen den Orden auf Ynys Môn und ging in die einsamste Gegend, die er kannte. Er wählte ein Leben als Eremit, um die Tafel vorsichtig zu erforschen und nach Wegen zu suchen, sie irgendwann zu vernichten. Sétanta jedoch nahm den Splitter an sich und trug ihn von da an als Amulett um seinen Hals.« Yan warf einen düsteren Blick in die Runde und seine Augen leuchteten wie kleine Feuer aus den Höhlen. »Was keine gute Idee war …«
Für einen Augenblick hatten seine Zuhörer den Eindruck, als schüttele sich ihr Oberhaupt vor Grauen, dann fuhr Yan in seiner Erzählung fort.
»So klein dieser Splitter auch war, er genügte, um aus einem anständigen Mann, einem Druiden, einen boshaften, gewalttägigen, rücksichtslosen Verbrecher zu machen, der auch vor seinem eigenen Volk keinerlei Skrupel mehr hatte. Sein Leben lang suchte Sétanta nach dem Versteck Kennaighs und der Tafel und fand beide trotzdem nie. In all den Jahren wirkte jedoch das Stück, das er um den Hals trug, auf ihn ein und veränderte schleichend seinen Geist. Seine ursprüngliche Absicht, mit der Tafel und dem Bluttrank eine Armee gegen die Römer aufzustellen, wandelte sich. Er hatte zwar immer noch den Plan eine Armee zu erschaffen, doch sollte diese nun seinen eigenen Zwecken dienen. Zu Sétanta komme ich gleich noch einmal«, fuhr Yan fort und legte eine Hand auf die Schulter Gwyddyons.
»Dann spielten die Götter oder … andere Mächte dem Schicksal einen Streich. Mein Bruder Túan stieß als Junge zufällig zu Kennaigh und wurde von diesem als sein Schüler aufgenommen. Ich kann nur vermuten, dass Kennaigh ihm nichts von der Tafel und ihren Gefahren erzählte. Vielleicht hielt er ihn noch für zu jung, vielleicht wollte er ihn aber auch nur vor ihr beschützen. Leider verstarb Kennaigh, bevor er seinen Schüler aufklären konnte. Túan fand schließlich in dessen Hinterlassenschaft die Tafel.«
Sein Blick verdüsterte sich erneut und man sah Yan an, dass er sich wünschte, er wäre Kennaighs Schüler gewesen und hätte die Tafel mit dem Wissen des Ordens behandeln können.
»Und so wie es Arianrhod uns geschildert hat, muss Túan von selbst auf einige Geheimnisse der Tafel gestoßen sein und sie ausprobiert haben. Er wanderte durch das Land und erweckte Gefallene wieder zum Leben. Er erschuf die Armee, welche die Römer letztendlich vernichten konnte. Auch wenn er da schon selbst nicht mehr am Leben war. Leider wusste mein Bruder längst nicht so viel über die Tafel wie der Orden oder ich. Niemand warnte ihn davor, dass die Tafel auch den Besitzer unter ihren Einfluss zwingt. Túan hatte sie zwar nur wenige Jahre, dafür hat er sie aber intensiv genutzt und sein Hass auf die Römer vernebelte ihm zusätzlich seinen Verstand. Er übersah offensichtlich die Warnsignale – den Blutzoll, den er leistete, seine Bereitschaft zu Massenmord, auch wenn es Gegner waren. Vor allem konnte er nicht wissen, dass die Tafel auch seinen Samen veränderte. Die Unheilige Tafel - nein, ihre Schöpfer, die Dämonen – wollen sich die nächste Generation an Spendern und Braumeistern erhalten!«
Wieder hielt Yan mac Ruith inne und man sah ihm an, dass er mit den nächsten Worten kämpfte.
»Und wie wir alle erleben müssen, hat dies auch hervorragend funktioniert: Brannon – das Kind Túans und Arianrhods – ist das Resultat dieses schädlichen Einflusses. Brannon ist völlig gewissen- und skrupellos, dazu krankhaft pervers. Ich weiß nicht, ob es uns gelingt, ihn zu heilen.«
Er sah allen nacheinander in die Augen und holte tief Luft, so als müsse er Kraft sammeln, für das, was er ihnen noch sagen wollte.
»Noch ein Wort zu Sétanta: Ein Druide kann sich unter guten Umständen eines langen Lebens erfreuen. Länger, als es ein Nichtdruide je zu erreichen vermag. Sétanta war am Ende über 140 Jahre alt und unter der Wirkung der Unheiligen Tafel wäre er sicher noch viele Jahre über die Welt gestreift und hätte nur Tod und Verderben verbreitet. Was glaubt ihr, wie lange ein Mensch leben kann, der unter dem Einfluss der Tafel geboren wurde …?«
Nun war nicht nur Gwyddyon bleich geworden, sondern auch Airmed, sogar Miach. Nur Cathbad stand mit steinerner Miene bei ihnen und schien langsam ungeduldig zu werden. Yan erhob sich wieder und alle anderen folgten seinem Beispiel. Er wandte sich direkt an Gwyddyon, doch jedem war klar, das seine Worte für sie alle galten.
»Du siehst also, junger Druide, dass es unsere wichtigste Aufgabe ist, diesen verdammten Stein zu vernichten. So bald als möglich. Und mir ist dazu jedes Mittel recht, das uns zur Verfügung steht. Sein Verlust als Waffe scheint mir ein kleiner Preis zu sein. Denn die Welt ist geschwätzig. Die Nachricht, dass unser kleines Volk das mächtige römische Imperium in die Knie gezwungen und von dieser Insel vertrieben hat, dürfte sich in der Welt verbreiten.« Er lächelte ein wenig schief. »Und wir werden unser Bestes tun, um diesen Ruf durch unser Tun zu untermauern.«
Gwyddyon schien ausreichend überzeugt zu sein, doch immer noch zögerte er, den Stapel in Brand zu setzen.
»Du hast noch etwas einzuwenden?«, fragte Yan mac Ruith gelassen und sah den Jungen wohlwollend an.
»Ich … und die Königin? Sie scheint von der Macht des Steins völlig unbeeinflusst.«
Yan lächelte anerkennend.
»Gut beobachtet«, lobte er. »Sie hatte nie Hand an die Tafel gelegt, nie von ihrem Fleisch und Blut gegeben – wenn man von Brannon einmal absieht. Und es scheint mir ein bösartiger Umstand zu sein, dass die Mutter des Verderbten unbehelligt bleibt. Vielleicht soll dies Beobachter und Misstrauische beruhigen und die Macht des Steins tarnen und klein erscheinen lassen. Mir kommt es jedoch so vor, dass dies eine der ekelhaftesten Bosheiten ist. Denn es könnte bewirken, dass eine Frau weitere verderbte Kinder gebärt, ohne zu wissen, welcher Art die Kinder sind, die sie in die Welt setzt.«
Er behielt für sich, dass Arianrhod schon während der Schwangerschaft gespürt hatte, dass etwas mit ihrem Kind nicht stimmte. Sie hatte ihm von dieser Zeit erzählt und er hatte sehr schnell begriffen, warum sie nie ein inniges und herzliches Verhältnis zu ihrem Sohn entwickeln konnte. Yan verspürte Mitleid mit ihr und hatte später sehr wohl die Erleichterung in ihren Augen gesehen, als er die Verantwortung und Ausbildung des Jungen auf seine Schultern und des Ordens lud. Er hoffte inständig, dass sie mit dem Germanen Swidger weitere Kinder bekam, die ihre Sehnsucht nach einer intakten Familie erfüllen könnten. Sie hatte bisher alles verloren, was sie gehabt hatte: ihr Volk, ihre Heimat, ihren Vater, ihren Ehemann und wahrscheinlich auch ihren bisher einzigen Sohn. Yan betete zu den Göttern, dass sie in Breith, in den Cruithin und in Swidger das Verlorene wiedergefunden hatte.
Cathbad riss sich als Erster wieder zusammen und konnte kaum mehr an sich halten. »Los schon, Junge, setz den Stapel in Brand! Und wir werden das Feuer schüren, bis alles Holz verbraucht ist.«
Der Scheiterhaufen stand in hellen Flammen und Yan mac Ruith dankte ihrer Umsicht und dem Wirken der Götter, dass das Holz trocken geblieben war. Und auch, dass sich die Höhle so weit in die Höhe streckte, dass sich der erfreulich geringe Rauch weit in den Spalten über ihnen verlor. Ihre Holzvorräte waren rapide geschwunden, aber immer noch legten sie nach, auch wenn die enorme Hitze des Feuers sie zwang, die Scheite und kurzen Stämme hineinzuwerfen, anstatt sie gezielt zu platzieren.
Yan achtete darauf, dass sich die Hitze ständig steigerte und sie das Holz nicht einfach nur verbrauchten. Gwyddyon hatte ihm genau die Anweisungen seines Vaters, eines hervorragenden Schmiedes, erläutert und Yan verstand, dass der Schock nur dann ausreichend sein würde, wenn allergrößter Hitze sehr rasch die größtmögliche Kälte folgte. Nur dann würde der Stein brechen können.
Während die anderen sich abmühten, von allen Seiten die Flammen in Gang zu halten, stieg Yan auf eine nahe Erhebung und versuchte im Lodern des Feuers den Stein auszumachen. Auch hier dankte er der Tatsache, dass trockenes Holz sauber und beinahe rauchfrei verbrannte und ihm ab und an Blicke in die Glut ermöglichte.
Und ja, da war er. Ein wenig abgerutscht, so wie sie es erwartet hatten. Der Stein war schließlich auf dem abgebrochenen Sockel liegen geblieben. Die Unheilige Tafel hatte zu Yans Freude zu glühen begonnen, leider nur ein mittleres Rot.
Schade, ich dachte, wir könnten ihn in helle Glut, vielleicht sogar zu weißer Glut erhitzen, dachte er und musste erkennen, dass ihr Vorrat an Holz jetzt rasch zur Neige ging. Schon zogen sich Cathbad und Miach zurück und überließen es den Jüngeren, die letzten Holzstücke mit gezielten Würfen in das Feuer zu schleudern. Langsam nahm der Stein die Farbe von mit Milch verdünntem Blut an, aber leider nicht weißglühend.
Es wird nicht reichen … trotzdem müssen wir es versuchen!
Er schritt von dem Felsen herunter und ging langsam auf das Ende der Holzrinne zu. Sie hatten vereinbart, dass er in der Nähe des Scheiterhaufens bleiben sollte und Cathbad auf sein Zeichen hin am Fluss den Riegel umlegen würde, der die eiskalten Fluten in den hölzernen Wasserlauf abzweigte. Yan sah, dass der ältere Hüter bereitstand und gelassen zu ihm herüberschaute. Er winkte den anderen zu, sie mögen sich zurückziehen und versuchte noch einmal in den Flammen den Stein zu erkennen, aber er sah ihn nicht, sondern nur einen sehr hellen Schein inmitten des Feuers.
Vielleicht glüht er ja doch. Ich darf jetzt nicht zu lange warten.
Er sah, dass das Ende der Holzrinne durch die Nähe und Hitze des Scheiterhaufens sich schwarz verfärbt hatte, und schon anfing, Rauch von sich zu geben.
Nicht mehr lange und die Rinne fängt selbst Feuer.
Dann trat er selbst einige Schritte zurück und gab Cathbad das Zeichen.
Der ältere Druide schob mit entschlossenem Ruck die Sperre zur Seite und augenblicklich strömte das Wasser in die Rinne. Es schoss förmlich durch die geneigte Bahn und innerhalb weniger Augenblicke hatte es die kurze Strecke überwunden. Mit einem fauchenden Zischen sprang es das Feuer an, als wollte es die Flammen auf einen Schlag auslöschen. Natürlich sollte es möglichst direkt den Stein erreichen, doch dazu mussten die Wasser erst durch eine Wand aus hellen Lohen dringen. Dichte Wolken bauschten sich auf und füllten diesen Teil der Höhle mit heißem Dampf. Ein deutliches Knacken war zu hören.
Ja, dachte Yan mac Ruith, das war eindeutig das Geräusch brechenden Gesteins.
Und auch die anderen hatten den Laut vernommen, denn sie fielen in Jubelschreie aus und liefen aufeinander zu, freudige Mienen im Gesicht. Sie ignorierten die um sie wabernden heißen Schwaden und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Airmed fiel in ihrer Freude Gwyddyon um den Hals und dem Jungen schoss die Röte ins Gesicht.
Cathbad kam von seinem Ende der Rinne auf Yan zugelaufen und sah die Reaktionen der anderen Hüter. Durch die Nähe des rauschenden Flusses hatte er offenbar das Knacken nicht vernommen.
»Ist es gelungen?«, fragte er und sah sich nun von den anderen umringt und beinahe hätte ihn ihre Zuversicht ebenfalls zu Siegesrufen verleitet. Doch das Gesicht Yans hielt erst ihn, dann auch die anderen ab, weiterhin Freudentänze aufzuführen.
»Ich bin nicht sicher«, entgegnete der Ordensführer und schritt langsam in die Schwaden hinein. Als er fast gänzlich darin verschwunden war, hörten sie seine Stimme aus ihnen herausrufen.
»Cathbad, du kannst das Wasser wieder seinen gewohnten Weg nehmen lassen. Wenn es funktioniert hat, dann ist es sinnlos, weiter die Sicht zu vernebeln. Das Feuer ist erloschen, zumindest an der Oberfläche.«
Der Angesprochene tat wie ihm geheißen und langsam verzogen sich die Dampfwolken und nur zischelnde und knisternde Geräusche erfüllten den Höhlenraum. Ab und an fiel etwas in sich zusammen und kleine Aschewolken stiegen empor. Die Sicht wurde nur zögerlich besser. Das Erste, was sie sahen, war Yans breiter Rücken. Das Objekt ihres Interesses verdeckte er. Aber schon allein seine Haltung sagte ihnen, dass sie gescheitert waren. Wieder einmal. Nach und nach rückten sie zu ihm hin und konnten selbst das Ergebnis ihrer Bemühungen in Augenschein nehmen.
Die Tafel lag unversehrt auf dem Sockel. Dieser wies einen neuen Riss auf.
»Nur das Podest ist geborsten, der Stein ist nach wie vor in einem Stück«, sagte Gwyddyon und die Enttäuschung war gerade ihm besonders anzusehen.
Wie um sie zu verhöhnen, hatte der Stein seine fast schwarze Farbe wieder angenommen.