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Geschichte der Herrschaft und des Schlosses Reichenau DAS SCHLOSS REICHENAU IM LAUF DER JAHRHUNDERTE

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Wendet man sich vom Bahnhof Reichenau-Tamins, der sich auf dem ehemaligen Zollboden befindet, nach Norden, so ist eine Autobahn zu überqueren, die sich hier ans Ufer des Rheins schmiegt, bevor man in die ältere Geschichte Reichenaus eintauchen kann. Links und rechts überqueren Brücken aus Stahlbeton und Eisen die beiden Rheinarme oder den bei Reichenau vereinten Rhein und zeugen noch heute von der Bedeutung dieses Ortes als Verkehrsknotenpunkt: zu den Bündner Pässen im Süden und Westen, den Strassen und Eisenbahnlinien in Richtung Chur und von dort nach Vorarlberg, ins schweizerische Mittelland und an den Bodensee.

Schon vor Jahrhunderten gab es in Reichenau Verbindungslinien in alle Himmelsrichtungen, die den Ort zur Drehscheibe machten, auch wenn es damals weniger eilig zu- und herging als heute. Eine Urkunde von 1399 erwähnt eine «Zollbrugg» über den Vorderrhein, 1 und 1424 taucht in einem Dokument eine «Brugg zu Rychenow» auf, die den früheren Übergang über den vereinigten Rhein, die Puntarsa bei Ems, ersetzte.2 Wann genau die Brücken erbaut wurden, wissen wir nicht, wohl aber, dass sie eine wichtige Rolle für den Verkehr der Ortschaften rechts und links des Rheins und des Bündner Oberlands mit Chur spielten und dass sie dem Import von Wein, Getreide oder Südfrüchten aus Italien und dem Veltlin nach Bünden und dem Transitverkehr zwischen der Eidgenossenschaft und dem deutschen Reich mit Italien dienten.

Tag und Nacht trafen damals Reiter, Saumpferde, Kutschen und Transportwägen in Reichenau ein, klapperten oder polterten über die beiden Holzbrücken und hielten beim Schloss an, um ihre Ware begutachten und verzollen zu lassen. Die einen fuhren gleich weiter, andere nutzten das Zollhaus, das zugleich Gasthaus und Herberge war, um sich auszuruhen. In der Schreinerei und der Schmiede, die seit dem 18. Jahrhundert hier angesiedelt waren, wurden Reparaturen an den Transportmitteln vorgenommen und im Schlossladen Vorräte oder sonstige für die Reise notwendige Gegenstände erworben. Zudem bestand Gelegenheit, Güter wie Wein, Reis und Tierfelle auf Flösse umzuladen und auf dem Rhein bis zum Bodensee zu verschiffen, ohne den schlecht erhaltenen, holprigen Strassen ausgeliefert zu sein.


1 — Friedrich Salathés romantische Sicht von der Farsch auf Reichenau und das Rheintal Richtung Chur, in Aquatinta gebracht von J. L. Bleuler. Erschien in der «Sammlung von Schweizer Ansichten in verschiedenen Zusammenstellungen» bei Locher in Zürich (um 1845).

Sämtliche Passanten mussten den Brückenzoll entrichten, sogar wenn sie weiter oben, bei Fürstenau, den Rhein passierten, die Reichenauer Brücken anderswo umgingen oder mit Flössen, die in Bonaduz beladen wurden, an Reichenau vorbeizogen. Der Zoll war ein Privileg der Herrschaft, die für den Bau und die Instandhaltung der Brücken und Wuhren (Dämme) verantwortlich war. Noch 1796 musste ein Zöllner, der zugleich Gastwirt und Güterverwalter war, die Abgabe, die auf einem ausgeklügelten Tarif beruhte, überwachen.3 Er geriet mehr als einmal in Bedrängnis, weil viele Reisende sich weigerten, den vollen Betrag oder auch nur einen Teil zu entrichten, und sich auf Ausnahmeregelungen beriefen.4 Dennoch soll der Brückenzoll damals jährlich gegen 1000 Gulden eingebracht haben, 5 die alle Kosten reichlich deckten, zumal die umliegenden Gemeinden für den Brückenbau gratis Holz liefern mussten.6 Erst 1849 wurde dieser Zoll abgeschafft, aber noch 1879 musste der Eigentümer des Schlosses für den Unterhalt sorgen, gegen eine kleine Entschädigung des Kantons, obwohl die Brücken längst schon Teil des öffentlichen Strassennetzes waren. 1880 verschwand dieser alte Zopf und damit das letzte der feudalen Herrschaftsrechte, das auch die Bürger der Nachbargemeinde Tamins einbezogen hatte.

Ehedem bildete Reichenau einen Teil der Herrschaft Hohentrins. Die Herren von Hohentrins waren nach dem Brückenschlag bestrebt, sich durch Gebühren für ihre Auslagen zu entschädigen, und errichteten eine Zollstätte. Als die Burg Trins 1470 abbrannte, zogen Herrschaft und Verwaltung nach Reichenau um.7 1583 wurde die Herrschaft von Rudolf von Schauenstein erworben und 1616 kaufte sich die Gemeinde Trin von ihr frei. Das Restgebilde, zu dem neben Reichenau noch die Gemeinde Tamins gehörte, erhielt jetzt den Namen Herrschaft Reichenau oder Reichenau-Tamins.

Vermutlich bestand vor 1570 in Reichenau nur ein Zollhaus, das, wie schon erwähnt, später zugleich als Gasthaus diente; ein herrschaftliches Schloss wurde wohl erst nach 1616 gebaut.8 1742 ging Reichenau an Johann Anton Buol (1710–1771) über, der sich fortan Buol-Schauenstein nannte. Nach seinem Tod erbte sein Neffe Johann Anton Baptista von Buol-Schauenstein (1729–1797) den Besitz. Am 5. März 1792 verkaufte er Schloss und Herrschaft dem bereits erwähnten Handelskonsortium Bavier in Chur.

Über das Motiv dieses Verkaufs gibt es verschiedene Vermutungen. Geldknappheit könnte eine Rolle gespielt haben. Es wird auch gesagt, Buol-Schauenstein habe befürchtet, «einer blinden Volkswut zum Opfer zu fallen, denn die Gedanken der französischen Revolution hatten auch schon in Graubünden Anklang gefunden».9 Solche Behauptungen sind mit Vorsicht aufzunehmen. Gegen eine akute Verschuldung des Schlossherrn spricht der Umstand, dass die Kaufsumme nicht auf einmal bezahlt, sondern, nach einer grösseren Anzahlung, in jährlichen Raten, auf zehn Jahre verteilt, fällig wurde.

Mit ebenso guter Berechtigung lässt sich auf die berufliche und familiäre Situation hinweisen: Buol-Schauenstein, ein Bündner aus Sumvitg, war Churer Domherr und wurde nach Aufgabe des geistlichen Standes österreichischer Gesandter im Freistaat Gemeiner Drei Bünde, ein Amt, das er von seinem Vater übernommen hatte. 1791 verlor er das Vertrauen der Habsburger, wurde im Juli entlassen und sollte durch den österreichischen Beamten Baron Anton von Cronthal ersetzt werden, 10 der aber noch nicht abkömmlich war. Also wurde Buol-Schauenstein Ende 1791 ad interim wieder mit seinem Amt betraut.11 Es ist einleuchtend, dass Wien angesichts des sich abzeichnenden Kriegs mit dem revolutionären Frankreich auf dem geografisch und politisch wichtigen Posten in Bünden einen Diplomaten ohne Loyalitätskonflikte und Eigeninteressen haben wollte.

Buol-Schauenstein, der im Kaufvertrag vom März 1792 noch als «Freiherr von Riet- und Strassberg, Herr von Reichenau und Tamins, kaiserlich-königlicher Kämmerer, wirklicher Geheimer Rat, ausserordentlicher Abgesandter und bevollmächtigter Minister bei der Republik der Drei Bünde» bezeichnet wurde, stand nun ohne Aufgabe und, was für ihn entscheidender war, ohne Macht da. Da er sich im 63. Lebensjahr befand, wollte er sich wohl der Verantwortung als Schloss-, Herrschafts- und Gutsbesitzer entledigen und anderswo ein Rentnerdasein führen. Dazu sollte ihm der Verkauf der Herrschaft verhelfen.

Zu seinem Entschluss, Reichenau zu verlassen, mochte auch der Umstand beigetragen haben, dass seine Ehefrau, eine geborene Gräfin von Sarntheim, und ihre gemeinsame Tochter Anna Maria beide 1791 in Reichenau gestorben waren. Die beiden Söhne – der eine hatte eine geistliche Laufbahn eingeschlagen, der andere stand als Beamter in österreichischen Diensten – waren gewiss nicht gewillt, im Elternhaus zu bleiben und Schuldner ihres Vaters zu werden oder um des Titels willen ein kostspieliges Schloss zu unterhalten, sich mit Verwaltungsaufgaben herumzuschlagen und in dauernden Reibereien mit den Taminsern zu leben, die zwar gern Forderungen stellten, aber ihre Pflichten als Untertanen nur widerwillig erfüllten.

Wie anderswo kam es auch in den Drei Bünden zu wachsenden Spannungen zwischen der adligen Herrschaft und den Gemeinden, die zwar ihre früheren Untertanengebiete waren, aber auf politischer Ebene grosse Macht ausübten, zu Entscheidungen im Gesamtstaat befragt werden mussten und neben dem Referendums- auch ein Initiativrecht besassen. Schon der Begriff Untertanen war für sie eine Beleidigung; er entsprach nicht ihrem Selbstverständnis als Bürger mit einem Mitspracherecht in Bundesfragen und auf höchster politischer Ebene. Dass das Verhältnis zwischen Schloss und Tamins kein einfaches war, zeigt folgendes Beispiel: Für die Inauguration des Thomas Franz Schauenstein im Jahr 1720 einigte man sich darauf, dass die Taminser ihren neuen Herrn als «hochwohledelgeborenen gnädigen Herrn» anzureden hatten und dieser die Obrigkeit von Tamins mit «wohlgeachtete, ehrenfeste, fürsichtige, insonders vielgeehrte Herren, meine lieben Freunde und getreuen Gemeindeleute».12 Es wollte also jeder als Herr bezeichnet werden, auch wenn es nur einen einzigen «Hochwohl-Edelgeborenen» gab.

Die Gemeinden konnten einem ortsansässigen Adligen das Bürgerrecht verwehren, wodurch er nicht einmal in lokalen Angelegenheiten mitbestimmen konnte, und in Gemeindeversammlungen zählte seine Stimme nicht mehr als die jedes einfachen Bürgers, Bauern, Hirten oder Knechts. Wollte der Herr die Unterstützung einer Gemeinde in Anspruch nehmen, etwa für die Wahl in ein Amt, so musste er den Bewohnern einen Zuber, Saum oder gar ein Fuder Wein ausgeben und die Gemeindeoberen mit einem Festessen und grosszügigen Geschenken günstig stimmen. Ohne solche Erkenntlichkeiten verlief kaum eine wichtige Wahl. Die landauf, landab geläufige aktive und passive Bestechung von Gemeindeoberen, Amtsträgern, Richtern und Syndikatoren, die Manipulation der öffentlichen Meinung, Rechtsbeugung, das Frisieren von Zahlen, Ausstreuen falscher Gerüchte, um den politischen Gegner zu schädigen, die geheimen Abkommen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, die Entgegennahme und Weiterverteilung von Pensionen einer ausländischen Regierung und anderes mehr bezeichneten die Bündner schlicht als «Praktiken».

Wie begrenzt die Macht einer Herrschaft war, lässt sich anhand der Urkunden der Gemeinde Tamins zeigen: Bei jedem Herrschaftswechsel musste der neue Inhaber, wenn er den Huldigungseid entgegengenommen hatte, der Gemeinde versprechen, sie in ihren Rechten zu schützen. Beide Parteien stützten sich auf einen 1670 vereinbarten Vertrag (Spruchbrief), der unter anderem vorsah, dass auf Gemeindegebiet ohne Einwilligung von Tamins keine neuen Gebäude errichtet werden durften. Den Rechten der Gemeindemitglieder, etwa ihr Vieh im Frühling und Herbst zum Weiden auf Reichenauer Boden zu treiben, standen kaum noch Rechte der Herrschaft gegenüber. So konnte die Herrschaft zwar Vorschläge für die Bestallung eines Beamten oder Pfarrers machen. Ihn zu wählen, oblag aber der Gemeinde. Bei Uneinigkeit wurde ein unparteiisches Schiedsgericht angerufen, dessen Urteil sich beide Seiten beugen mussten.13

Der Rechtshistoriker Peter Liver beurteilt in seinem Aufsatz «Die staatliche Entwicklung im alten Graubünden» das Verhältnis von Herr und Untertanen so: «Die den Untertanen eingeräumten Rechte waren so umfassend, dass man mit Recht gesagt hat, als Privilegien müssten eigentlich nicht diese Rechte der Untertanen, sondern die wenigen Befugnisse der Herrschaft betrachtet werden.»14

Wie wenig Buol-Schauenstein die weitgehend erodierten Herrschaftsrechte noch bedeuteten, zeigt seine einzige Bedingung beim Verkauf der Herrschaft: dass der katholische Gottesdienst im Schloss weiterhin gewährleistet sein müsse. Bei der ausgehandelten Verkaufssumme wird er von dem Churer Speditions- und Handelshaus kaum einen Zuschlag für die einst prestigeträchtige Herrschaft – immerhin durfte man sich als Eigentümer mit einem Adelstitel schmücken – verlangt und erwartet haben. Es waren schwierige Zeiten für adlige Gutsbesitzer, deren Einkünfte hauptsächlich aus der Organisation von Söldnerdiensten und aus Bestechungsgeldern (Pensionen) fremder Mächte geflossen waren: Beide Quellen sprudelten nicht mehr so reichlich wie früher, und so wurde das Geld unter den führenden Bündner Familien knapp, die gern in einem bescheidenen Luxus lebten, ihr Vermögen aber zum grössten Teil in Grundbesitz investiert hatten.

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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