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LEHRER UND SCHÜLER

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Es bereitete Tscharner erhebliche Mühe, sechs Lehrer zusammenzubringen, um alle vorgesehenen Fächer unterrichten zu lassen. Nesemann hatte sich zwar schnell überzeugen lassen und als künftiger Direktor einen Vertrag zu günstigen Bedingungen abgeschlossen, danach aber stockte die Anwerbung. Als reformierten Hauptlehrer hätte Tscharner gern den routinierten Jakob Valentin gewonnen, der mit Genehmigung des Bundstags seit 1789 als Leiter der Familienschule Jenins den Titel Professor tragen durfte.131 Obwohl Tscharner sein Anliegen eindringlich vorbrachte und ihn beschwor, die neue Stelle anzunehmen, weil das Seminar sonst nicht gedeihen könne, war Valentin nicht willens, seine relative Unabhängigkeit bei gesicherten Einkünften – er war 1787 an Stelle seines verstorbenen Vaters als Pfarrer in Jenins nachgerückt – mit einer ungewissen Stellung zu vertauschen, zumal er sich in der ihm angetragenen Position hinter Nesemann zurückgesetzt fühlte.132 Tscharner bot ihm ein Gehalt von 700 Gulden an, 100 weniger als Nesemann, geringere Privilegien und keinen Anteil an den Geschenken der Eltern.

Die Suche nach einem katholischen Hauptlehrer verlief ebenfalls harzig, weil kein guter Theologe, sondern ein Pädagoge gefragt war, der in mehreren weltlichen Fächern beschlagen sein musste und beispielsweise moderne Sprachen, Handelsfächer oder Naturwissenschaften auf Mittelschulniveau unterrichten konnte. Das sah das Curriculum eines Bündner Priesters nicht vor, falls er sich nicht jahrelang als Hauslehrer bei einem weitgereisten und gebildeten Kaufmann oder Politiker verdingt hatte. Tscharner wandte sich wegen eines Italienischlehrers sogar an Pfarrer Maffioli in Mailand, der ihm auch nicht weiterhelfen konnte.133

Die nächste Schwierigkeit, einen guten Mathematik- und Physiklehrer, gleich welcher Konfession, zu finden, der, wie Martin Planta in Haldenstein, den geisteswissenschaftlich orientierten Nesemann ergänzen konnte, liess sich ebenfalls nicht lösen. Die Anstellung scheiterte häufig an Gehaltsforderungen, an Bedenken, sich in eine abgeschiedene Berggegend zu begeben, und an der Anzahl Unterrichts- und Aufsichtsstunden, die von den Lehrern in Reichenau gefordert wurde. Tscharner sandte vergeblich Anfragen nach einem geeigneten «Subjekt» an Bekannte in der Schweiz134 und wandte sich an den Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann in Schnepfenthal, den er schon auf der Suche nach Lehrern für Jenins in Anspruch genommen hatte.135

Nicht einmal ein Zeichenlehrer konnte aufgetrieben werden, obwohl sich drei Lehrer bewarben, darunter Martin Friedrich Bernigeroth aus Leipzig, der schon in Haldenstein und Marschlins Zeichenmeister gewesen war und sich auch als Tanzmeister empfahl.136 Hier lag die Sachlage anders: Ein solcher Lehrer hätte angesichts der zunächst kleinen Schülerzahl in Reichenau kein Auskommen gehabt, sondern wäre in Chur auf eine zweite Anstellung oder Privatschüler angewiesen gewesen. Tanzen, Zeichnen, Musik und Fechten waren Freifächer, die von den Eltern extra bezahlt werden mussten, wozu wenige bereit waren. Die Schule gab sich republikanisch; Tanzen, Musik und Fechten aber waren Fertigkeiten, die damals eher mit der Erziehung zum Edelmann in Zusammenhang gebracht wurden.

Nach verschiedenen Absagen hatte Tscharner zur Schuleröffnung neben Nesemann vier Lehrer gefunden, drei reformierte und einen katholischen, deren Eignung nicht in allen Fällen erprobt war: Rusterholz, Juvenal, den Katholiken Deporta und Kniesel. Von den beiden Letzteren wissen wir nicht viel; Kniesel verliess die Schule schon nach einem halben Jahr, nachdem er eines Gelddiebstahls bezichtigt worden war.137 Er fand im Anschluss eine Anstellung bei Friedrich Anton von Salis-Soglio im Bergell.

Aus einer Aufstellung Tscharners vom Mai 1793 geht hervor, dass er mit den Lehrern folgendes Jahresgehalt vereinbarte: Nesemann 800 Gulden, Rusterholz 600, Deporta 400, Juvenal 300 und Johannes Caprez, reformierter Pfarrer der Nachbargemeinde Tamins, 200.138 Diese Zahlen geben die zeitliche Belastung der Betreffenden wieder. Deporta, ein katholischer Pfarrer, blieb nicht einmal ein Jahr und nahm im Februar 1794 eine Stelle im Regiment Christ in sardinischen Diensten an. Caprez wurde schon vor Beginn durch Kniesel ersetzt, und nach dessen Entlassung blieb sein Platz vakant, so dass nur noch vier bezahlte Lehrer tätig waren. Im Dezember 1793 bezogen Nesemann und Deporta das gleiche Gehalt wie im Mai vorgesehen, während Rusterholz noch 500 Gulden erhielt und Juvenal neu 400 Gulden.139 Kurze Zeit darauf wurde Nesemanns Gehalt aus Spargründen um 100 Gulden verringert.140

Der schon ältere Anton Gubert Juvenal hatte sich am 27. Dezember 1792 von Chiavenna aus um eine Lehrerstelle für Italienisch, Rechnen und Violinspiel beworben141 und unterrichtete in Reichenau Italienisch, Französisch und Rechnen. Johann Heinrich Rusterholz (1760–1806) aus Wädenswil, bis 1790 Lehrer an der Stadtschule in Chur, hatte im gleichen Jahr das Knabeninstitut «Rietli» in Zürich Unterstrass gegründet. Schon im Juni 1787 hatte ihn Tscharner als zweiten Lehrer an die Jeninser Nationalschule holen wollen, aber erst 1793 folgte er Tscharners Ruf nach Reichenau und erteilte Rechnen, Französisch, Schreiben, Naturkunde und Geografie. Deportas Unterricht beschränkte sich auf Latein und katholische Religion, während Nesemann die übrigen Fächer und Stufen abdeckte, einsprang, wo es nötig war, und im Wintersemester 1793, das Anfang Dezember begann, reformierten Religionsunterricht, Philosophie, Rhetorik, Geschichte, Geografie und Französisch gab.

Diese Informationen entnehmen wir einem handschriftlichen Stundenplan Tscharners aus jener Zeit.142 Darin sind 16 Schüler mit ihrem Pensum aufgelistet, die meisten aus Graubünden, zwei aus Mailand und einer aus Ravensburg. Einige Namen wurden später gestrichen, andere ergänzt. Leider fehlen bei den Schülern genaue Angaben und die Daten des Zu- und Abgangs. Bei der Schuleröffnung waren es offenbar noch weniger als zwölf und einen guten Monat später vierzehn.143 In dieser Grössenordnung bewegte sich die Schülerzahl auch in den ersten Jahren.

Tscharner hatte Bekannte auf die Schule aufmerksam gemacht und sie gefragt, ob sie ihre Söhne nach Reichenau schicken möchten oder andere dafür empfehlen könnten. In seinen «Reichenauer Notanda» sind mehrere Listen mit Namen enthalten. Am 3. Mai 1793 wurden 39 Kinder «zugesagt», 144 im Herbst darauf 22 «mit Gewissheit angemeldet». Das waren teils nur Bereitschaftsbekundungen, noch kaum feste Zusagen zum sofortigen Schuleintritt. So waren zwei Söhne des Präfekten Francesco Conrado von Baldenstein (im Hochgericht Domleschg) angemeldet, die erst 1796 oder 1797 ins Seminar kamen. Der eine von ihnen, der spätere Ornithologe Thomas Conrado, war 1793 erst neun Jahre alt. Vater Conrado war selbst einst Zögling des Seminars Haldenstein, also Schüler von Nesemann gewesen, und dies war wohl entscheidend, dass er seine Söhne für Reichenau schon einmal vormerkte. Das Gleiche traf auch für den Basler Fabrikanten und späteren Politiker Johann Lukas Legrand zu, ebenfalls Schüler von Haldenstein, der mit Interesse verfolgte, wie das Seminar Reichenau sich entwickelte, seine beiden Söhne Johann und Daniel aber erst 1795 nach Reichenau schickte, als sie 13 und 12 Jahre zählten.

Nicht alle Einträge lassen sich entschlüsseln, da die Schüler in den Listen oft nur mit Nachnamen erscheinen, vielleicht noch mit Herkunftsort oder Berufsbezeichnung des Vaters. Es handelte sich ja nur um Notizen Tscharners. In der Liste vom Mai 1793 waren, wie erwähnt, 39 Anwärter eingetragen; nur rund ein Drittel kam jedoch gleich, und auch von diesen besitzen wir selten Angaben über Herkunft, Muttersprache, Alter und die Dauer ihres Aufenthalts in Reichenau.

Eine Alterslimite für die Aufnahme wird in den Prospekten für Reichenau nicht genannt, dies im Unterschied zu Tscharners Plan für die Jeninser Nationalschule vom März 1788, wo ein Höchsteintrittsalter von zwölf Jahren vorgesehen war, da «die Kinder von gewissen Lastern noch frei und da hier kein Anlass zur Verführung ist».145 Viele Eltern hatten aber offenbar Bedenken, ihre Söhne in diesem frühen Alter in die Fremde zu schicken, aus verschiedenen Gründen, vielleicht auch aus Sorge um ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Immerhin war es oft das erste Mal, dass sie über längere Zeit von zu Hause abwesend waren.

Tscharner hatte im Herbst 1793 seine vier ältesten Söhne «mit Gewissheit» angemeldet: Johann Baptista (1779–1857) und Johann Friedrich (1780–1844) hatten seit 1786 die Familienschule Jenins besucht; ihretwegen hauptsächlich hatte ihr Vater diese Schule gegründet. Sie traten im Juni 1793 ins Seminar Reichenau über und blieben dort bis Ende 1796, um dann an die Universität Erlangen zu gehen. Der nächstältere Sohn Johann Georg (1782–1819), der 1789 als Siebenjähriger in die Jeninser Schule kam, trat ebenfalls zum Zeitpunkt der Eröffnung ins Seminar Reichenau ein, während bei Peter Conradin (1786–1841) bis 1796 zugewartet wurde. Es ist zu vermuten, dass das Alter der Knaben zwischen zehn (beim Eintritt) und achtzehn Jahre (beim Austritt) betrug. Das lässt sich auch aus den Fächern schliessen, in denen sie unterrichtet wurden: Die jüngeren erhielten von Nesemann Religionsunterricht, die älteren (ab 14 oder 15 Jahren) Philosophie; im Wintersemester 1793/94 traf Letzteres offenbar nur für einen einzigen Schüler zu, Ruggiero aus Mailand.

Je mehr Kinder von Anfang an das Seminar besuchten, desto tiefer konnte das Schulgeld angesetzt und desto besser das schulische Angebot werden, ohne dass sich ein erheblicher Verlust in der Gesamtrechnung ergab, was Tscharner in Rücksicht auf seine Mitgesellschafter unbedingt vermeiden wollte. Die starke Fluktuation von Semester zu Semester erforderte es, dass immer wieder neue Schüler angeworben werden mussten. Die Abgänge hingen selten oder nie mit schulischem Misserfolg zusammen, sondern, wie es scheint, mit dem Gesundheitszustand der Kinder, ihrem Alter und äusseren, nicht zu beeinflussenden, und manchmal auch politischen Faktoren, die in der Geschichte des Seminars Reichenau eine wesentliche Rolle spielten.

Das Schulgeld war mit 100 Gulden, das «Tischgeld» für Unterkunft, Essen und die anderen Auslagen mit 200 Gulden zurückhaltend kalkuliert; dies war der Betrag, den schon 1761 ein Kind im Seminar Haldenstein bezahlen musste. Einige Eltern hatten sich eine Reduktion oder Ausnahmereglung mit einem Gegengeschäft ausbedungen, was Tscharner offenbar akzeptierte, 146 so Lehrer Juvenal, der für seinen Sohn das volle Tischgeld von 200, aber nur ein Schulgeld von 81 Gulden zu bezahlen hatte. Dagegen wurde für den Schüler Pestalozzi aus Malans ein Schulgeld von 112 Gulden gefordert; vielleicht weil er Einzelunterricht benötigte oder ein Freifach wie Zeichnen, Musik, Tanzen oder Fechten belegte, wofür eigens ein Lehrer aus Chur geholt werden musste. Kurz nach der Eröffnung, am 10. Juli 1793, stellte Tscharner fest, dass die 14 Schüler im Durchschnitt 284 Gulden zahlten und sich bei Einnahmen von 224 und Ausgaben von 291.30 Gulden ein Defizit von beinahe 70 Gulden pro Kopf ergeben würde, ohne Berücksichtigung der Verzinsung des Kapitals und der Möbel, Bücher und der Naturalien- und Kupferstichsammlung im Schätzwert von 1500 Gulden, die er aus seinem Bestand aus Jenins mitgebracht hatte.147

Im Inserat vom 23.Juni 1793, das sich vorwiegend an Eltern im Ausland richtete, wurde die Gebühr mit 351 Gulden angegeben, 130 Gulden für den Unterricht und 221 Gulden für Unterkunft, Essen und anderes.148 Die Differenz zu den anderen Angaben ist nicht ganz verständlich, da mit der gleichen Währung (Churer Gulden) gearbeitet wurde. Vielleicht war eine Quersubvention beabsichtigt. Das Inserat enthält noch die Mitteilung, dass weitere Lehrer eingestellt würden, sobald die Zahl der Schüler sich erhöhe.

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