Читать книгу Ein unsichtbarer Feind - Werner Michelchen - Страница 6

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2. Kapitel

Mühsam versuchte Tanja, die Augen zu öffnen. Sie schienen wie mit Pattex verklebt. Sie richtete sich schwerfällig auf. „Ooh!“, stöhnte sie und ließ sich zurück in die Kissen fallen. In ihrem Schädel brummte es wie in einem Bienenstock. Sie lag im Bett, nackt. Nein, nicht ganz. Ein Slip bedeckte ihre Blöße. Mit geschlossenen Augen tastete sie vorsichtig die andere Seite ihres französischen Bettes ab. Alles frei, ihre Sorge war unbegründet. Kein Mann neben ihr. Langsam kam die Erinnerung zurück. Ihr dreißigster Geburtstag, das Ende ihres Volontariats, ihre Festanstellung beim „Chronisten“, die Feier mit den Kollegen.

Jeans, Bluse und Pulli lagen vor dem Bett verstreut. Bloß nicht bücken, erst einen schwarzen Kaffee, dann unter die Dusche, dachte sie, als sie sich von der Bettkante aufrichtete und schlaftrunken ins Wohnzimmer wankte.

„Huch!“, schrie sie auf und kreuzte die Arme vor dem nackten Busen. Auf der Couch lag ein Mann und schnarchte wie ein Walross. Ein zweiter lag schlafend, zusammengerollt wie ein Baby, auf dem Sessel. Sie rannte zurück ins Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Eigentlich hätte sie ihren Busen nicht verstecken müssen, die Männer schliefen ja. Es war mehr ein weiblicher Reflex.

Auch wenn sie keine Schönheit war, wie sie wusste, ihr Busen war allemal ansehnlich. Auch das übrige Äußere konnte sich sehen lassen. Sie hatte eine sportliche Figur, ein freundliches, offenes Gesicht und beim Lachen nette Grübchen an den Wangen. Zweimal die Woche ging sie ins Fitnessstudio, damit ihr Körper auch so straff blieb. Und immer wenn es die Zeit erlaubte, ging sie im Stadtpark joggen. Nur dass sie eine Brille tragen musste, war ihr zuwider. Immer wenn sie sich aufregte, bekam sie einen Silberblick. Ihr rechtes Auge peilte dann ihre Nase an. Sie schielte. Deshalb trug sie zu Hause, im Büro und vor dem Computer eine Brille. Wenn sie unterwegs war, benutzte sie Kontaktlinsen.

An Duschen war im Moment nicht zu denken. Erst einmal musste sie die Männer loswerden. Aber wie? Bei Jochen Schmitt, dem Volontär, war das kein Problem. Er tat, was man ihm sagte. Bei Felix Kramer war das schon schwieriger. Er war nicht nur der exzellente Fotograf der Redaktion, sondern hatte auch einen gewissen Ruf als Weiberheld. Wenn man dem Büroklatsch glauben konnte, besaß er eine umfangreiche Privatgalerie an Aktfotos von sämtlichen weiblichen Angestellten der Redaktion. Und ob es dabei immer nur um das Modellstehen gegangen war, blieb sein Geheimnis. Tanja jedenfalls verspürte nicht das geringste Verlangen, in diese Sammlung aufgenommen zu werden. Nur wie sollte sie es anstellen, ihn loszuwerden? Endlich fiel ihr der Rat ihrer verstorbenen Mutter ein: Einem Mann nach einer durchzechten Nacht Vorwürfe zu machen, ist der falsche Weg. Gib der Bestie lieber etwas zu fressen - wenn sie satt ist, ist sie friedlich, hatte sie gesagt.

Tanja schlich zurück in die Küche, schlug sechs Eier in die Pfanne, gab Speck und Zwiebeln dazu und briet ein kräftiges Frühstück. Ihr selbst wurde schon vom Geruch übel. Verteilt auf zwei Teller mit Toast sowie mit einer Kanne schwarzem Kaffee ging sie ins Wohnzimmer zurück und staunte. Jochen Schmitt und Felix Kramer waren wach. Offensichtlich hatte sie der Bratenduft geweckt. Ihre Gesichter drückten Scham und Verlegenheit aus.

„Du bist ein Schatz“!, sagte Felix und griff nach Messer und Gabel. Jochen nickte zustimmend und begann ebenfalls, zu essen. Mehr wurde nicht gesprochen. Als das Frühstück verputzt war, verabschiedeten sich die beiden artig. Tanja atmete auf, warf einen Blick zum Himmel und sagte: „Danke, Mama!“ Dann begann sie mit dem Aufräumen. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld: Leere Bierflaschen, halb volle Schnapsflaschen, schmutzige Teller und Gläser, alles musste sortiert, gespült und an Ort und Stelle geräumt werden. Außerdem brauchten die Blumen frisches Wasser. Auf dem Sideboard entdeckte sie ein Handy. Einer der Kollegen musste es vergessen haben. Sie steckte es in ihre Handtasche, um es mit in die Redaktion zu nehmen und dem Eigentümer zurückzugeben. Völlig erschöpft gönnte sie sich eine Weile später eine Pause. Mit einer Tasse schwarzem Kaffee ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. Im Schneidersitz am Kaffee nippend griff sie nach dem Stapel Glückwunschkarten, um sie näher zu betrachten. Nach ihrer Auffassung verrieten Texte und Motive eine Menge über den Absender und wie er zum Empfänger stand. Schließlich hatte sie Psychologie und Kriminologie studiert.

Da gab es den Gleichgültigen, der nur vorgefertigte Texte unterschrieb. Den Romantischen, der den Text selbst verfasste oder sogar Verse auf die Person dichtete. Oder den Sentimentalen, der den Empfänger mit warmen Worten zu umarmen versuchte. Jede Karte nahm Tanja in die Hand und ordnete den Text gedanklich in die jeweilige Kategorie ein und der Person zu. Der Chefredakteur Lothar von Pinnau gehörte eindeutig zu den Gleichgültigen. Allerdings hatte er einen guten Draht zur Verlegerfamilie und das kam der ganzen Belegschaft zugute. Also nahm sie ihn gedanklich in Schutz. Immerhin verdankte sie ihm ihre Festanstellung. Das heißt, so fest war sie nun auch wieder nicht. Sie galt als “Feste Freie“ Mitarbeiterin. Übersetzt ins Arbeitsrecht, war sie eine Scheinselbstständige. Allerdings kam ihr das sehr entgegen. So konnte sie ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen, sich um ihren kränkelnden alten Vater kümmern und musste nur zu wichtigen Terminen in die Redaktion fahren, die in Hamburgs Hafencity lag. Sie wohnte in der sogenannten „Jarrestadt“ im Stadtteil Hamburg-Winterhude. Die unter dem bekannten Baudirektor Fritz Schumacher im Jahr 1929 erbaute Backsteinsiedlung hatte zur damaligen Zeit als Vorbild für modernes Wohnen gegolten. Gedacht waren die Wohnungen für die dort lebende Arbeiterschaft. Nur hatte sich herausgestellt, dass die Mieten für die angedachte Klientel unerschwinglich waren, und so zogen die schon damals Besserverdienenden dort ein. Mit dem fußnah gelegenen Stadtpark und seiner Attraktion, dem berühmten Planetarium, war die Siedlung auch heute noch ein beliebtes Wohngebiet.

Als Tanja die Karte von Gisela Fromm in der Hand hielt, dachte sie sogleich an die Anfangszeit ihres Volontariats zurück. Gisela Fromm, 55 Jahre alt, ein mütterlicher Typ. Sie war gelernte Bibliothekarin und arbeitete seit vielen Jahren im Archiv. Über jeden und alles wusste sie Bescheid. Während der Einarbeitungszeit, der sogenannten Kaffeeholerphase, hatte sie Tanja an die Hand genommen und sie mit den Gepflogenheiten der Redaktion vertraut gemacht. Auch heute noch holte sie sich Rat bei ihr, wenn sie einmal nicht mehr weiterwusste.

Als Letztes las sie die Karte von Otto Bergheim, ihrem Mentor. Otto Bergheim war der heimliche Star des Redaktionsteams. Er war stellvertretender Chefredakteur und schrieb häufig die Leitartikel. Seine Stärke aber war der investigative Journalismus. Er verfügte über einzigartige Verbindungen sowohl in höchste politische Kreise als auch in die Wirtschaft. Und wenn es nicht anders ging, scheute er sich auch nicht davor, in der Unterwelt zu recherchieren. Er besaß einen geradezu unfehlbaren Riecher für krumme Geschäfte, Durchstechereien und Korruption.

Nachdem Tanja sich freigeschwommen hatte, bekam sie die Aufgabe, über interessante Kriminalfälle zu berichten. Das fiel ihr aufgrund ihrer Vorbildung als Kriminologin nicht allzu schwer. So recherchierte sie viel in Gerichtssälen, bei der Polizei und gelegentlich auch im Gefängnis. Otto Bergheim hatte sie bereits eine Weile beobachtet. Er hielt sie für außerordentlich talentiert und förderte sie. Sukzessive weihte er sie in die wichtigsten Grundsätze guten Journalismus ein. Absolut objektiv sein, die Informanten unbedingt schützen und Tatsachenbehauptungen mehrfach aus unabhängigen Quellen verifizieren, bevor man sie veröffentlicht, hatte er ihr eingetrichtert. Darüber hinaus war er ein Anhänger des Konfuzianismus und hatte stets einen Spruch oder eine Weisheit seines Idols parat.

Tanja las, was er auf die Karte geschrieben hatte:

„Laute Freunde sind oft leise Feinde! (Konfuzius)“ stand da.

Ein unsichtbarer Feind

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