Читать книгу Die Witwe und der Wolf im Odenwald - Werner Kellner - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Maxim Mutsonow, geboren 27.2.1963 in Puschkin. Eltern 1990 eingewanderte Wolgadeutsche. Ledig, 1995 Jura Studium in Dresden, danach Wohnsitzwechsel nach Dieburg, agierte als Buchhalter und Sammler von Schutzgeldern, seine Rechtsanwaltskanzlei vertritt die ‚Bratwa‘, deren Syndikus er seit 2001 ist, Nummer 2 der ‚Gesellschaft‘ [Fußnote 2] , kaufmännischer Leiter der Seniorenoase ‚Jungbrunnen‘.
Landgericht Frankfurt, 4. Strafsenat, Mittwoch 14.10.2009, Sitzungssaal 203, 12:15 Uhr
In der Ferne verklang das Mittagsgeläut der Glocken des Frankfurter Doms, als der Vorsitzende Richter des 4. Strafsenats am Landgericht Frankfurt die vorletzte Sitzung vor der Urteilsverkündung im Namen des Volkes schloss.
Der Verteidiger der Angeklagten vertrat vor dem Landgericht Frankfurt sechs Mitglieder der zweiten und dritten Führungsebene des international agierenden Drogenkartells. Die Männer waren wegen bandenmäßigen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt.
Er war mit seinem Schlussplädoyer rundum zufrieden und gleichzeitig gespannt, wie die Anklage ihren Strafantrag am letzten Sitzungstag begründen würde, angesichts des drohenden Verlustes der Kronzeugin.
Er hatte im gesamten Prozessverlauf und insbesondere heute am Tag seines Schlussplädoyers nochmals alle Register gezogen. Er hatte versucht, die Kronzeugin des Falles als Junkie, völlig unglaubwürdig und unausgeglichen darzustellen.
Er behauptete, die Zeugin wolle nur von ihrem eigenen Fehlverhalten ablenken und sämtliche ihrer Aussagen wären Lügen.
Sie wären von der Anklagebehörde durch keine belastbaren Beweise hinterlegt.
Die Angeklagten würden Zeugin nicht kennen, und es gäbe keinerlei Verbindung zwischen ihnen.
Der Verteidiger hatte seinerseits die gegenteiligen Äußerungen und Hinweise des Vorsitzenden Richters während der letzten Sitzungen verstanden.
Er war darauf eingestellt, dass das Gericht alle Einlassungen der Verteidigung abweisen würde, falls die Staatsanwaltschaft ihre Zeugin bei der Stange halten könnte.
Das Gericht ließ in seinen bisherigen Ausführungen keinen Zweifel daran, die Angeklagten des sehr schweren und mehrfachen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz für schuldig zu erkennen.
Ebenso neigte es dazu, dem revidierten Antrag der Staatsanwaltschaft zu folgen, der für das Strafmaß den maximalen Rahmen mit mindestens zehn Jahren vorsah.
Einfach um in der Drogenszene ein Exempel zu statuieren.
Der Verteidiger war darauf vorbereitet, um das Urteil vor dem BGH wegen unkorrekter Beweiswürdigung der Kronzeugin anzufechten.
Aber auch dort war die Aussicht auf eine Revision des Urteils zugunsten der Angeklagten unwahrscheinlich.
Alles hing von der Beweiskraft der Aussage der Kronzeugin und dem Schlussplädoyer der Anklage ab.
Das Hauptverfahren betraf einige alte Bekannte der Kripo aus der mittleren Führungsebene der lokalen Drogenszene. Sie waren in der Folge der Entdeckung eines Drogentransportes im Frühjahr 2003 aufgeflogen.
Ein Transporter war damals kurz nach Mitternacht mit mehr als 700 kg Heroin und reinem Opium aus afghanischen Beständen an einem Autohof an der B 43a in Klein-Auheim nach einem wochenlangen Überwachungsprogramm gestellt worden.
Der Fahrer des Drogentransporters, der eine ungeplante Pinkelpause für seine nach der langen Fahrt müde Beifahrerin eingelegt hatte, war ahnungslos ins Tankstellencafé marschiert.
Er kam mit zwei Kaffeebechern in der Hand zurück und war dabei, wieder in den Transporter einzusteigen, als auch seine Kollegin ihre innere Harmonie in der Tankstellentoilette wieder hergestellt hatte und ebenfalls auf ihren Sitz kletterte.
In dem Moment, als er ihr den dampfenden Becher des schwarzen Gebräues weiterreichte, schaltete die Polizei die Scheinwerfer ein, und das SEK forderte ihn per Lautsprecher auf, mit erhobenen Händen auszusteigen und aufzugeben. Er ließ den Kaffeebecher fallen und hob eine Hand, während er mit der anderen die Fahrertür öffnete. Dann griff er unter den Sitz und versuchte aus der Deckung der offenen Fahrertür, mit einer Kalaschnikow die Scheinwerfer der Polizei auszulöschen. Er wurde bei dem folgenden Schusswechsel erschossen. Seine Beifahrerin wurde durch einen Treffer aus der Waffe eines Polizisten leicht verletzt, dessen Kugel die rechte Seitentür durchschlug und in ihrem rechten Oberarm stecken blieb.
Die auf den ersten Blick nur leichtverletzte Drogenkurierin wurde in die Universitätsklinik Frankfurt gebracht.
Sie lag nach ihrer Schussverletzung jedoch länger als erwartet auf der Intensivstation der Uniklinik, und ein Oberarzt der Unfallchirurgie rettete ihr das Leben, nachdem Komplikationen aufgetreten waren.
Die Kugel hatte die rechte Oberarmarterie in der inneren Bizepsfurche leicht angekratzt, und nur durch Zufall war das im Verlauf von nur wenigen Tagen entstandene Aneurysma entdeckt und chirurgisch entfernt worden. In den Wochen ihres Klinikaufenthaltes wurde sie rund um die Uhr bewacht.
Das Verfahren gegen die Hauptangeklagten zog sich unverhältnismäßig in die Länge.
Die ermittelnden Behörden hatten es dank des aufopferungsvollen Einsatzes insbesondere eines einzelnen Personenschützers zwar relativ schnell geschafft, die Drogenkurierin mit umfangreichen Zusagen bezüglich Straffreiheit zu einer Aussage gegen die ‘Gesellschaft’ zu bewegen.
Dabei hatte sich die Staatsanwaltschaft zu Beginn des Verfahrens lange gegen eine Kronzeugenregelung gesträubt. Sie stimmte nur oder erst auf nachdrückliches Ersuchen der Ermittler zu, da sie nach offizieller Lesart bezweifelte, dass ihre Enthüllungen den Aufwand wert waren.
Die junge Frau war schon seit längerer Zeit wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur russischen Drogenmafia observiert worden. Sie war ebenso wie die geschmuggelten Drogen afghanischer Abstammung und laut Ermittlungsakte und aufgrund von Recherchen eines bekannten Investigativjournalisten vermutlich ein hochrangiges Mitglied einer kriminellen Mafiaorganisation, die vorwiegend illegale Drogen in den europäischen Markt schmuggelte.
Bis sich aus den Angaben der Zeugin gerichtsfeste Beweise für die Machenschaften der Bande finden ließen, vergingen mehrere Monate. Dazwischen und danach gab es von der Verteidigung jeden denkbar möglichen Einspruch zu den einzelnen Prozessschritten bis zum wiederholten Antrag auf Befangenheit des 4. Strafsenats.
Sechs Monate nachdem der Senat bestätigt worden war, wurde das Verfahren für die Kronzeugin vom Hauptverfahren abgekoppelt. Der Verteidigung und den Hintermännern der ‘Gesellschaft’, die sich als russische Bruderschaft der ‚Diebe im Gesetz‘ auch ‚Bratwa‘ nannte, wäre der Zugang zur Kronzeugin zu erschweren.
Die Hoffnung der Verteidigung, dass der Vorsitzende Richter, der zum Prozessauftakt kurz vor der Pensionierung stand, vor Prozessende aus dem Verfahren ausscheiden und seinen wohlverdienten Ruhestand antreten möge, erfüllte sich. Damit feierte der Prozess wegen Überlänge seinen dritten Geburtstag. Nach einjähriger Einarbeitungszeit eines neuen Vorsitzenden wurde das Verfahren fortgesetzt.
Als Zeugin konnte oder wollte die kaum deutschsprechende Drogenkurierin keine weiteren Angaben zur Führungsstruktur des deutschen Ablegers der russischen Bruderschaft machen, und der eigentliche Anführer der Bande blieb während der gesamten Prozessdauer im Dunkeln.
Während der langen Zeit auf der Isolierstation der Uniklinik und danach eingesperrt in eine sichere Wohnung, hatte die Zeugin trotz der Sprachbarriere zu einem der Personenschützer der Polizei ein immer stärker werdendes Vertrauens- und später sogar ein Liebesverhältnis entwickelt. Die Liebe überwand damit gleichzeitig ihren Wunsch nach Sicherheit durch Isolation und Aussageverweigerung.
Die Kommunikation der beiden war schwierig aber nicht unmöglich, denn der junge Personenschützer sprach weder Russisch noch Paschto, und die junge Frau, war kaum der deutschen Sprache mächtig. Aber ihre Körpersprache und ihre Neugier auf eine Beziehung, die durch Respekt und Anerkennung gekennzeichnet war, förderten ihre Gefühle füreinander und überwanden kulturelle Gegensätze.
Alles, was die junge Frau bisher erfahren und erlebt hatte, musste sie in einer Vormundschaft oder unter dem Zwang eines Mannes über sich ergehen lassen, der sie in ihrem Wesen nicht respektierte, sondern benutzte. Und mit diesem jungen Personenschützer war es zum ersten Mal in ihrem Leben ganz anders. Sie fühlte sich wie ein gleichwertiger Mensch behandelt und anerkannt. Ihr wurde zugehört, und sie wurde mit und ohne Worte verstanden. Sie fühlte sich wohl und war es leid, sich ständig behaupten zu müssen. Es fiel ihr einfach leicht, sich in diese neue Beziehung fallen zu lassen und einzufügen.
Nach der Entlassung der Zeugin aus dem Krankenhaus bezog der Bodyguard mit der jungen Frau mit den unergründlichen nachtschwarzen Augen, den weichen Gesichtszügen unter einem dichten, schwarzen Lockenkopf und einer knabenhaften und trotzdem durchtrainierten Figur eine sichere Wohnung. Kurz nach der Hochzeit am 1. September 2003 wurde die Zeugin einige Wochen später von einer Tochter entbunden, und ab sofort wurde der Personenschutz auf die kleine Familie ausgedehnt. Die Mutter sprach mit ihrer Tochter Paschto aus dem Wunsch heraus, ihre Wurzeln nicht verkümmern zu lassen, und Deutsch lernte sie von ihrem Vater.
Die Angeklagten im Hauptverfahren waren schon mehrfach ins Visier der Ermittler geraten. In der Vergangenheit mussten die Gerichte sie aber immer mangels Beweisen freisprechen. Dies war auch der Vorwand, weshalb sich der öffentliche Ankläger zu Beginn des Prozesses extrem zurückgehalten hatte, und gegen die Hintermänner, insbesondere wegen deren bislang unauffälligen und vorstrafenfreien Verhaltens, auf ein minder schweres Vergehen plädierte. Der Ankläger hatte, ganz im Sinne der ‘Gesellschaft’, das niedrigstmögliche Strafmaß in Höhe von zwei Jahren auf Bewährung für angemessen gehalten und beantragt.
Keiner der Ermittler, die den erfolgreichen Zugriff so mühsam vorbereitet hatten, verstand die Beweggründe der Staatsanwaltschaft, die den Anschein erweckte, dass es sich um eine geringfügige Straftat handelte, und die den Ermittlern eine mangelhafte Beweislage vorwarf.
Die Hintergründe dafür kannten allerdings nur der Verteidiger und natürlich der Anführer in Kaliningrad umso besser. Wie sich erst nach dem Tod des Oberstaatsanwaltes herausstellen sollte, stand der schon lange auf der Gehaltsliste der ‘Gesellschaft’. Er war in einer Vielzahl von Verfahren nicht nur als ‚Maulwurf‘ aktiv, sondern auch als ‚Knipser‘ bekannt, der Strafverfahren gerne wegen Geringfügigkeit oder Mangel an Beweisen einstellen ließ.
Unmittelbar nach ihrer Verhaftung, hatte es auf Drängen des Bosses den ersten von verschiedenen erfolglosen Versuchen gegeben, die unliebsame Zeugin, durch einen ‚Wolf‘[Fußnote 3] der ‘Gesellschaft’ aus dem Verkehr zu ziehen. Denn für die ‘Gesellschaft’ stand viel mehr auf dem Spiel, als nur die Verurteilung von sechs Männern aus dem Mittelmanagement zu verhindern. Die sechs waren zwar nicht einfach zu ersetzen, aber ihr Wissen und dasjenige von weiteren untergetauchten Mitgliedern der Bande stellte ein erhebliches Risiko für das gesamte Geschäft der Mafiosi dar, und außerdem drohte die Enttarnung des verdeckt arbeitenden Maulwurfs.
Der ‘Gesellschaft’ hatte es bisher wenig genutzt, dass sie ein Leck in die Reihen der Staatsanwaltschaft eingeschleust hatte. Der Maulwurf hatte während des gesamten Verfahrens die Bandenführung über den Umweg der Verteidigung direkt und mehr schlecht als recht mit Informationen zu Aufenthaltsort und Personenschutz der Zeugin versorgt. Leider waren die Koordinaten fehlerhaft, besser gesagt bewusst falsch, wie sich später herausstellte. Der Verteidiger, der jetzt im Gerichtssaal saß, lächelte bitter, und er gestand sich ein, dass alle bisherigen Versuche der ‘Gesellschaft’, die Kronzeugin zu eliminieren, gescheitert waren.