Читать книгу Ein unsichtbarer Feind - Werner Michelchen - Страница 5
Оглавление1.Kapitel
Die Kugel traf den Kanzler mitten ins Herz. Er war auf der Stelle tot. Der Attentäter wurde sofort von den Sicherheitsbeamten erschossen.
Unter der Headline „Kanzlermord in der Elbphilharmonie“ beschrieb das Wochenblatt „Der Chronist“ den Tathergang später folgendermaßen: Die Tat geschah gestern am Karfreitag, als der Kanzler sich nach dem Konzertbesuch auf dem Weg zu seiner gepanzerten Limousine befand. Vielen Konzertbesuchern war der prominente Besucher nicht verborgen geblieben. So hatten die Sicherheitsbeamten erhebliche Mühe, die neugierigen Menschen auf Abstand zu halten, die dem Kanzler so nah wie möglich kommen wollten, um ein Foto zu machen. Einzig dem Attentäter war dies gelungen. In einem Rollstuhl, als Behinderter getarnt, konnte er die Sicherheitsleute für den entscheidenden Augenblick täuschen. Die Waffe, eine Glock G 17, hielt er auf dem Schoß unter einer Wolldecke versteckt. Als er dem Kanzler nahe genug gekommen war, schoss er.
Einzelheiten zum Täter wurden von der Polizei nicht genannt. Hierzu wurde auf eine Pressekonferenz am Ostermontag verwiesen.
Bericht: Otto Bergheim
Die Pressekonferenz am Ostermontag lieferte keine neuen Erkenntnisse. Man ermittle mit Hochdruck in alle Richtungen, verkündete die Staatsanwaltschaft. Aus ermittlungstaktischen Gründen könne man jedoch keine näheren Einzelheiten bekannt geben, lautete die Standardantwort auf die drängenden Fragen der zahlreich erschienenen Journalisten. Immerhin erfuhr die Presse, dass die Bundesanwaltschaft den Fall übernommen hatte. Allerdings änderte diese Tatsache nichts an der Informationspolitik. Auch in den folgenden Wochen blieben Polizei und Staatsanwaltschaft zugeknöpft und äußerten sich nur zurückhaltend bis unwillig. Fragen zum Täter, seinem Motiv oder Umfeld blieben unbeantwortet oder wurden mit dem Hinweis auf Sicherheitsgründe abgeblockt. Die Folgen in der Medienlandschaft waren gravierend. Längst hatten andere die Deutungshoheit übernommen, allen voran das Internet. Zu den Auswirkungen der desaströsen Informationspolitik der Behörden erschien ein paar Monate später im Wochenblatt „Der Chronist“ ein Artikel unter dem Titel „Wem gehört die Wahrheit?“, der die Ereignisse wie folgt zusammenfasste:
Die Republik war schockiert. Die Welt hatte kondoliert. Kaum waren die Betroffenheitsrituale abgeklungen, begannen die Medien mit einem Trommelfeuer an Vorwürfen und Besserwisserei.
Nichtssagende Pressekonferenzen, Verschleierungstaktiken und Geheimniskrämerei vonseiten der Polizei, Staatsanwaltschaft und Politik hatten das Tor weit für Spekulationen geöffnet. Unter dem Motto „Wo nichts bekannt ist, wird unterstellt“ setzten die Medien die abenteuerlichsten Geschichten in die Welt. Mal wurde der Täter der Terrorszene zugerechnet, mal berief sich ein anderes Blatt auf eine zuverlässige Quelle, der zufolge der Täter ein Einzelgänger und Psychopath gewesen sei. Auch Verschwörungstheoretiker hatten Hochkonjunktur. Ein besonders kreativer Schreiberling stellte die Tat in eine Reihe mit den Attentaten auf Abraham Lincoln und Olof Palme. Beide waren ebenfalls bei einem Theaterbesuch ermordet worden. Lincoln wurde im Jahr 1865, auch am Karfreitag, in einer Theaterloge erschossen und Olof Palme im Jahr 1986 nach einem Kinobesuch. Besagter Autor schloss seinen Artikel mit der rhetorischen Frage „Sind Politiker bei Theaterbesuchen besonders gefährdet?“
Die Sicherheitsmaßnahmen seien unzureichend, die Kommunikation dilettantisch gewesen und es habe ein Verantwortungswirrwarr geherrscht, lauteten die Vorwürfe an die Behörden. Als Bauernopfer musste schließlich ein Einsatzleiter der Polizei herhalten. Er wurde suspendiert. Danach geriet die Politik ins Visier. Eine Lücke im Grundgesetz sorgte für Irritationen. So gab es theoretisch nach dem Tod des Kanzlers keine Regierung mehr. Die Nachfolge (§ 69 GG) war in der Verfassung nicht eindeutig geregelt. Schließlich wurden Neuwahlen angesetzt, deren Ergebnis zu einem Regierungswechsel führte. Nur der vorherige Koalitionspartner blieb der gleiche. Spätestens jetzt wäre es an der Zeit, über die Frage nachzudenken, wem die Wahrheit gehört:
Ist sie Bestandteil von Herrschaftswissen oder Allgemeingut?
von Otto Bergheim
Diese Ereignisse lagen inzwischen zwei Jahre zurück und waren längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Bis ein weiterer Mord geschah.