Читать книгу Die Witwe und der Wolf im Odenwald - Werner Kellner - Страница 17

Оглавление

Kapitel 13

Odenwälder Journal,

G. J., Fürth.

In der Nacht vom 30. zum 31.8.2020 kam es erneut zu einem Überfall aus der Serie der Geldautomaten Räuber. Diesmal schlugen sie nachts in einem Supermarkt in Ortsteil Lautern zu, wobei es ihnen nicht gelang, den nicht unerheblichen Bargeldbestand aus der Geldkassette des Automaten zu entwenden….

Michelstadt, Montag 31.8.2020, 09:00 Uhr

Die Sonne stand schon relativ hoch am Himmel über Michelstadt an einem Tag, der sommerlich warm zu werden versprach, als Willy Hamplmaier zu seinem Stammcafé „Frühstücksträume“ schlenderte, am alten Rathaus und dem auf Elfenbeinarbeiten spezialisierten Souvenirladen vorbei in Richtung Obere Pfarrgasse.

Er setzte sich an sein gewohntes Tischchen neben dem Eingang, erwiderte die freundliche Begrüßung, die ihm als Frühstücksstammgast zustand, und bestellte das übliche Landfrühstück. Mit dem Kaffeekännchen kam auch die Zeitung und er überflog gelassen die regionalen Neuigkeiten, die das Leben im Odenwald so abwechslungsreich gestalteten. Bis er unter der Rubrik „Lautertal“ tatsächlich etwas Aufregendes entdeckte.

„Heiliges Kanonenrohr“, fluchte Willy. Sein Frühstücksbrötchen kauend las er den Beitrag im „Odenwälder Boten“ über einen erneuten Versuch, einen Geldautomaten im Ortsteil Lautern auszurauben. Diesmal betraf es den Automaten in einem Einkaufszentrum, welcher von den Einbrechern erfolglos gesprengt worden war. Erfolglos deshalb, weil es den Tätern zwar gelungen war, den oberen Teil des Automaten völlig zu zerstören, aber sie hatten es nicht geschafft an die Geldkassette im unteren Teil des Gerätes zu gelangen. Sie wussten jedenfalls, dass die Kasse an den Wochenenden zu Monatsbeginn voller gefüllt war, um die dann übliche Einkaufswelle mit Bargeld zu versorgen. Im Odenwald war ‚Bares-ist-Wahres‘ die bessere Alternative zu Kreditkarten und Plastikgeld, wie es abfällig genannt wurde. Und gerade in Coronazeiten waren die Einkaufszentren trotz Abstandsregeln und Maskenpflicht gut besucht, weil die übrigen Geschäfte geschlossen blieben. Wie üblich fehlte von den Tätern jede Spur, und es gab keine Zeugen, die den Überfall um 04:00 Uhr früh bemerkt hatten. Ein Fluchtfahrzeug war ebenfalls nicht zu ermitteln.

Der Zeitungsbericht passte perfekt in den Auftrag, den ihm zwei regionale Banken gegeben hatten, weil die Polizei trotz intensiver Nachforschung zu den vier erfolgreichen Überfällen in abgelegenen Bankfilialen in den letzten sechs Monaten noch immer keine heiße Spur hatte. Allerdings musste sich Willy eingestehen, dass auch seine Bemühungen bisher ergebnislos verlaufen waren.

Er nahm einen ordentlichen Schluck Kaffee und las den Artikel in Ruhe nochmals durch, dann frühstückte er seelenruhig zu Ende, bevor er auf dem Handy seinen Freund Manfred Dingeldein anrief, um ihn nach eventuellen Hinweisen zu fragen. Der KHK im Segment Gewaltverbrechen und Einbrüche und war seit seinem Eintritt bei der Polizei in der Polizeidirektion Erbach tätig. Willy hatte sein freundschaftliches Verhältnis zu Manfred seit der Schulzeit bewahrt. Er war wie Manfred nach der mittleren Reife in den Polizeidienst eingetreten, wobei er sich immer schon für die Drogenkriminalität interessierte, weshalb es ihn auch nach Frankfurt zum Drogendezernat der dortigen Kripo verschlug. Vor nunmehr fast dreizehn Jahren quittierte er den Dienst, ungern wie er später zugab, um das elterliche Bestattungsunternehmen zu übernehmen. Ab und zu tauschten Willy und Manfred hilfreiche Informationen aus, ohne ihren Berufskodex zu arg zu strapazieren. Der Stammtisch „Lebensfreude“ hielt die beiden Witwer zusammen.

Das Unternehmen, das er ungefragt und ungewollt von seinen Eltern geerbt hatte, plätscherte so dahin, und es lief erst besser, seit die Corona Pandemie ihre Opfer in den umliegenden Pflegeheimen fand und bei ihm ablud.

Profitabel war das Bestatter Geschäft trotzdem nur bedingt, also hatte er aus der Not eine Tugend gemacht und kümmerte sich um die beliebten ‚Flannerts‘[Fußnote 14]. Jeder ordentliche ‚Ourewäller‘ organisierte sein ‚Flannerts‘ rechtzeitig für seinen Tod, um seinen Angehörigen und Freunden in feuchtfröhlicher Trauerstimmung die Gelegenheit zu geben, sich nachhaltig von ihm zu verabschieden und ihn zu würdigen. Diese ‚Flannerts‘ waren so ganz nebenbei auch wichtige Elemente der lokalen Gerüchteküche und fütterten wegen der Missachtung aller AHA-Regeln durch die Trauernden gleichzeitig auch die gerade hochlaufende Corona Welle, was wiederum Willys Bestatter Geschäft ankurbelte.

Neben dieser semi-besinnlichen Tätigkeit hatte er sich über die Jahre und ausgelöst durch ein paar ungeklärte Todesfälle, die bei ihm zur Einäscherung gelandet waren, einen Namen als privater Ermittler aufgebaut. Es war ihm bereits mehrfach gelungen, wohlmeinenden Totenscheinen die Erkenntnis einer Fremdeinwirkung entgegenzustellen, was ihm den Respekt seines Kumpels und dessen Kollegen von der Polizeidirektion Erbach einbrachte. Er nahm nicht jeden Fall an und leistete sich den Luxus, wählerisch zu sein. Er nahm nur Fälle an, die zu ihm passten. Sie durften nicht zu langweilig und sollten ausgewogen spannend sein, ohne eine übermäßige Adrenalinausschüttung hervorzurufen. Meistens handelte es sich um Einbruchsdiebstähle, und ab und zu wurde es interessant, wenn er untreuen Ehepartnern hinterherspionieren durfte. Das waren dann später Geschichten, die man gerne bei den Flannerts zum Besten gab.

Aktuell war die Ermittlung in Sachen Geldautomat-Einbrüche im südhessischen Raum mit dem Schwerpunkt Reichelsheim und Fürth sein größter Auftrag, und der war fast schon wieder zu komplex für ihn. Und sein Unterhaltungswert ließ auch zu wünschen übrig. Deshalb war Willy richtig dankbar, dass sich sein Sohn nach langem Zureden nun doch entschieden hatte, ihn als privater Ermittler bei den trockenen Fällen zu unterstützen. Dem Junior schwebte vor, sich auf Versicherungsfälle zu spezialisieren, denn dort fühlte er sich kompetent aufgestellt, und da passte der Auftrag gut in sein Profil, denn die Sparkassen waren alle gegen Einbruchsdiebstahle hoch versichert.

Willy hatte seinen Sohn vor Jahren über seine Beziehungen, sprich seinen Polizeikollegen bei der Drogenfahndung in Frankfurt eingeführt, und er hatte auch gelegentlich mit ihm Fälle bearbeitet. Nach einem traumatischen Erlebnis im Zusammenhang mit einem großen Drogenfund und den damit verbundenen Ermittlungen im Milieu des Rauschgiftschmuggels, hatte der Sohn hingeschmissen. Als Selbständiger für große Versicherungen in der Schweiz hatte sich Hans Hämmerle, wie er sich nach seiner Flucht nannte, bei der Aufdeckung diverser Versicherungsbetrügereien einen Namen gemacht.

Willy trank den letzten Schluck seines Frühstückskaffees und wählte die bekannte Nummer im Kommissariat. Wie er schon befürchtet hatte, brachte ihn das Telefonat keinen Millimeter weiter, da sein Freund Manfred und seine Mannen im vertrauten Dunkel tappten.

Er bezahlte sein Frühstück und machte sich auf den Weg in sein Büro in der Erbacher Straße gerade gegenüber dem Gymnasium von Michelstadt, und grüßte die Leute, die er traf und fast alle kannte.

Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich selbst auf den Weg zu machen, um wieder einmal die Videokameras von Tankstellen, Supermärkten und öffentlichen Plätzen der näheren und weiteren Umgebung zu checken. Er nahm sich ebenfalls vor, Georg Jährling anzurufen. Er musste sich sowieso erkundigen, wie es dem Freund nach seinem Überfall durch zwei bisher nicht identifizierte Schläger ging.

Wie die meisten hier kannte er Georg seit vielen Jahren, der zufällig mit seinem Sohn Hans die Schulbank gedrückt hatte, als einen freiberuflichen Journalisten, der sich nach einigen heftigen Erlebnissen eher vorsichtig investigativ im kriminellen Milieu bewegte. Kriminalfälle waren sein Lebenselixier, das er als Investigativreporter kompetent und mit einer guten Spürnase ausfüllte. Vielleicht hatte Georg ein paar Erkenntnisse zu dem Einbruch für ihn, die ihm nutzen konnten. Er würde ihn im Gegenzug über Themen informieren, die von öffentlichem Interesse waren.

Davor rief er Steffi Schwaiger an, seine junge, wilde Assistentin 2.0, die ihm gelegentlich bei Recherchen aushalf, und die so unübertroffen fix war, wenn es um Computer und Online-Recherche ging. Sie war ein bisschen flippig, aber ihr offenes Wesen basierte auf einer inneren Stärke und Ausgewogenheit, die ihm ebenso gut gefielen, wie ihre Energie, mit der sie sich in seine Aufträge stürzte.

Sie hatte dem Junior und seiner Tochter eine vorübergehende Bleibe in ihrem für sie allein viel zu großen Haus in Erbach angeboten, und der Junior hatte die Offerte zögernd angenommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken wie sich der Junior wohl entscheiden würde, wenn er erstmal die Vergangenheit mit seiner Sandkastenliebe aufgearbeitet und in eine neue Form gebracht hätte.

Online-Recherche war noch immer nicht sein Ding, und er vertraute seiner Assistentin 2.0 blind, wenn es darum ging an Steuerauskünfte, Melde- und Zulassungsdaten zu kommen oder irgendwelche Datenbanken nach seinen Vorgaben zu durchforsten. Steffi Schwaiger war für diese Art von Hilfestellung immer sofort zu begeistern, und er musste zugeben, dass ihre Trefferquote einen nicht unerheblichen Anteil an seinem Ermittlererfolg hatte. Sie verabredeten sich nach ihrer Mittagspause, sobald sie ihren Vormittagsjob im Gesundheitsamt der Stadt Michelstadt beendet hatte, in seinem Büro.

Willy schnaufte wie immer ein bisschen, als er über die steile Holztreppe zu seinem im 1. Stock des Hauses gelegene Büro hoch stapfte. Hans saß schon an dem Schreibtisch, den sie sich provisorisch teilten, und Willy sah, wie Hans einige Bilder in Willys unterster Schreibtischschublade betrachtete. Entweder hatte er etwas gesucht, oder er wollte ein paar persönliche Büroartikel dort ablegen und war dabei zufällig auf die Fotos gestoßen, die ihm Hans vor Jahren und vor seiner überstürzten Flucht anvertraut hatte. Er weigerte sich sie wegzuwerfen und mitzunehmen wagte er nicht. In Gedanken versunken hielt er gerade die Aufnahme in der Hand, auf der Alina die fünfjährige Emma auf dem Schoß sitzen hatte. Hans hatte ihm das Foto mit anderen sehr persönlichen Gegenständen übergeben, als er Alinas Leiche vorbeibrachte, die Willy heimlich und ohne Aufsehen zu erwecken bestatten sollte, bevor er sich mit unbekanntem Ziel in die Schweiz abgesetzt hatte.

„Ei guude Morsche“[Fußnote 15], sollte Hans auf andere Gedanken bringen und Hans gab Willy das Bild und murmelte, „irgendetwas klickt in mir, wenn ich das Bild anschaue. Aber ich fasse es nicht!“, sagte Hans.

Willy betrachtete seinerseits das Foto, welches er, wie die anderen Bilder auch, immer unter Verschluss gehalten hatte. Eine strahlende Alina, in einem hübschen, hellroten Sommerkleid mit Spaghetti Trägern und tiefem Ausschnitt, das so perfekt zu ihrem dunklen Teint und den schwarzen Haaren kontrastierte. Um den Hals trug sie das einzige Schmuckstück aus ihrer Zeit vor Hans und das goldene Kreuz leuchtete auf der dunklen Haut. Emma lachte ebenfalls fröhlich in die Kamera und zu Hans dem Mann am Auslöser.

„Ich würde das Bild gerne später mitnehmen“ sagte Hans mit rauer Kehle und Willy nickte.

„Ich habe es ja nur für dich aufbewahrt.“

Hans stellt das Bild auf den Schreibtisch zurück, denn jetzt muss er es nicht mehr verstecken.

Dann fragte Willy, was er tun könnte, um bei diesen dämlichen Geldautomateneinbrüchen endlich einmal weiterzukommen?

Sie standen grübelnd vor Willys Wanderkarte für den Odenwald, auf der er alle bisherigen Überfälle mit Datum und Uhrzeit und Ausführungsdetails mit schwarzem Filzstift erfasst hatte. Man konnte kein Schema erkennen, außer dass die bekannten Fälle alle in Südhessen stattfanden und mit schöner Regelmäßigkeit zum Ultimo, wenn die Bargeldbestände hoch waren. Das Arbeitsmuster war immer gleich, und bis auf den letzten Überfall war die Bande bei ihrer Einbruchserie absolut effektiv und erfolgreich unterwegs.

Sie grübelten eine Weile, was bei der Suche nach den Fluchtautos der Bande weiterhelfen würde, und Willy bezweifelte, dass es sich um simple Privatfahrzeuge handeln könnte.

„Ich denke, das muss jemand sein, der frei über Autos verfügen und sie wahrscheinlich nach der Tat gleich wieder entsorgen kann. Niemand wäre so verrückt, Privatautos einzusetzen und mehrfach zu nutzen. Gestohlen gemeldet wurde nichts zur fraglichen Zeit. Abgesehen davon, hätte die Bande das entwendete Fahrzeug sicherlich sofort nach der Tat irgendwo stehen gelassen oder abgefackelt, um Spuren zu vernichten“, sinnierte Willy und Hans nickte.

„Vielleicht sollten wir Autoverleiher oder Autohändler mal unter die Lupe nehmen“, rätselte Hans, ohne davon überzeugt zu sein.

„Ich werde mir dann halt zum wiederholten Mal die Überwachungskameras der Umgebung vornehmen“, erklärte Willy, und machte er sich auf den Weg, um so schnell wie möglich die Videos an Tankstellen und im betroffenen Markt auszuwerten.

Aber es war so verhext wie bei den früheren Fällen. Sie checkten im fraglichen Zeitraum der Flucht alle verfügbaren Videoaufzeichnungen mit Schwerpunkt bei Tankstellen, die unglücklicherweise im ländlichen Bereich nachts geschlossen und unbesetzt waren. Weder dort noch bei dem betroffenen Einkaufsmarkt oder anderen im Umfeld verfügbaren Überwachungskameras ließen sich geringste Hinweise auf ein Fluchtfahrzeug oder eine Ähnlichkeit mit früheren Vorgängen erkennen. Er bat im Markt um Kopien der Aufzeichnungen über den gesamten Tag und die Wochen davor. Sie hofften auf irgendeine Auffälligkeit, ein verdächtiges Auto, das den Parkplatz mehrfach angefahren hatte oder Ähnliches.

Gegen 16:00 Uhr kam er mit leeren Händen in sein Büro zurück und kurz danach hörte man helles Lachen die Treppe herauf hüpfen, und Steffi und Emma haben ihre etwas verlängerte Vormittagsschicht im Gesundheitsamt hinter sich.

Sie wollen den Chefs bei den Ermittlungen helfen und Steffi entdeckt natürlich als Erstes das Foto auf Willys Schreibtisch.

„Ach wie süß, das muss Emma sein, als sie noch klein war. Und das ist ihre Mama?“, ruft Steffi erschrocken und neugierig zugleich, denn sie hat die Dame, die ihr den Hans ausgespannt hat, ja bisher niemals zu Gesicht bekommen.

„Oh mein Gott“, sagt Emma und ist sprachlos, denn Papa hatte in der Schweiz weder Familienfotos noch sonst irgendwelche Erinnerungen. Er müsste sehr vorsichtig sein nach dem Verschwinden ihrer Mama, hatte er immer betont, und ihr zwar jede Menge erzählt, aber ein Bild ihrer Mama sah sie jetzt zum ersten Mal. Sie betrachtete es lange und nachdenklich.

„Mama lacht auf dem Bild, aber es ist ein freudloses Lächeln“, stellte sie fest und Hans bewundert ihre Beobachtungsgabe. Er sieht im Geiste das Bild vor sich und wie angespannt Alina war, als er den Selbstauslöser des Fotoapparates für das Vater-Mutter-Tochter-Bild betätigte.

„Das Foto habe ich geschossen, wenige Wochen bevor sie so plötzlich verschwand, aber darüber werde ich euch mehr in einer ruhigen Minute erzählen. Das wird uns beide viel Kraft kosten“, tröstet Hans seine Tochter und Steffi lenkt sie ab, indem sie erzählt, was sie den Tag über alles erlebt haben.

Obwohl sich Steffi fast die Zunge abbeißen musste, um nicht herauszuschreien, dass es auch sie viel Kraft kosten würde, wenn Hans sie miteinbeziehen würde in diesen für beide so wichtigen Lebensabschnitt.

Die Witwe und der Wolf im Odenwald

Подняться наверх