Читать книгу Die Witwe und der Wolf im Odenwald - Werner Kellner - Страница 8

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Kapitel 4

Morde im Namen der "Ehre" sind weit verbreitet in Afghanistan. Die eigenen Verwandten werfen vergewaltigten Mädchen und Frauen vor, Schande über die Familie gebracht zu haben - so werden sie von Opfern zu Täterinnen gebrandmarkt. Dabei gilt auch einvernehmlicher Geschlechtsverkehr der unverheirateten Frau mit einem Mann als Vergewaltigung.

Wiesbaden, Donnerstag 15.10.2009, 19:00 Uhr

Die eindrucksvollen braunen Augen und der Dreitagebart des sportlichen jungen Mannes, ließen die Schmetterlinge im Bauch der Kronzeugenbeauftragten flattern wie jedes Mal, wenn sie ihn traf. Auch dieses Mal fühlte sie, wie ihre Knie weich wurden. Am liebsten wäre sie selbst mit ihm ins Kronzeugenprogramm geflüchtet, aber der Zug war abgefahren. Sie blieb cool und ließ sich, so gut sie es vermochte, nichts anmerken und wickelte die Dokumentenübergabe für sein neues Leben so kühl wie möglich ab.

Der junge Mann, dem eine gewisse Leichtigkeit im Leben, insbesondere dem weiblichen Geschlecht gegenüber, nicht fremd war, empfing sehr wohl die Signale der niedlichen Kronzeugenbeauftragten, die sich jetzt schon jahrelang um die Zeugin und ihre Tochter gekümmert hatte. Er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass ein Versprechen trotzdem ein Versprechen war und dass Treue mindestens genauso wichtig war wie sexuelle Freiheit, und weil er dasselbe von seiner Partnerin erwartete, zwang er sich, aufkeimende Triebe jeder Art zu unterdrücken. Außerdem rüttelte ihn sein Gewissen seit seinem letzten Bruch eines Treueversprechens gegenüber seiner Sandkastenliebe ständig wach, sich ordentlich zu verhalten. Obwohl diese letzte gebrochene Versprechen gar kein richtiges Versprechen war. Nach seinem Empfinden war es eine mehr als angenehme Gewohnheit.

Als frischgebackener Ehemann kümmerte er sich liebevoll und vorrangig um die Sicherheit seiner kleinen Familie. Mit einem entschuldigenden Blick grinste er die Versuchung weg und nahm genauso cool, wie sie sich gab, die Dokumente und das Briefing entgegen. Er drückte sie zum Abschied ohne den erwarteten Kuss auf die Wange. Er würde sie in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.

Wegen seiner schlaksigen und manchmal unbeholfenen Art wurde er leicht unterschätzt. Aber er konnte, wenn er wollte, seine Ziele sehr hartnäckig verfolgen. Als geborener Optimist gab es für ihn nichts Unmögliches. Das wiederum hatte ihm die ganze Mühsal ihrer ständigen Flucht zu ertragen geholfen, denn er sah immer das Licht am Ende des Tunnels. Hier und heute sah er das strahlende Licht des Tunnelendes vor sich und den Anfang einer lebenswerten Zukunft mit einer schönen und intelligenten Frau an seiner Seite, die dennoch seine Hilfe brauchte, um ihre Vergangenheit abzuschütteln.

Er gab sich keiner Illusion hin, dass dies ein Prozess war, der Jahre dauern konnte, aber Geduld war nicht nur eine leere Worthülse für ihn. Er lebte danach.

Der Übergabetermin war wie eine geheime Staatsaktion abgelaufen, um nur ja keine Spur zu hinterlassen. Er hatte auch darauf bestanden, den ursprünglichen Termin um zwei Wochen vorzuziehen, damit nicht durch eine Leckstelle, die er seit längerem bei der Staatsanwaltschaft vermutete, das Programm scheitern könnte. Es gab zu viele Vorfälle in der Vergangenheit, seine Frau aus dem Verfahren zu entfernen, die glücklicherweise alle gescheitert waren.

Das kleine Mädchen mit den samtschwarzen Locken und den großen, wasserblauen Augen, das seiner Mutter bis auf die Augenfarbe so sehr ähnelte, saß die ganze Zeit, während er beschäftigt war, auf der Besucher Couch und spielte mit einer Puppe. Er verließ das Haus mit dem Kind auf dem Arm direkt über die Tiefgarage und lief, den Kopf gesenkt, zu seinem, auf dem Besucherparkplatz abgestellten Minivan, packte die Kleine in den Kindersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad.

Bevor er auf die A3 in Richtung Wiesbaden einbog, sah er im Rückspiegel, dass die Kleine immer noch mit der Puppe beschäftigt war, atmete tief durch und schloss die Augen.

Die letzten Monate waren alles andere als stressfrei, wenn er an die Vielzahl der Hürden dachte, die es bis zur Entgegennahme der Papiere vor fünfzehn Minuten zu überwinden galt. Obwohl alles akribisch dazu vorbereitet war, fühlte er sich immer noch wie ein Fallschirmspringer, der vor der offenen Flugzeugluke stand und vor einem nächtlichen Absprung über unbekanntem Terrain ins Dunkle starrte.

Nein, widersprach er sich selbst, er wollte in eine sonnendurchflutete Zukunft springen, und die dunklen Schatten hinter sich lassen.

Er hatte unter dem Zeugenschutzprogramm, welches das hessische Landeskriminalamt für ihn organisiert hatte, gemeinsam mit den beiden eine neue Identität mit erfundenem Lebenslauf erhalten.

Für ihren künftigen Lebensmittelpunkt empfahl sich Hamburg. Einen Arbeitsvertrag als Angestellter eines bekannten Haftpflichtversicherers hatte er unterschrieben. Für seine Frau, die mit einem Informatikstudium glänzte, welches sie an einer russischen Hochschule erworben hatte, wäre es ein leichtes, an ihrem neuen Wohnort einen Job zu finden. Er strahlte beim Gedanken an seine Frau, die sich so unvorhersehbar nach der gewaltsamen Festnahme und Verletzung in seine Fürsorge und mehr begeben hatte.

Sie hatte spontan seine Liebe erwidert, obwohl es für beide echt schwierig war, sich wegen ihrer gegenseitigen Sprachdefizite zu unterhalten.

Eine Liebe, die keine Worte brauchte, war bei beiden so rasch aufgeblüht, dass er selbst nicht verstand, was da ablief. Er löste seine Verlobung mit seiner ewigen Sandkastenfreundin und wollte sich nicht eingestehen, dass er ziemlich unfair ihr gegenüber war.

Kurze Zeit, nachdem die Zeugin aus dem Krankenhaus entlassen worden war, in dem sie mit ihrer schweren Schussverletzung behandelt worden war, heirateten die beiden. Bei der Geburt ihrer Tochter durfte er dabei sein, und seine neue Verantwortung für seine kleine Familie verschaffte ihm ein starkes Glücksgefühl. Die Tochter war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von da an durfte er sich um zwei schöne Frauen kümmern, die ab sofort sein Leben bestimmen würden, wie er es scherzend nannte.

Aber es sollte alles anders kommen.

Als er kurz nach 14:00 Uhr die sichere Wohnung in Wiesbaden verlassen hatte, wollte er für maximal zwei Stunden wegbleiben, um mit Emina seine Dokumente vom Amt abzuholen. Ursprünglich sollten sie zu dritt die Unterlagen abholen, aber seiner Frau ging es die letzten Tage nicht so gut.

Die komplette Lebensumstellung, ein diffuses Heimweh nach ihrem fernen Zuhause und die Gewissheit, ihre Familie in Afghanistan nie mehr zu sehen, hatten ihr offensichtlich schwerer zugesetzt, als er dachte. Sie hatte während des ganzen Prozesses nur sehr zurückhaltend mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und keine Details über ihre Familie und die eigentliche Führungsmannschaft der ‚Bratwa‘ kundgetan. All das hatte sie nur getan, um zu überleben.

Sie war so bedrückt, wie er sie lange nicht gesehen hatte, und er fühlte sehr wohl, dass sie ihm irgendetwas verheimlichte. Etwas, womit sie versuchte, alleine klar zu kommen. Und er wollte nicht zu sehr in sie dringen in dieser Zeit so kurz vor der neuen Identität und Zukunft. Es musste sich um etwas tief in ihrem Inneren verborgenes und weit zurückliegendes handeln, vielleicht sogar aus ihrer Jugendzeit, von der er so gut wie gar nichts wusste. Andererseits hatte sie zu niemandem Kontakt, sie verließ kaum mehr die Wohnung und wenn sie telefoniert hätte, wüsste er das.

Und hier irrte der Personenschützer.

Von der Befürchtung, dass ihr patriarchalischer, afghanischer Vater auch hinter ihr her war, um die Schande zu tilgen, die sie über die Familie gebracht hatte, erzählte sie ihrem Ehemann nichts. Dass der junge Mann, den sie beim Staatsanwalt getroffen hatte, ihr Bruder war, erzählte sie ihm auch nicht. Sie erklärte das Treffen damit, dass der Staatsanwalt einen Dolmetscher für ein unsittliches Angebot an sie engagiert hatte, das sie aber abgelehnt hatte. Sie redete sich ein, dass sie ihn damit nicht beunruhigen wollte.

Um sie zu schonen, hatte er deshalb auch nur ihre fünfjährige Tochter auf den Behördengang mitgenommen, um die Dokumente persönlich zu übernehmen. Der gesamte Prozess auf dem Amt hatte dann, wegen eines unvorhergesehenen Staus auf der Friedberger Landstraße sowie der strengen Geheimhaltungsanforderungen deutlich länger gedauert als geplant.

Es war schon so gegen 19:30 Uhr, als er den Minivan zurück in die Tiefgarage der Wiesbadener Wohnanlage steuerte.

Er hatte mit seiner Frau besprochen, dass sie unmittelbar nach seiner Rückkehr ihr Gepäck ins Fahrzeug laden würden, um direkt loszufahren. Er wollte kein Risiko eingehen. Mit neuem Namen, neuen Papieren und einem Konto mit einem Grundstock, das sie in dieses neue Leben starten ließ. All die Tage zuvor hatte er versucht, sie aufzuheitern, was nicht so recht gelingen wollte. Wenn sie schwermütig war, wollte sie in Ruhe gelassen werden. Aber das war so schwer.

Als Erstes fiel ihm der dunkle Van am Eingang der Tiefgarage auf, den er hier noch nie gesehen hatte, und der ein Kennzeichen des Odenwaldkreises trug. Sein Misstrauen war geweckt, und er schwankte einen Moment, was er mit seiner auf dem Rücksitz eingekuschelten Tochter tun sollte.

Sie war auf der Rückbank eingeschlafen, und so ließ er sie wie üblich im Auto, wenn er nach Hause kam, um als Erstes zu prüfen, ob der Weg in die Wohnung sicher wäre. Schon beim Betreten des Apartments beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Alles war dunkel und niemand reagierte auf sein, „hallo Schatz, wir sind wieder zurück”, als er sich in Richtung Schlafzimmer bewegte, in der Annahme, dass seine Frau sich hingelegt hatte. Das Zimmer war ebenfalls dunkel. Er fand sie im Schlafzimmer im Bett seltsam ausgestreckt unter der Decke und in völlig ungewohnter Weise auf seiner Bettseite liegend vor. Ihr Gesicht war ihm abgewandt und sie blickte auf ihre Bettseite.

Er schüttelte sie zärtlich, aber sie reagierte immer noch nicht und fühlte sich kalt und steif an. Er knipste die Nachttischlampe an und konnte keinen Puls fühlen. Dafür sah er ein Einmal-Injektionsbesteck auf dem Nachttisch, und als er die Decke zurückschlug, sah er den abgebundenen Arm und die Einstichstelle in der Armbeuge.

Sie war tot und in der Wohnung war es totenstill.

Er betrachtete sie lange und eine unsagbare Trauer ergriff ihn. Ihr wunderschönes Gesicht war entstellt von dem starr geöffneten Mund, ihren schreckhaft geweiteten Augen und die Pupillen groß und schwarz starrten durch seinen Blick hindurch ins Leere. Als er versuchte, den Kopf zu sich drehen, merkte er, dass die Totenstarre schon eingesetzt hatte.

Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass ihre Halskette abgerissen war und der Anhänger fehlte. Aus den Kratzspuren am Hals schloss er, dass ihr das russische Kreuz mit Gewalt entrissen worden war. Beim genaueren Hinsehen sah er minimal ausgeprägte Druckspuren eines Daumenpaares an ihrem Hals. Der Mörder musste den Anhänger mitgenommen haben, denn dass es sich um keinen Selbstmord handelte, war ihm als Ex-Ermittler der Polizei sofort klar.

Die Totenstarre hatte bis auf die äußeren Extremitäten fast vollständig eingesetzt, was bei der herrschenden Raumtemperatur auf einen frühesten Todeszeitpunkt von etwa 15:00 Uhr schließen ließ. Der Täter musste unmittelbar nach seinem Verlassen der Wohnung erschienen sein. Vermutlich hatte der sogar gewartet, bis er ging, weil er wusste, was er vorhatte. Und wenn er wegen des Unwohlseins seiner Frau nicht seine Tochter ins Büro der Staatsanwaltschaft zur Dokumentenübergabe mitgenommen hätte, dann wäre sie jetzt auch tot.

Es tat ihm so weh, dass er seine Frau untersuchen musste, wo er ihr am liebsten nur die Augen geschlossen hätte, um zu trauern. Er fühlte den Schmerz über den Verlust fast körperlich und nicht nur das. Die Angst vor dem langen Arm der Mafia kam dazu. Diese Angst war verbunden mit dem Drang seine Tochter zu retten und vor einer permanenten Bedrohung zu fliehen, die nicht enden wollte. Der Zwiespalt, sich entscheiden zu müssen, zwischen der sofortigen Flucht und der Notwendigkeit kühl zu bleiben und die Situation zu analysieren, zerriss ihn fast. Als Ex-Polizist war er es gewohnt, Tatorte zu untersuchen, und sein Schlafzimmer war ein Tatort, da gab es keine Zweifel. Er erstarrte, als er die Decke vollständig zurückschlug und die Vergewaltigungsspuren sah. Er zwang sich dazu, mehrere Fotos von seiner toten Frau auf dem Bett zu schießen und die Tat zu dokumentieren.

Der Hinweis mit dem fehlenden Anhänger und die offensichtliche Vergewaltigung war ein zu eindeutiges Zeichen eines Auftragsmörders der Mafia. Von jemandem, dessen Ehre so tief verletzt war, dass er einen Mordauftrag der schlimmsten Art befahl. Dabei wurden absichtlich keine Spuren verwischt, um einen Rachemord an einer Verräterin zu demonstrieren.

Der Auftrag war eindeutig, um seiner Frau den Status einer ‚Wory‘ abzuerkennen, den sie sowieso abgelegt hatte. Und der Mörder war noch nicht fertig, warum hätte er sonst das Familien-Foto vom Nachttisch mitgehen lassen. Das Familienfoto, das sein Töchterchen auf dem Schoß der Mutter und ihn dahinter stehend zeigte, und das eingerahmt am Nachttisch stand, war verschwunden.

Er musste ausschließen, dass der Täter noch in der Wohnung war, und durchsuchte sie sorgfältig. Die Glock entsichert, schlich er von Zimmer zu Zimmer.

Fehlanzeige. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes oder der Anwesenheit eines Fremden.

Dann fiel ihm siedend heiß der Van mit den abgedunkelten Scheiben und dem Kfz-Kennzeichen des Odenwaldkreises ein, der an der Ausfahrt der Tiefgarage parkte, und den er hier noch nie gesehen hatte.

Verstört lief er in die Garage, um nach seiner Tochter zu schauen. Der Van stand noch immer an der Ausfahrt, und er meinte auf der Fahrerseite einen Schatten zu sehen. Die Glock mit Schalldämpfer im Anschlag schlich er von hinten an den Van und versuchte, außerhalb des Sichtwinkels der Rückspiegel zu bleiben.

Er war nur noch wenige Meter vom Heck des Wagens entfernt, als der Motor aufheulte, und der Van mit quietschenden Reifen und ohne die Scheinwerfer einzuschalten, die Ausfahrt hoch raste. Ohne groß zu überlegen, schoss er eine Serie durch die Heckscheibe, die zersplitterte, aber die Schüsse brachten den Wagen nicht zum Stehen. Der schwere Wagen schlingerte leicht und verschwand um die Ecke.

Er speicherte das Kennzeichen ab und lief zu seinem Minivan, in dem die fest schlafende Tochter lag. Er nahm sie vorsichtig aus dem Auto, brachte sie direkt ins Kinderzimmer und machte ihr etwas zu essen. Als er das Zimmer verließ, war sie schon eingeschlafen. Er war hellwach und in einem Zustand der Hypersensibilität.

Er setzte sich vor seinen Laptop und scannte die Videos, welche die Kamera mit Bewegungsmelder in der Tiefgarage aufgezeichnet hatte. Im fraglichen Zeitraum ab 14:00 Uhr bis jetzt sah er einige bekannte Gesichter von Nachbarn, die er nur vom Sehen kannte, kommen und gehen und nur eine Handvoll Personen waren unbekannt. Auf zwei junge Kerle mit Hoody und schlecht erkennbaren Gesichtszügen folgte ein eng umschlungenes Pärchen, aber beide Gesichter waren abgewandt und nicht zu erkennen. Ein paar Teenager trabten an der Kamera vorbei, die mit einem Fußball unterwegs waren, und dann kam ein Jogginganzug-Träger mit Kapuze, der zu einem schlecht auszumachenden jungen Mann mit dunklem Teint und ein paar dunklen Locken gehörte. Dann entstand eine längere Pause, bis eine junge Frau mit einem Kinderwagen durch das Bild rollte. Darauf folgte ein Anzugträger mit Krawatte, der Figur nach ein Bodybuilder mit Kinnbart und einem Tattoo am Hals. Zum Schluss sah er noch einen Jogginganzug-Träger mit Kapuze und bis zur Nase hochgezogenem Kragen, der wieder umdrehte, weil er etwas in seinem Auto vergessen hatte. Er konnte niemanden identifizieren, sicherte die Datei und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Der Typ mit den Tätowierungen passte zu seiner Vorstellung eines Auftragsmörders, aber da er ihn nicht kannte, nützte ihm die Erkenntnis wenig.

Das Loch, das sich jetzt vor ihm auftat, es hätte schwärzer nicht sein können. Alles, was er so mühsam vorbereitet hatte, war mit einem Schlag wie weggewischt.

Dumpf vor sich hinbrütend saß er eine Stunde lang auf der Couch und versuchte den Zorn, der in ihm hochkochte, zu unterdrücken. Um 20:30 Uhr hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen.

Zuerst müsste die Leiche verschwinden, um die Auftraggeber des Auftragsmordes zu irritieren, und danach würde er eine Vermisstenmeldung an die Polizei abgeben und sich mit Emina endgültig absetzen. Danach würde er weitersehen, wieweit eine Zusammenarbeit mit den Ermittlern noch zweckmäßig und sinnvoll war. Der Prozess war erstmal geplatzt, und er und Emina waren als Zeugen eine Fehlanzeige. Er würde die neuen Identitäten dennoch benutzen, aber anders als vom Programm vorhergeplant.

Er rief mit heiserer Stimme seinen Vater an, den er getreu seinem Auftrag aus dem Zeugenschutz bisher vollkommen aus der Sache herausgehalten hatte, und fragte ihn, ob er Alina würdig aber ohne Aufsehen und am besten klammheimlich begraben könnte. Er sagte weder, was passiert war, noch gab er Einzelheiten preis, nur so viel, dass er seine Frau verschwinden lassen und ihren Tod verheimlichen wollte.

Was für eine Frage an den eigenen Vater, noch dazu wenn es um die Ehefrau ging, die er nur so kurz lieben gelernt hatte, und wegen der sein Leben jetzt kopfstand. Er war ziemlich sicher, dass er das Zeugenschutzprogramm für seine Tochter und sich selbst angesichts der Umstände vergessen könnte. Sie waren, was ihre Sicherheit anbelangte, ab jetzt auf sich allein gestellt. Immerhin hatten sie alles, was zum Aufbau einer neuen Identität notwendig war.

Es war unglaublich, und so hatte er ihn noch nie erlebt, wie einfühlsam sein Vater mit dem Thema umging. Der junge Mann hatte in seiner Bemühung, den Tod seiner Frau zu vertuschen, seine Mutter komplett außer Acht gelassen. Dass sie heute nicht zu Hause war, wusste er vorher nicht, aber es half ihm, seine geplante Aktion mit seinem Vater ohne große Aufregung durchzuziehen.

Und obwohl sein Vater vermutlich ahnte, worum es ging, fragte er nicht groß nach, und so wie es sein erster Gedanke war, hielt auch sein Vater den Ruheforst im südlichen Odenwald für den bestmöglichen Begräbnisort. Er musste es einfach riskieren, sie noch heute nach Erbach ins Beerdigungsinstitut seines Vaters zu bringen, wenn er den Zug morgen früh erreichen wollte.

Seine Tochter schlief immer noch tief und fest. Er trug zuerst seine auch im Tod noch so wunderschöne junge Frau in die Tiefgarage, setzte sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie fest. Dann holte er die Kleine, die nicht wach wurde, als er sie auf dem Rücksitz zum Weiterschlafen hinlegte.

Fünfzig Minuten später fuhr er bei seinem Vater in den Hof, und gemeinsam brachten sie die Tote in den Vorbereitungsraum, legten Sie in einen Sarg, den sein Vater bereits für eine Feuerbestattung vorbereitet hatte. Morgen würde er sie, ausgestattet mit einem Totenschein seines Hausarztes, verbrennen lassen. Beim Begräbnis könnte er natürlich nicht dabei sein, aber klammheimlicher ging es einfach nicht.

Kurz nach Mitternacht, wieder zurück in Wiesbaden, begann er wahllos Klamotten zusammenzusuchen, seinen Laptop, seine Fotoausrüstung, aber auf jeden Fall nichts, was ihn sonst noch in der neu gewählten Wirklichkeit an die Vergangenheit erinnern könnte. Er stopfte alles in einen großen Koffer und bestellte das Taxi für 04:45 Uhr. Nach zwei Stunden Schlaf stand er mit einer schlaftrunkenen Fünfjährigen im Arm am Straßenrand, um auf das Taxi zu warten.

Im Taxi begann sie zu weinen, weil ihre Mama nicht da war, und er ihr keinen Trost spenden konnte und keine Erklärung, warum sie ohne Mama fortlaufen mussten.

Er schluckte schwer, denn die Fragen würden nicht aufhören und er wollte und konnte seiner kleinen Tochter nicht die Wahrheit erzählen.

Nicht jetzt und vermutlich noch lange nicht.

Im Auto schickte er eine offizielle SMS an die Notrufnummer der Polizei, wobei er sich als Personenschützer der Kronzeugin auswies, um einen Überfall und die Vergewaltigung seiner Frau zu melden, offensichtlich eine Racheaktion der Mafia an der Kronzeugin.

Er fügte ein Foto seiner Frau auf dem zerwühlten Bett bei, so wie er sie schwerverletzt nach seiner Rückkehr vorgefunden hätte. Der Vollständigkeit halber beschrieb er das vermutete Fluchtfahrzeug des Täters mit dem Kennzeichen des Odenwaldkreises und gab an, dass er die Heckscheibe zerschossen hatte. Ob er den Fahrer getroffen hatte, konnte er nicht sagen. Der Wagen hatte geschleudert, aber seine Fahrt fortgesetzt.

Er bat die Kollegen abschließend, alle verfügbaren DNA Spuren auf dem zerwühlten Laken zu sichern und mit dem Register in der Kriminaldatei zu vergleichen.

Als Letztes fügte er an, er wäre auf dem Weg in eine Privatklinik, um seine Frau unter voller Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes behandeln und hoffentlich retten zu lassen.

Er wollte für die Organisation gezielt falsche Spuren hinterlassen, und den Tod seiner Frau ebenso verheimlichen wie seinen künftigen Wohnort, der von ihm sorgfältig geplant und deutlich vom Zeugenschutzprogramm abwich.

Er sah eine schwere Zeit auf sich zukommen, und er sollte Recht behalten.

Im Taxi zum Hauptbahnhof passte der Song von Sia

‚Never Give Up‘ wie eine Faust aufs Auge:

I've battled demons that won't let me sleep Called to the sea but she abandoned me

But I won't never give up, no, never give up, no, no No, I won't never give up, no, never give up, no, no

And I won't let you get me down I'll keep gettin' up when I hit the ground Oh, never give up, no, never give up no, no, oh

Am Bahnhof kaufte er zwei erste Klasse Tickets nach Genf und erwischte den ICE 991 über Mannheim und Basel nach Genf um 05:26 Uhr gerade noch, denn der war diesmal ausnahmsweise pünktlich.

Er war sicher, mit diesem Schritt die Vergangenheit und seine Verfolger solange abschütteln zu können, bis die Angelegenheit aus den Schlagzeilen verschwunden wäre. Und er mit seiner Tochter ein Leben führen könnte, das frei war von ständiger Bedrohung, wo er sich nicht ständig umsehen und Rücksicht auf irgendwelche Ehrenkodices nehmen müsste.

Ab sofort hatte die Sicherheit seiner Tochter vor ihren Verfolgern oberste Priorität. Er schwor sich, alles zu tun, dass sie künftig auf sich allein aufpassen konnte. Sie sollte als Frau und wegen ihrer afghanischen Gene nicht ständig gezwungen sein, die zweite Geige zu spielen. In der Schweiz hatten die Frauen auch erst seit den 90er Jahren volles Wahlrecht und in den Köpfen der Menschen seiner Heimatgemeinde im Odenwald war das Meinungsbild nur geringfügig anders. Eine spätere Rückkehr in seine Heimat nach einem Jahrzehnt im Untergrund, um seine Verfolger abzuschütteln, wollte er a priori jedenfalls nicht ausschließen.

Er wollte außerdem die Suche nach dem Mörder seiner Frau nicht komplett aber zumindest für die nächste Zeit einstellen. Er kannte das Spiel, und jede Suche seinerseits nach dem Mörder würde unübersehbare Spuren hinterlassen und eine Gegenreaktion auslösen, die er definitiv nicht wollte.

Sein Wunsch nach einem unbeschwerten Leben, wäre schwierig genug zu realisieren. Aber der Wunsch war da, und es war ihm wichtig, seine Tochter behutsam und in erträglichen Dosen über das Geschehene aufzuklären. Ganz allmählich wollte er ihr ermöglichen, Lebensfreude und Stärke als Schutz gegen eine nicht immer freundliche Welt aufzubauen. In der Toleranz und gegenseitiger Respekt ein hohes, aber seltenes Gut waren.

Er hatte sich eine Geschichte zurechtgelegt, in der ihre Mama ganz plötzlich verschwunden war und niemand wusste, was geschah. Sie war einfach nicht mehr da, aber er würde sie suchen und finden. Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen, dass ihre Mama tot war, und hoffte, die Erklärung, dass sie spurlos verschwand, wäre leichter zu ertragen.

Die Witwe und der Wolf im Odenwald

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