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Kapitel 2

Karl Miltner, geboren 4.7.1965 in Karl-Marx-Stadt. Verheiratet, ein Sohn, Jura Studium in Dresden. Seit 1990 Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main, verdeckter Informant der ‚Bratwa‘. Vertreter der Anklage im Drogenprozess von Frankfurt.

Staatsanwaltschaft Frankfurt, Mittwoch 14.10.2009, 12:30 Uhr

Müde, den Kopf in die Hände gestützt, saß ein leicht ergrauter Mann, die Brille hatte er abgesetzt, an seinem Schreibtisch im Büro der Frankfurter Staatsanwaltschaft, in der Konrad-Adenauer-Straße. Seine Gedanken kreisten ebenfalls um den größten Drogenprozess in Frankfurt, seit er im Amt war.

Er war unmittelbar, nachdem der Vorsitzende Richter die Sitzung im Anschluss an das Schlussplädoyer der Verteidigung geschlossen und den Termin für den Schlussvortrag der Anklage festgelegt hatte, in sein Büro gefahren.

Karl Miltner, seines Zeichens Oberstaatsanwalt und zuständig für Drogendelikte, hatte sein Mobiltelefon mit der anonymisierten prepaid Simkarte in der Hand, mit dem er ausschließlich mit seinem direkten Kontaktmann der ‘Gesellschaft’ kommunizierte. Er zögerte den Anruf hinaus, mit dem er seinen Ärger auszudrücken gedachte, aber dieses Mal wollte er seine Position und seine Forderung unmissverständlich übermitteln. Zu hohes Risiko hatte sich angesammelt und zu viel stand für ihn auf dem Spiel. Er hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, um dieses Risiko zu eliminieren, und war nicht länger bereit, unter dem Damoklesschwert der latenten Enttarnung zu leben.

Sein Alleingang, mit dem er sich selbst aus der Schusslinie bringen wollte, um die Kronzeugin im letzten Moment vor der Urteilsverkündung in einem nicht-dokumentierten Vieraugengespräch aus dem Verfahren zu entfernen, war fehlgeschlagen. Obwohl er die Sache äußerst diskret angepackt hatte.

Der Gedanke zu diesem Versuch, die Zeugin lautlos aus dem Verfahren zu entfernen, war die Folge eines Anrufs eines afghanischen Verwandten der Zeugin. Der junge Mann hatte sich bei ihm direkt gemeldet, weil er im Auftrag der Familie eine ‚informelle‘ und schnelle Auslieferung der Kronzeugin vor einer Verurteilung erreichen wollte. Er berief sich auf seinen Vater, der ein hochrangiger Berater der afghanischen Regierung wäre, wobei er selber als offizieller Übersetzer im Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan tätig sei. Er bat den Oberstaatsanwalt, um eine Gelegenheit mit der Zeugin unter vier Augen zu reden, denn ihre Zustimmung für eine straffreie Rückkehr in ihre Heimat würde das Unterfangen erleichtern.

Der Oberstaatsanwalt hatte das Angebot spontan als Chance gedeutet, die sein Problem lösen könnte. Kurz entschlossen organisierte er das Gespräch mit der Zeugin und lud den Dolmetscher mit Diplomatenstatus dazu ein. Der Anklagevertreter wollte der Zeugin unter dem Vorwand, ihr eine unkomplizierte Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, einen ‚besseren‘ Deal, als die ungeliebte Kronzeugenregelung anbieten. Für den Fall, dass sie im Kronzeugenstatus bliebe, wollte er die Drohung im Raum stehen lassen, dass er ihr die Aussetzung einer Gefängnisstrafe zur Bewährung leider nicht garantieren könne. Er bot ihr stattdessen eine geordnete Rückführung in ihre Heimat und einen ordentlichen Geldbetrag obendrauf an, wenn sie unverzüglich aus dem Kronzeugenprogramm aussteigen und alle ihre Aussagen zurückziehen würde. Er würde im Gegenzug die Anklage gegen sie aussetzen, um ihr so straffrei die Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrer Familie zu ermöglichen.

Der junge Mann, der sich sosehr um eine Rückreise seiner Schwester nach Afghanistan bemühte, hatte während des Gesprächs intensiv auf die Kronzeugin eingeredet und nach Ansicht des Oberstaatsanwaltes nicht nur übersetzt, sondern das Ganze vermutlich noch drastisch ausgeschmückt. Karl Miltner hatte den jungen Mann, während der auf die Zeugin einredete, intensiv beobachtet. Menschen zu lesen war sein Metier. Nach dem Goldschmuck zu urteilen, den er trug, stammte er aus reichem Haus. Die unübersehbar arrogante und unfreundliche Haltung des Mannes der jungen Frau gegenüber ließ auf einen höheren Rang im Clan oder der Familie schließen. Er hatte feine, fast aristokratische Züge und wenn man genauer hinsah, konnte man sogar so etwas wie eine Ähnlichkeit zur Zeugin erkennen. Miltner wunderte sich, wieso der junge Mann mit Diplomatenstatus als Übersetzer tätig war, aber er hätte nie vermutet, dass die Zeugin und der Dolmetscher Geschwister waren.

Das lag zum Teil daran, weil er nicht alles mitbekam, was zwischen den beiden gesprochen wurde. Er konnte aber an der Reaktion der Zeugin ablesen, dass sie offensichtlich schwer unter Druck geriet. Er bat den Dolmetscher, nicht zu viele Drohungen in seine Übersetzung einzubauen, es wäre besser, die Vorteile einer straffreien Zukunft in ihrer Heimat zu betonen, und der Übersetzer nickte und fuhr fort.

Der Dolmetscher warf nach dem zweistündigen Gespräch bedauernd das Handtuch und teilte dem Oberstaatsanwalt mit, dass die Zeugin trotz seiner Anstrengungen das Angebot für eine Rückführung in den Schoß der Familie vorerst abgelehnt hatte. Er sagte, die Zeugin hätte darum gebeten, seinen Vorschlag zu überschlafen. Ein zweites Gespräch wäre notwendig, was der Oberstaatsanwalt akzeptierte.

Nachdem der junge Mann aus Afghanistan das Büro des Oberstaatsanwaltes verlassen hatte, verabredet er sich nachträglich mit der Zeugin für ein Vier-Augen-Gespräch.

Fünf Minuten später betrat der Staatsanwalt den Biergarten im gegenüberliegenden Restaurant zu einem kleinen Imbiss und sah die beiden dort abgeschirmt in einer Ecke bei einer Tasse Tee sitzen. Es kam ihm so vor, als ob der Dolmetscher mit der jungen Frau Telefonnummern austauschen würde.

Der Oberstaatsanwalt beendete seine Grübelei, vor allem versuchte er nicht mehr, an mögliche Konsequenzen von Seiten des Bosses zu denken. Der hätte ihm vermutlich diesen waghalsigen Versuch, die Kronzeugin auf seine Art zum Schweigen zu bringen, strikt verboten. Dem Anklagevertreter war bekannt, dass der Boss ‚Eigentümerrechte‘ auf die junge Frau beanspruchte.

Rückblickend gestand er sich ein, dass sich der Prozess für ihn zum Albtraum entwickelt hatte, denn der Boss ließ nicht locker und seine Anmahnungen zur Beseitigung der Kronzeugin wurden drängender, ohne dass er eine Chance hatte, diese Forderungen zu erfüllen. Der Anführer erklärte ihn zum Versager und drohte ihm und seiner Familie mit Konsequenzen. Er schüttelte den Kopf, wenn er daran dachte, dass ihn seine Frau schon seit Jahren zum Ausstieg aus der Bruderschaft zu bewegen versuchte. Er winkte jedes Mal ab, wenn sie wieder davon anfing, und erklärte, wie schwierig eine Abkehr aus der ‚Gesellschaft‘ wäre.

Schier unmöglich.

Hatte man einmal den Eid auf die ‚Gesellschaft‘ geschworen, so bedeutete das, für immer dabei zu sein. Seiner Frau schwebte ein neues Leben, ein Kaltstart im Ausland vor, und sie bettelte ihn an, er möge an den gemeinsamen Sohn denken. Eben darum erklärte er ihr, ginge es nicht. Die Drohung der Sippenhaft hinge über allen.

Und das gefiel Karl Miltner überhaupt nicht.

Er hatte die ganze Zeit darauf vertraut, dass der Boss die Kronzeugin des Prozesses unauffällig und sauber beseitigen würde. Er hatte jede Art von Anstrengung unternommen und persönlich die Daten ihres sicheren Aufenthalts, und das mehrfach, an seinen Kontakt durchgesteckt. Mit jedem gescheiterten Anschlag auf die Zeugin war es für ihn schwieriger geworden, die neuen Daten aus dem System zu fischen. Das zuständige Landeskriminalamt arbeitete nicht nur zuverlässig, sondern effizient, was die Geheimhaltung vertraulicher Daten aus dem Zeugenschutz anbelangte. Zähneknirschend sah er machtlos zu, dass sich die kleine Familie in sicheren Wohnungen bewegte.

Seine Angst von der ‘Gesellschaft’ wegen Obstruktion bestraft zu werden, wurde zusätzlich belastet von unangenehmen Signalen, die er aus seiner eigenen Behörde empfing.

Immer deutlicher wurde ihm signalisiert, dass man innerhalb der Staatsanwaltschaft und bei den zuständigen Ermittlern Verdacht schöpfte, denn einige der von ihm weitergeleiteten Daten waren nach dem ersten gescheiterten Entführungsversuch falsch und einmal wurde der Bande eine Falle gestellt.

Er argwöhnte zudem, dass eine interne Ermittlung gegen ihn im Gange war. Seit ihm der Fall zwar nicht direkt entzogen worden war, man hatte ihn zum Supervisor ernannt, war sein Zugriff in die Steuerung des Prozesses massiv eingeschränkt.

Verzweifelt arbeitete er daran, um sich der Verdachtsmomente wegen Amtsmissbrauchs zu entledigen und seine Spuren zu verwischen.

Das Schlussplädoyer der Anklage, in dem es massiv auf die Aussagen der Kronzeugin ankam, lag nunmehr in den Händen seines Mitarbeiters, der den Antrag für das Strafmaß deutlich gegenüber seinen Anträgen zu Beginn des Verfahrens erhöht hatte. Zwei Wochen standen ihm noch zur Verfügung, um das zu ändern.

Eine ungewohnte Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, und von Woche zu Woche steigerte sich seine innere Unruhe. Echte Ruhe würde erst einkehren, wenn die Zeugin außer Landes oder besser noch tot wäre.

Er seufzte. Seine Geduld war erschöpft.

Aus Angst aufzufliegen, wollte er jetzt und sofort von seinem Kontaktmann die klare Zusage, dass dieses Risiko ein Ende haben sollte. Dass die Zeugin endgültig zum Schweigen gebracht würde. Der Boss hatte zwar während des ganzen Prozesses gedroht, er würde hart durchgreifen, aber tatsächlich schreckte er vor dem harten und finalen Schritt der Tötung der Kronzeugin zurück und versuchte es mehrmals mit Entführungen, die allesamt kläglich scheiterten. So brutal er sonst gegen Gefährder der ‘Gesellschaft’ vorging, so zurückhaltend handelte er, wenn es um die Frau ging, die seine Geliebte war, und die dennoch den Laden verpfiffen hatte.

Die Beweggründe der Zeugin, warum sie sich mit diesem Windhund von Ermittler einließ und sich von ihm ein Kind machen ließ, waren ihm völlig egal. Nicht egal war ihm das Risiko, dass für einen Maulwurf sein Schicksal als Staatsanwalt in ihren Händen lag.

Wenn er seinem Bauchgefühl gefolgt wäre, hätte er sie längst töten lassen, so wie er es mit diesem Heiner Mummert arrangiert hatte. Damals hatte er den Boss so lange mit Informationen gefüttert, bis der beschloss, diesen Dreckskerl von einem Investigativ-Journalisten abzuknallen, der ihnen allen zu nahe gekommen war.

Er hatte seinen Teil der Aufgabe, den der Boss jetzt von ihm konkret erwartete, nach seiner Ansicht mehr als nur erledigt. Er hatte sämtliche geforderten Daten zum aktuellen sicheren Wohnort gestern beschafft, obwohl er das Risiko kannte, wenn er im Datenbereich des LKA unberechtigterweise recherchieren würde. Und er hatte überdies die Information geliefert, wann der Übertritt in das offizielle Kronzeugenprogramm angesetzt war.

Glücklicherweise konnte er sich diesen Zutritt in einem letzten verzweifelten Ansatz einfacher verschaffen, als er hoffte, und er musste noch nicht einmal seine immer noch gültigen Administratorenrechte einsetzen, was eventuell nachvollziehbar gewesen wäre. Netterweise hatte sich die Kronzeugenbeauftragte des LKA morgens eingeloggt und danach aus reiner Bequemlichkeit das Zugangskonto offengelassen, sodass sich jeder von ihrem PC aus in der Datenbank frei bewegen konnte. Diese Art von Dateneinsicht wurde vom System weder als Vorgang noch als Verstoß registriert, und die Daten waren zu diesem Zeitpunkt im IT-System der Staatsanwaltschaft auch nicht mit einem separaten Passwort gesichert. Er war unbehelligt in der Mittagspause in ihr Büro in Frankfurt spaziert und hatte sich die Daten, die er brauchte, aus dem System geholt. Dann war er wieder verschwunden.

Vor wenigen Minuten hatte er seinem Kontakt die gewünschten Angaben zum aktuellen Zufluchtsort der Kronzeugen per SMS durchgegeben und zusätzlich den Zeitpunkt, zu dem der Übertritt der Familie in die neue Identität stattfinden sollte. Der für den Boss wichtige Teil der Aufgabe war erledigt, der für ihn kritische Teil stand ihm noch bevor.

Er atmete durch, drückte entschlossen die Kurzwahl, und sein Kontakt nahm seinen Anruf sofort entgegen.

Anders als erhofft, ließ sich sein Gesprächspartner trotz seiner Gefährdungslage und seines persönlichen Risikos nicht in seiner Haltung beirren. Er lehnte seine Forderung glatt ab, die Zeugin final zu beseitigen. Er teilte ihm stattdessen lakonisch mit, der Boss hätte unbeirrt seinen Plan bekräftigt, die junge Frau mit Tochter so unauffällig und schnell wie möglich außer Landes zu bringen. Seine Rache galt ausschließlich dem Dieb seiner Geliebten und nicht der Geliebten selbst. Er wollte gegenüber dem Personenschützer und Dieb seines Eigentums ein Exempel statuieren, und ihn mit der Geiselnahme seiner Familie bestrafen. Er sollte unter dem Eindruck leiden, dass man den beiden unvorstellbare Schmerzen zufügen würde.

Der Oberstaatsanwalt kapierte, dass seine Hoffnungen zu hoch gegriffen waren. Es war sein Fehler, dies zu erwarten. Karl Miltner war enttäuscht und beendete das Gespräch. Danach zögerte er keine Sekunde, bevor er eine zweite SMS losschickte.

Von Rechts wegen handelte es sich bei dem, was er vorhatte, um eine lupenreine Erpressung, die er jedoch als Deal bezeichnen würde mit jemandem, der ihm noch einen Gefallen aus einem früheren Strafprozess schuldig war. Dieser Jemand war ein hochrangiges Bandenmitglied derselben ehrenwerten ‘Gesellschaft’, welches vor längerer Zeit von einem Opfer wegen Vergewaltigung angezeigt wurde. Als das Opfer einige Tage nach der Anzeige durch einen merkwürdigen Haushaltsunfall zu Tode kam, hatte der damalige Staatsanwalt Miltner, auf Druck der ‚Gesellschaft‘, das Verfahren gegen den Verdächtigen wegen Mangels an Beweisen und Selbstmord des Opfers eingestellt. An diesen Jemand leitete Karl Miltner in diesem Moment ebenfalls die Anschrift der Zeugin weiter, allerdings mit einer kleinen Korrektur. Er datierte das geplante Fluchtdatum der Familie um einen Tag vor und bat ihn, pünktlich zu sein.

In der SMS an seinen Killer fügte er neben den Angaben zum Aufenthaltsort die schlichte Bitte hinzu, die Kronzeugin zuverlässig auszuschalten, damit sie nie mehr gegen ihn und die ‚Gesellschaft‘ aussagen könnte. Seiner Einschätzung nach hatte der Empfänger der SMS ebenfalls ein natürliches Interesse daran, der Zeugin den Mund zu stopfen. Er wusste, dass er sie indirekt für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte, der durch die Kugeln der Polizei bei der gewaltsamen Beendigung des Drogentransportes starb.

Als Back-up blieb ihm immer noch die Chance, dass der Spezialist, den der Boss schicken würde, die Zeugin zuverlässig entführen würde. Das wäre dann nach seiner Einschätzung nicht die sichere Variante, die er sich wünschte, aber immerhin wäre die junge Frau dann für absehbare Zeit keine Belastungszeugin mehr sowohl gegen die ‚Gesellschaft‘ wie gegen ihn.

Er war sicher das Richtige getan zu haben, um wieder angstfrei leben zu können.

Und er dachte auch an eine Zukunft, in welcher dieser Jemand im künftigen Machtkampf um die Führung der ‚Gesellschaft‘ bessere Karten haben würde als der aktuelle Anführer. Dann säße er endlich am längeren Hebel.

Die Witwe und der Wolf im Odenwald

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