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5. Kapitel

Kaiserwetter. Die Sonne schien vom blassblauen Himmel, das junge Maigrün duftete frisch nach Frühling. Tanja Sommer hatte sich sportlich gekleidet: Jeans, Pulli, Joggingschuhe. Den Kopf bedeckte ein blaues Basecap, von dessen Hinterseite ihr blonder Haarschopf wippte. Die Sonnenbrille klemmte mit dem Bügel im Ausschnitt. Von ihrer Wohnung in der Jarrestadt bis zum Planetarium im Stadtpark waren es knapp fünfzehn Minuten Fußweg. Auf der großen Liegewiese, an deren Ende das Planetarium stand, hatten sich bereits zahlreiche Menschen eingefunden. Familien mit Kindern, Ball spielende Jugendliche und Touristengruppen, denen Fotoapparate um den Hals baumelten. Alle nutzten das schöne Wetter, um an der frischen Luft zu sein oder befanden sich auf dem Weg zum Planetarium. Der klotzartige Backsteinbau mit der riesigen Kuppel war einst unter dem Baudirektor Fritz Schumacher als Wasserturm gebaut und im Jahr 1915 in Betrieb genommen worden. Erst als der Wasserdruck nicht mehr ausreichte, wurde er zum Planetarium umgebaut. Inzwischen waren das Gebäude und die technische Ausstattung mehrmals modernisiert worden. Die letzte und aufwendigste Modernisierung hatte fast zwei Jahre gedauert. Erst im Jahr 2017 wurde es wieder eröffnet und gilt mit seinen Vorträgen und Multimediashows als Besuchermagnet.

Als Tanja Sommer den Weg entlang der Wiese in Richtung Eingang ging, fiel ihr Blick auf den Rest eines Absperrbandes der Polizei. Abrupt blieb sie stehen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie war nicht schnell gelaufen, trotzdem begann ihr Herz zu rasen und kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Das war die Stelle, an der Otto Bergheim ermordet worden war. Hier hatten die Schulkinder seine Leiche entdeckt. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, weshalb sie hier war. Sie beschleunigte ihre Schritte in Richtung Eingang. Die helle, in weiß gehaltene Empfangshalle mit den beiden gläsernen Aufzügen und der mit den Sternzeichen bemalten Decke strömte eine angenehme Kühle aus. Ihr Puls beruhigte sich wieder. Sie orientierte sich und fuhr mit dem Aufzug hinauf zum Sternensaal. Sie war extra zeitig aufgebrochen, um einen Platz in der vorletzten Reihe zu ergattern, wie der Anrufer es verlangt hatte. Die Sorge war aber unbegründet. Das riesige Rund mit gut 250 Sitzplätzen war noch fast leer. Schnell fand sie einen passenden Platz, ließ sich erleichtert in einem der angenehm gepolsterten Sessel nieder und gönnte sich einen Augenblick Ruhe. Als sie wieder aufsah, hatte sich das riesige Rund nach und nach gefüllt. Wie im Kinosaal üblich wurde das Licht langsam gedimmt. Die Show begann. Am Himmelzelt der im Durchmesser über zwanzig Meter großen Kuppel setzte die Abenddämmerung ein. Je dunkler es wurde, desto mehr funkelnde Sterne tauchten auf. Gleichzeitig setzte Sphärenmusik ein. Irgendein Stück aus einem Science-Fiction-Film, den Tanja einmal gesehen hatte, an dessen Namen sie sich aber nicht erinnerte. Das Surround-Sound-System mit seinen hallenden Klängen vermittelte das Gefühl, im Weltall unterwegs zu sein. Tanja lehnte sich im Sessel zurück, blickte ins Weltall und war in Gedanken auf dem Weg zu einer fernen Galaxie.

„Drehen Sie sich nicht um“, flüsterte eine Stimme direkt neben ihrem Ohr. Tanja zuckte zusammen, dachte, ihr Herz bliebe stehen.

„Reichen Sie mir Ihre Hand“, sagte die Stimme ins Dunkel. Wie in Hypnose tat Tanja, was ihr gesagt wurde. Ein USB-Stick, nicht größer als eine Briefmarke, landete in ihrer Hand.

„Passen Sie gut darauf auf. Zusammen mit dem Chip, den ich Otto Bergheim übergeben habe, wird aus dem Puzzle ein vollständiges Bild und der Fall lässt sich lösen“, sagte die Stimme. Tanja saß wie erstarrt, wagte nicht, sich zu rühren. Als eine längere Pause entstand, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte: „Ich habe nicht die geringste Ahnung von einem Chip, den Otto Bergheim von Ihnen bekommen hat. Wo soll ich den suchen?“ Als sie keine Antwort bekam, drehte sie sich wütend um. Der Platz hinter ihr war leer. Den USB-Stick in ihrer Hand, hielt sie es nicht länger auf ihrem Platz aus. Sie musste raus. An die frische Luft. Nein, besser direkt nach Hause. Sie wollte wissen, was sich auf dem Stick befand. In Gedanken sah sie sich schon als gefeierte investigative Journalistin, überschüttet mit Preisen und Angeboten zu Interviews und Talkshows. Als sie zu Hause angekommen war, startete sie sofort den Computer. Auf dem Desktop erschien das Symbol eines Ordners mit der Unterschrift „No-Name“. Vor Aufregung flimmerte es ihr vor den Augen. Das rechte Auge ging in Richtung Nase, sie schielte. Doch das störte sie nicht im Geringsten. Nicht jetzt und nicht hier. Mit zittrigen Fingern klickte sie den Ordner an und öffnete ihn. Zahlreiche Unterordner erschienen. Sie öffnete einen nach dem anderen. Was sie sah und hörte, waren Wortschnipsel von abgehörten Telefongesprächen, Mitschnitte von irgendwelchen geheimen Zusammenkünften und Videosequenzen des sogenannten Islamischen Staates. Eine Fülle an Material, mit dem Tanja nichts anzufangen wusste. Nach zwei Stunden Hören und Anschauen brummte ihr der Schädel. Der Traum von der gefeierten Journalistin zerplatzte schlagartig und schlug in Ernüchterung, Niedergeschlagenheit und Wut um.

Allein das Sichten, Auswerten und Ordnen des Materials würde Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch nehmen. Und ohne Hilfe von Leuten mit Erfahrung und arabischen Sprachkenntnissen war es praktisch unmöglich zu verwerten. Tanja fing an, zu weinen. Ohne ihr Zutun rannen die Tränen über ihre Wangen, tropften auf das Mauspad und bildeten eine Pfütze. Enttäuscht fuhr sie den Computer runter. Aber wer sollte ihr helfen? Wem konnte sie vertrauen? Sie kannte niemanden, der infrage käme. Doch etwas wurde ihr dabei klar: Auch Otto Bergheim musste Helfer gehabt haben. Allein war diese Arbeit nicht zu schaffen. Und wo zum Teufel hatte er den Chip versteckt, von dem der Informant gesprochen hatte? Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung. Schließlich kam ihr eine Idee. Die Polizei. Hauptkommissar Kurtz. Er ermittelte doch in dem Mordfall Otto Bergheim. Gestern hatte sie mit ihm in der Rechtsmedizin Otto Bergheim identifiziert, um die Leiche zur Bestattung freizugeben. Sie hatten nicht viel miteinander geredet, dazu war der Anlass zu traurig gewesen, aber er hatte sich sehr mitfühlend und verständnisvoll gezeigt. Er müsste doch eigentlich an sachdienlichen Hinweisen interessiert sein, war ihr Gedanke. Entschlossen rief sie auf seiner Dienstelle an und verabredete sich mit ihm.

Ein unsichtbarer Feind

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