Читать книгу Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau - Werner Ort - Страница 18
SCHÜLERALLTAG
ОглавлениеDie meisten Informationen aus der Anfangszeit des Seminars sind in den beiden Prospekten vom April und August 1793, in Tscharners «Reichenauer Notanda» und in dem schon erwähnten handschriftlichen Stundenplan vom Wintersemester 1793/94 enthalten, dem wir neben den unterrichteten Fächern auch die Namen der Lehrer und Schüler entnehmen.163 Ein Vergleich mit der Aufstellung vom Frühjahr 1793 zeigt, dass im Wintersemester 1793/94 nicht alle im Mai versprochenen Fächer unterrichtet wurden.
Alle Schüler bis auf Ruggiero erhielten in der ersten Stunde von 8 bis 9 Uhr von Nesemann Religionsunterricht. Der übrige Vormittag war dem Französisch, Italienisch, Latein und Rechnen gewidmet; in diesen Fächern bestanden je zwei Klassen, und die Lehrer wechselten sich ab, während der Schüler Otto Schwarz – vermutlich der jüngste oder ungeschickteste – auch noch einzeln im Schreiben unterrichtet wurde, wobei es sich um nichts anderes als eine Einführung in deutsche Sprache, Grammatik und Orthografie gehandelt haben dürfte. Ruggiero erhielt von Nesemann von zehn bis zwölf Uhr Philosophie oder, wie es im Prospekt hiess, allgemeine philosophische Moral. In Latein liessen sich nur gerade 5 der 16 Schüler unterrichten. Auffallend ist ohnedies die geringe Bedeutung des Lateins gegenüber den modernen Sprachen, anders als es in städtischen Lateinschulen wie etwa in Chur gehandhabt wurde.
Wegen des unterschiedlichen Bildungsstands der Schüler war dieser Stundenplan recht kompliziert. Es wurde darauf geachtet, dass keine Zwischenstunden entstanden. In wie vielen Räumen der Unterricht stattfand, geht aus den Unterlagen nicht hervor, aber angesichts der geringen Anzahl Schüler ist es denkbar, dass die Lehrer alle in einem einzigen Raum in kleinen Gruppen versammelten, wie die Lithografie von 1826 es suggeriert.
10 — Individueller Stundenplan der Schüler für das Wintersemester 1793/94, das Anfang Dezember begann. Hinter dem Kürzel «Ch» steht Lehrer Louis-Philippe, alias Chabos, der von 9 bis 10 Geometrie unterrichtete. Ein einzelner Schüler ist dafür eingetragen; vermutlich war einzig er reif genug dafür und verstand ausreichend Französisch. Mit Bleistift eingetragen sind in der linken Spalte noch Schüler, die angemeldet wurden, aber noch nicht eingetroffen sind.
Von zwölf bis drei Uhr war Mittagspause. Diese Zeit wurde fürs Essen, den gemeinsamen Spaziergang und «notwendige Zwischenarbeiten» benutzt. Das geht aus einem späteren Prospekt vom Oktober 1796 hervor.164 Vermutlich wurden in dieser Zeit Spaziergänge gemacht oder Gartenarbeiten erledigt. Dann folgten bis fünf Uhr noch einmal zwei Lektionen. Nesemann unterwies Ruggiero eine Stunde lang in Rhetorik und acht Schüler in Geschichte und Geografie, Rusterholz neun Schüler in Naturgeschichte und Naturlehre sowie parallel dazu 15 Schüler im Schreiben (also Deutsch), und Juvenal erteilte jenen sieben Schülern, die den naturkundlichen Unterricht nicht besuchten (aber bei Rusterholz schreiben lernten), eine Französischstunde. Auf das Fach Englisch wurde verzichtet, ebenso auf Handelslehre, Buchhaltung und Mathematik. Dazu fehlten die Ressourcen und, dem geringen Alter, Bildungsstand und sozialen Hintergrund der Schüler nach zu urteilen, vielleicht auch das Interesse. Da die Angaben über Unterricht und Freizeitgestaltung aus den ersten Jahren spärlich und keine Berichte und Tagebücher zu finden sind, die den Alltag der Schüler in Reichenau näher beleuchten, ziehen wir für den weiteren Tagesablauf wiederum den Prospekt vom Oktober 1796 zu Rate. Dort steht, dass die drei Stunden bis zum Abendbrot um acht Uhr von den Kindern dafür verwendet wurden,
«um nach einer schicklichen Erholung ihre Lektionen zu lernen, das, was sie den Tag hindurch gelernt haben, zu repetieren, die von den Lehrern gegebenen schriftlichen Aufgaben auszuarbeiten und dergleichen mehr. Um acht Uhr speisen sie zu Abend, nachdem sie also neun Stunden des Tags hindurch mit Unterricht und nützlichen Arbeiten zugebracht haben. Nach dem Abendessen pflegen sie in Gesellschaft der Lehrer, sich miteinander im vertraulichen Tone zu unterhalten oder am Schachbrett zu spielen; oder es erzählt ihnen auch ein Lehrer die Lebensbeschreibung einer merkwürdigen Person und einer der Zöglinge erzählt sie den folgenden Tag nach dem Mittagsessen laut, und mit natürlicher Deklamation nach. So lernen die Eleven die Kunst, mit Anmut und Geist und im Zusammenhange zu erzählen; – so wird auch diese Konversationsstunde eine Stunde des Vergnügens und hoher edler Freude; so wird jeder Augenblick benutzt zur Bildung des Geistes und Herzens; so dürfen wir uns zeigen, den ganzen langen Tag über, zeigen, was wir sind und was wir tun. Wer daran zweifelt, der komme und sehe, und strafe uns der Lügen, wenn er darf und kann. Vergnügt eilen endlich um 10 Uhr sie dem Bette zu, wo ein gesunder, stärkender Schlaf auf sie wartet.»165
Ein solch enges Zusammenspiel mit den Schülern erforderte von den Lehrern, dass sie sich nicht von ihnen separierten. Man war den ganzen Tag zusammen, nicht nur beim Unterricht, nahm im selben Raum die drei Mahlzeiten ein und verbrachte auch die Freizeit, ja sogar die Sonntage miteinander. Das setzte eine hohe Präsenzzeit voraus und die Bereitschaft, sich mit den Schülern und deren Problemen intensiv zu befassen und die eigenen Interessen, ja das Privatleben hintanzustellen. Dass es nicht jedem Lehrer entsprach, ganz in seiner pädagogischen Aufgabe aufzugehen, zeigte sich schon bald und führte dazu, dass einige von ihnen ausgewechselt werden mussten.