Читать книгу Die Witwe und der Wolf im Odenwald - Werner Kellner - Страница 15
ОглавлениеKapitel 11
Odenwälder Bote, Artikel vom 27.8.2020, G. J., Fürth
Die Seniorenoase Jungbrunnen entwickelt ich zum Corona Hotspot und aufgrund der grottenschlechten Pflegequalität stellt sie ein echtes Gesundheitsrisiko für sämtliche Heimbewohner dar. Man fragte sich immer öfter, was noch passieren muss, bis die Behörden die Bewohner erlösen und das Heim schließen oder das Heim in kompetente Führung geben.
Lautertal, Freitag, 28.8.2020, 07:00 Uhr
Wolfgang Wolff verdrehte die Augen, als er aus dem Büro des Chefs des Wachschutzes kam. Andrei war auf dem Papier zwar nur ‚stellvertretender Leiter‘ des Wachpersonals und Jannis war der Chef. In der Realität war jedoch Andrei als oberster Sicherheitsoffizier der ‚Bratwa‘ Jannis‘ Vorgesetzter, der von Zeit zu Zeit im Heim vorbeikam und nach dem Rechten sah. Andrei führte schon lange keine Aufträge mehr aus, sondern sorgte für deren reibungslose Umsetzung.
Den heutigen Auftrag hatte Andrei von ganz oben bekommen. Es ging um die Entführung der Tochter eines neugierigen Journalisten, der damit mundtot gemacht werden sollte. Er hatte Wolfgang Wolff noch vor dem Frühstück in sein Büro zitiert, um die operativen Einzelheiten mit ihm durchzusprechen. Wolfgang war nicht der hellste, und es erforderte einiges an Fingerspitzengefühl, um die Sache reibungslos abzuwickeln.
Nachdem die Prügelaktion vor zwei Wochen offenbar wirkungslos verpufft war, denn dieser Schmierenschreiber hatte nicht einmal zehn Tage nach seinem vorletzten Hassartikel auf die Seniorenoase den nächsten Schmähartikel veröffentlicht, ging es jetzt um eine höhere Eskalationsstufe.
Der Chef kochte vor Zorn und meinte, jetzt würden Nägel mit Köpfen gemacht.
Wolfgang Wolff atmete nach der Instruktion tief durch und sah einen sehr langen Tag vor sich. Der neue Auftrag, den sie für Andrei erledigen sollten, war anspruchsvoll und musste bis Mittag unauffällig erledigt sein, sonst könnten sie die Geldautomaten Aktion, mit der sie Oliver routinemäßig beauftragt hatte, in der Nacht zum Samstag vergessen.
Behäbigen Schrittes stapfte der bullige Mann mit dem raspelkurzen Haarschnitt, kalten blau-grünen Augen und einem sauber gestutzten Kinnbart mit seinem Kollegen, der vom Körperbau her sein eineiiger Zwilling hätte sein können zum Auto. Er klärte Mike Wiegand dabei über ihren neuen Auftrag auf. Er zeigte seinem Kumpel das Foto des Mädchens, um das es ging, und Mike Wiegand nickte kurz.
Ihr Zielort war die Thalstraße am Ortsrand in Fürth, wo das Einfamilienhaus, in dem der Journalist mit seiner Schwiegermutter und Tochter wohnte, an weite Streuobstwiesen grenzte. Sie würden circa 20 Minuten brauchen, bis sie vor Ort waren. Die Lage des Einfamilienhauses war für Ihr Vorhaben bestens geeignet, und sie würden direkt an einem schmalen Wiesenweg an der Rückseite des Hauses parken können, ohne aufzufallen. Die coronabedingte Schulschließung war im Landkreis für die Abschlussklassen der Realschulen aufgehoben und nach dem Ferienende durch Wechselunterricht ersetzt worden. Mia, die fünfzehnjährige Tochter des neugierigen Schreiberlings, war von der Schulleitung in der Frühschicht für den Online-Unterricht zu Hause eingeteilt. Es hatte Maxim, der sich als Mitarbeiter des Gesundheitsamtes ausgegeben hatte, nur ein kurzes Telefonat mit dem Rektor gekostet, um herauszufinden, wo sich Mia aufhielt, als er ankündigte, dass er für die ganze Familie einen Quarantänebescheid zustellen musste.
Wolfgang Wolff parkte so unauffällig wie möglich in besagtem schmalem Wiesenweg hinter einer Lorbeerhecke, die die Sicht zur Straße und anderen Nachbarn verdeckte.
Es war kein Problem von der Rückseite, unerkannt ins Haus zu gelangen, und Mias Großmutter saß mit Kopfhörern über den Ohren vor dem Fernseher und guckte „Volle Kanne“. Mit einem Spritzer Chloroform auf Mund und Nase schnaubte sie nur kurz auf, bevor ihr Kopf zur Seite rollte, und sie trotz offener Augen das Fernsehbild nicht mehr in sich aufnahm.
Wolfgang Wolff schlich die Treppe nach oben, wo aus dem Mädchenzimmer die Stimme von Mia zu hören war, die gerade auf eine Frage der Online-Lehrerin antwortete. Wolfgang Wolff wartete geduldig, bis die Onlineunterrichtsstunde fertig war, bevor er leise das Zimmer betreten konnte, ohne die Schule zu alarmieren. Insgesamt musste er fast eine halbe Stunde warten, bis er sich hinter Mia schleichen konnte, die erleichtert darüber, dass die Stunde vorbei war, ihr Unterrichtsprogramm herunterfuhr. Mike Wiegand hielt unterdessen im Erdgeschoss die Oma im Dauerschlaf. Mia hatte sich ausgeloggt und saß mit dem Rücken zur Tür. Wolfgang Wolff drückte ihr das präparierte Baumwolltuch auf Mund und Nase, und sie sank nach kurzem Einatmen von Chloroform in sich zusammen. Wolfgang Wolff überlegte kurz, ob er irgendetwas mitnehmen sollte, aber er hatte klare Anweisung nur das Mädchen abzuholen. Er suchte dennoch ein paar Klamotten zusammen, denn der Chef rechnete mit ein paar Tagen, welche das Mädchen außer Haus verbringen würde.
Auf den Schreibtisch legte er noch das vorbereitete Erpresserschreiben an Georg Jährling, mit der Drohung seiner Tochter unvorstellbar Schlimmes anzutun, sollte er die Polizei einschalten, und dass man sich melden würde. Er fuhr den Laptop herunter, um die Verbindung zur Schule zu unterbrechen, und suchte nach einer geeigneten Stelle, um eine batteriegetriebene Wlan-SpyCam mit Bewegungsmelder zu installieren, denn der Chef wollte sichergehen, dass Georg die Polizei nicht einschaltete. Er fand die Stelle an einer Hängelampe im Treppenhaus mit Blick zur Eingangstür und sogar die vom Flur abgehenden Türen in die Küche und ins Wohnzimmer wurden erfasst.
Dann sandte er eine SMS an den Chef und wartete, bis der die Live-Übertragung bestätigte. Er warf sich die leichtgewichtige Mia einfach über die Schulter, Mike Wiegand verpasste der Oma noch eine Chloroform-Auffrischung und beide liefen gebückt zum Wagen. Die Kleine lag auf der Rückbank, während sie zurückfuhren, um Mia im Wohnheim der Pflegeoase in Quarantäne zu nehmen.
Den Brief vom Chef, dass sein Leben und das seiner Tochter akut in Gefahr seien, hatten sie diesem Hetzer von Schreiberling im Haus hinterlassen. Er würde sie nur wiedersehen, wenn er seine journalistischen Aufgaben etwas ernster nehmen würde. Für eine erste Richtigstellung seiner verleumderischen Ergüsse sollte ihm eine Frist von einer Woche ausreichen, andernfalls wäre sein Töchterlein auf dem Weg in ein türkisches Bordell in Istanbul. Es würde aber eher eine komplette Artikelserie mit einem nicht zu aufdringlichen Lobgesang auf die Seniorenoase Jungbrunnen erfordern, um wieder in ein ungetrübtes Leben, allerdings und natürlich unter künftiger Beobachtung zurückzukehren.
Als sie im Heim ankamen, war Mia immer noch nicht wach. Wolfgang Wolff steuerte den Wagen in die Tiefgarage unter den Seitenflügel „Entspannung und Gesundheit“ des Heims, von dem man auch Zugang zum ‚Panikraum‘ hatte, falls man einmal eine Razzia aussitzen musste, sowie zur gleich nebenan untergebrachten WELLNESS Oase. Zu den diversen von der Organisation im Untergeschoss benutzten Räumlichkeiten hatte nur der innerste Kreis Zutritt, zu dem Wolfgang Wolff nicht zählte. Man musste schon hart arbeiten, um in den Offiziersrang aufzusteigen. Als einfaches Mitglied der ‚Gesellschaft‘ bedurfte es zudem strikter Loyalität zum Chef, wobei Wolfgangs Problem war, dass er zwei Chefs hatte. Zum einen seinen Vater, bei dem er offiziell über dessen Autohaus angestellt war, sowie Jannis, der als Chef des Wachschutzes in der Seniorenoase sein inoffizieller, aber eigentlicher Vorgesetzter der ‘Gesellschaft’ war.
Wolfgang Wolff vergewisserte sich, dass niemand hier unten war, bevor er das Mädchen aus dem Wagen hob. Er trug die Kleine einen schmalen Flur entlang vorbei an der Wäscherei des Heims und den allgemeinen Lagerräumen, bis er über eine schmale Treppe ins Erdgeschoß zu den neu eingerichteten Apartments der Mädels kam. Er öffnete mit dem Ellbogen eine Tür und betrat eine noch unbenutzte Wohnung, wo ihn Nastasia Korolja schon erwartete. Sie übernahm die Kleine, gab ihr umgehend ein starkes Beruhigungsmittel, legte sie aufs Bett und überlegte, ob sie sie fixieren sollte. Sie hielt es für hilfreich, damit Mia nach dem Erwachen aus dem Narkoserausch gleich merkte, dass sie hier nicht freiwillig war. Am Beistelltisch hinterließ sie eine Wasserflasche, dann verschloss sie die Tür und ließ sie allein.
Wolfgang Wolff und Mike Wiegand erstatteten Andrei einen kurzen Bericht, der in seinem Büro die Live-Bilder der Web Cam aus dem Elternhaus von Mia auf seinem PC kontrollierte. Man sah das leere Zimmer von Mia und aus dem Erdgeschoß hörte man den Fernseher auf voller Dröhnung laufen, vor dem vermutlich die zwischenzeitlich aufgewachte Oma saß, die nichts mitbekommen hatte.
Andrei hob den Daumen und winkte die beiden aus seinem Büro. Sie gingen in die Kantine und begnügten sich mit einem Sandwich, weil die Küche schon geschlossen hatte, und legten sich noch ein Stündchen hin, bevor sie am späten Nachmittag zu ihrem Einsatzort fahren wollten.
*
Seit der Drogenkonsum wegen Corona weggebrochen war, musste Oliver Wolff die Transporte vom und zum Depot im Auftrag der Organisation wegen fehlenden Bedarfs und wegen der verschiedenen Reisebeschränkungen in Europa stark reduzieren. Er hatte keine Skrupel seine Leute, die inoffiziell in Andreis „Wachschutz“ Truppe der Seniorenoase integriert waren, mit einer Serie von Geldautomatenaufbrüchen zu beauftragen, um seine Einkommenssituation zu verbessern.
Es juckte ihn nicht, dass diese Aktionen nicht im Interesse der ‘Gesellschaft’ waren.
Oliver, das Sparbrötchen, nutzte die Ausrüstung des Wachschutzes der Seniorenoase. Die Ausrüstung für die Sprengung der Automaten ließ sich problemlos als Gebrauchsmaterial für das Pflegeheim beschaffen und war für die Polizei schlecht nachverfolgbar. Propangas- und Sauerstoffflaschen zum Beispiel kaufte das Heim ‚en gros‘ ein, und den Vorteil nahm Oliver einfach mit. Er selbst stellte nur das Personal und seine Leute benutzten die Fahrzeuge seines eigenen Fuhrparks, der auch für die falschen Kennzeichen sorgte.
Die beiden Männer zogen sich kurz um und trugen jetzt schwarze Arbeitskleidung mit dem Aufdruck „Wachschutz“ und FFP2-Gesichtsmasken. Die Sturmhauben, die sie später überziehen würden, lagen griffbereit. Gleich nachdem sie in ihrem ‚Dienstfahrzeug‘ einem unauffälligen dunkelgrauen Transporter koreanischen Fabrikats ihren Zielort erreicht hatten, bezogen sie Position in unmittelbarer Nähe der Lieferantenzufahrt neben dem Objekt in der Ortschaft Lautern.
Sie saßen im Auto und spielten mit ihren Handys.
„Ich bin mal gespannt, was wir heute abräumen“, übte sich Wolfgang Wolff in düsterer Vorahnung.
Für die Besucher des Einkaufszentrums schienen sie zum erweiterten Personal zu gehören. Sie hatten Ihr Auto außerhalb des Sichtfeldes der Fernsehkameras auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt vorsorglich so geparkt, dass sie auch nicht gesehen werden konnten, wenn das Personal den Markt nach Feierabend durch den Seitenausgang verließ. Während der letzten zwei Wochen nutzten sie in wechselnden Autos und Outfit die Gelegenheit, sich mit dem routinemäßigen Verhalten der Marktmitarbeiter vertraut zu machen.
Ab und zu verließen sie ihr Auto, als ob sie einen Kontrollgang machen müssten, auch das fiel keinem der Marktbesucher auf, und erlaubte später keine verwertbaren Zeugenaussagen. Sie warteten geduldig, bis der Sicherheitsdienst des Marktes nach dem Schließen der Ein- und Ausgänge seine Inspektionsrunden durchgeführt und freigestempelt hatte. Um 01:30 Uhr nachts fuhren sie den Wagen an die dem Haupteingang abgewandte Seite und betraten maskiert den Vorraum mit dem Geldautomaten der örtlichen Sparkasse, der in Erwartung des Kaufwochenendes zum Monatsersten gut gefüllt sein sollte.
Sie platzierten die Propangas- und die Sauerstoffflasche hinter dem Automaten, führten das Zündkabel für den elektronischen, zeitverzögerten Zündschalter in die Kartenöffnung und fixierten die Schläuche mit Magnethalterung ebenfalls an der Kartenöffnung. Die Vorbereitung der Geldautomatensprengung dauerte keine zwei Minuten und die beiden öffneten die Gasventile, bevor sie sich in Ihren Wagen zurückzogen, um den Parkplatz zu überwachen, falls sich ein Unbeteiligter nähern sollte. Alles blieb ruhig, und um diese Zeit würde ohnehin niemand auf die Idee kommen, sich in einem Einkaufszentrum mit Bargeld zu versorgen. Sie warteten, bis die Explosion ausgelöst wurde, und stürmten mit einem Feuerlöscher bewaffnet in den von seinen Glasscheiben befreiten Vorraum. Der Geldautomat mit total demoliertem Oberteil und nahezu unbeschädigter Unterseite widerstand allen Versuchen, an das besonders geschützte Geldmagazin zu gelangen. Sie hatten nicht mehr als zehn Minuten, bis die alarmierte Polizei auftauchen würde, und die Zeit reichte einfach nicht, den Geldschatz zu heben.
Fluchend ließen sie die Sprengausrüstung und den Feuerlöscher zurück und liefen zu ihrem Fahrzeug, um diesmal über die B 47 zu Ihrem Ausgangspunkt in Bad-König zurückzukehren.
Es war ein langer Tag mit jeder Menge Stress für Wolfgang Wolff gewesen, und deshalb war es auch keine Überraschung, dass der elektronische Co-Pilot seines Transporters Wolfgang mehrfach aufforderte, eine Kaffeepause einzulegen. Müde drückte er die Anzeige der Kaffeetasse im Display immer wieder weg, bis er fast mit einem entgegenkommenden Fahrzeug kollidierte. Zumindest war er jetzt wieder hellwach, und fünfzehn Minuten später bog er in den Autoabstellplatz für Gebrauchtfahrzeuge ihres Auftraggebers in Bad-König ein.
Sie montierten die falschen Kennzeichen ab und warfen sie in den Briefkasten zur Schlüsselrückgabe. Dann stiegen sie in ihren Wagen des mobilen Pflegedienstes um, denn das Heim bot auch mobile Pflege und insbesondere spezielle Dienste an.
Sie nahmen ihre Gesichtsmasken ab und steckten sich eine Zigarette an, bevor sie sich auf den Rückweg in ihr Wohnheim machten.