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Das Seminar Reichenau TSCHARNER, DIE GRÜNDERPERSÖNLICHKEIT

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Wie einst beim Seminar Haldenstein, das von 1761 bis 1771 bestand, können wir auch bei seinem Nachfolger in Reichenau von zwei Gründerpersönlichkeiten sprechen. Damals waren es Martin Planta und Johann Peter Nesemann, hier Nesemann und Tscharner. Der Haldenstein-Zögling Tscharner war Initiator und treibende Kraft hinter dem Seminar Reichenau, entwickelte das Konzept und arbeitete den Plan dafür aus, überzeugte die beiden Direktoren der Handlungs- und Speditionsfirma Bavier von seiner Realisierbarkeit, organisierte und leitete den Umbau, suchte nach Schülern, wählte die Lehrer aus – vielleicht in Absprache mit Nesemann – und wurde Kurator der Schule.

Inwieweit auch der Lehrplan auf ihn zurückging, wissen wir nicht, aber der Umstand, dass Tscharner auf seinem Landgut in Jenins während sechs Jahren eine kleine Privatschule für seine Söhne und Kinder von Bekannten unterhielt und dazu ausführliche pädagogische Überlegungen anstellte, weist darauf hin, dass er auch für Reichenaus pädagogisches Konzept verantwortlich gewesen sein dürfte, das der Öffentlichkeit in einem Prospekt vom Mai 1793 zur Kenntnis gebracht wurde.66 In die Gestaltung des Stundenplans, die Fächerbesetzung und den Schulbetrieb mischte er sich dagegen nicht ein; das überliess er dem erfahrenen Nesemann, den er auch sonst und in den unterschiedlichsten Fragen zu Rate zog.

Bemerkenswert ist, wie viel Zeit Tscharner neben seinen vielen anderen Verpflichtungen der Organisation der Herrschaft Reichenau-Tamins, der Errichtung des Schulinternats und später seiner Aufgabe als Kurator des Seminars widmete. Im Oktober 1792 schätzte er, dass ihn seine Tätigkeit für Reichenau zwei bis drei Tage wöchentlich in Anspruch nehmen werde.67 Das war nicht zu hoch veranschlagt. Immer wieder pendelte er zwischen Chur, Jenins und Reichenau und liess es sich auch nicht nehmen, sich an wichtigen Anlässen wie Schulausflügen und den halbjährlichen öffentlichen Schulexamen im Mai und Ende November (vor den beiden grossen Märkten in Chur) zu beteiligen.


5 — Johann Baptista von Tscharner (1751–1835) in seiner Staatstracht, nach einer Fotografie aus dem Staatsarchiv Graubünden. Das Originalgemälde befindet sich in Privatbesitz.


6 — Standbild des Politikers und Pädagogen Tscharner auf dem Arcas genannten Platz in Chur. Links davon an der Mauer befindet sich ein Zitat aus einer Rede Tscharners vor Schülern der Stadtschule. Die Steinbank und das Brunnenbecken, die ebenfalls zum Ensemble gehören, laden zum Niederlassen ein.

Sein Vertrauter in Reichenau war Aloys Jost, der als Verwalter der Herrschaft und des Seminars im Schloss wohnte und ihm häufig, zuweilen sogar täglich, schriftlich die neusten Vorfälle berichtete. Begünstigt wurde dies dadurch, dass auf der Strecke Chur-Reichenau die Postboten immer in der einen oder anderen Richtung unterwegs waren. Auch von Nesemann, der nicht gerne und viel schrieb, wurde Tscharner über wichtige Vorkommnisse unterrichtet, meistens mündlich. Seinen beiden Kompagnons Johann Baptist Bavier dem Älteren und dem Jüngeren begegnete er dagegen nur an den monatlichen Sitzungen des Herrschaftsrats in Reichenau, falls sie ihm in Chur nicht zufällig über den Weg liefen oder in Briefen die Zustände im Seminar oder Josts Verhalten und Entscheidungen bemängelten.

Während die Herrschaftsratssitzungen offenbar nach strengen Regeln abliefen – wir kennen die Reglemente68 und die Sitzungsprotokolle jedoch nicht –, fielen die Briefe der beiden Bavier meist geharnischt und unfreundlich aus. Sie hatten ihre eigenen Zuträger und Vertrauten in Reichenau, ihre Mitarbeiter der Schreibstube, die wenig erfreut von Josts Aktivitäten und dem Lärm und den Umtrieben der Kinder waren, weil ihrer Ansicht nach mit dem Einzug des Seminars die geschäftige Ruhe der Firma und ihr Profit erheblich gestört wurden.

Reichenau war nur eines von vielen Projekten, denen sich Tscharner mit Leib und Seele verschrieb. Zwischen 1775 und 1777 leitete er die Landvogtei in Tirano und von 1783 bis 1785 jene der Herrschaft Maienfeld. Es spielte für ihn keine Rolle, dass er diese beiden Ämter für viel Geld ersteigern musste; er setzte alles daran, seine Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen, auch von 1781 bis 1785, als er mit dem Ausbau der Reichsstrasse zwischen der St. Luzisteig und Chur betraut war.69 Von seiner Tätigkeit im Churer Schulrat, wo er bis 1786 als Schulpräsident waltete und jährlich zum Schulexamen väterlich-belehrende Reden der Tugendhaftigkeit an Schüler und Lehrer richtete, 70 war schon die Rede. Ein Denkmal auf dem Arcas-Platz in der Churer Altstadt erinnert an Tscharner als Kinder- und Schulfreund. Zur linken Seite ist ein Zitat in die Mauer eingelassen: «Denn wisset, Kinder, kein Mensch ist einiger Hochachtung wert, und keiner wird auch von seinen Mitbürgern geliebt, der nicht trachtet, sich selbst zu verbessern und seinen Nebenmenschen wohl zu tun. Beides muss nebeneinander bestehen, Wissenschaft und Redlichkeit.»

1786 ergriff Tscharner die Initiative zur Gründung der Churer Armenanstalt, die noch im gleichen Jahr realisiert wurde und deren Präsident er bis 1794 war. Erst nachdem er Bürgermeister der Stadt wurde, gab er dieses Amt auf und musste auch sonst kürzertreten, vor allem, als er im September 1794 als Bürgermeister auch das Präsidium des Gotteshausbundes und damit eines der verantwortungsvollsten Ämter der Drei Bünde übernahm.71

Diese Häufung von Ämtern mit- oder nacheinander war für ein führendes Mitglied der politisch mächtigen Bündner Geschlechter der Salis, Planta, Sprecher, Albertini, Buol oder Tscharner nichts Aussergewöhnliches, aber Tscharner zeichnete sich dadurch aus, dass er sich, einmal ernannt, tatsächlich für das Wohl des Volks einsetzte und verantwortungsvolles Handeln und Reformen über die alten Herrenrechte stellte. Nur beim Machterhalt blieb er der herkömmlichen Politik verhaftet, die sich machiavellistischer Werkzeuge der Bestechung und des Schacherns, des Ausbootens von Gegnern, der Beeinflussung der Wähler durch Intrigen, Stimmungsmache und Polemik bediente, wenn auch bei Tscharner in innerlicher Distanz. Als hauptsächlichen Widersacher und Bedrohung für den Staat sah er die Familie der Salis und ihren Hauptexponenten Ulysses von Salis-Marschlins an, den einflussreichsten Mann Bündens. Um dessen Vormachtstellung zu brechen, gründete Tscharner mit Gesinnungsgenossen den Patriotenbund, scharte Gegner der Salis um sich und übernahm 1787 die Führung.72 Das war jene verhängnisvolle Bündner Politik, die sich von der Fehde zwischen Familien bestimmen liess und dabei die eigentliche Aufgabe, eine konsistente und kluge Innen- und Aussenpolitik zu verfolgen, allzu oft aus den Augen verlor. Tscharner stand im Übergang des traditionellen Bündner Machtpolitikers und Chefs eines Familienclans zum modernen, aufgeklärten Staatsbeamten mit sozialreformerischen Zielen. Erst die Kantonsgründung 1803 beendete dieses Dilemma, aber da war Tscharner schon nicht mehr politisch aktiv.

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