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EINTEILUNG DER AUFGABEN UNTER DEN EIGENTÜMERN

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Zunächst war man sich nicht schlüssig, wie man die Herrschaft und das Schloss nutzen wollte. Tscharner wollte von Anfang an ein gemischt konfessionelles Schulinternat errichten, 35 und so war es naheliegend, dass man ihn mit dessen Planung, Durchführung und Aufsicht betraute. Damit hatte er in der Firma Bavier, die er in seinen Notizen stets als «Schreibstube» bezeichnete, endlich eine Aufgabe und seinen Platz gefunden. Verwandte und Freunde beglückwünschten ihn zum Kauf der Herrschaft und zu seinem Plan, eine Schule einzurichten, wenn auch zuweilen Skepsis über den zu hohen Preis erkennbar und die Warnung ausgesprochen wurde, dass eine solche Schule kaum Gewinn abwerfen und nur eine kluge Nutzung der anderen Teile der Herrschaft die Ausgaben decken könne.36

Tscharner jedoch, beflügelt von seiner Idee, hatte überall herumerzählt und seine beiden Kompagnons und sich selber davon überzeugt, wie vorteilhaft der Kauf der Herrschaft sei, 37 und dass man von der Schule Einnahmen von 3000 Gulden zu erwarten habe, ganz abgesehen von ihrem sonstigen Nutzen.38 Auch seine Familie beruhigte er, dass er mit seiner Beteiligung an Reichenau kein Risiko eingehe: «Das Effect ist vortrefflich und kann sicher auf einen Ertrag von 8–10 procento gebracht werden, wenn die Geschäfte richtig abgeteilt, mit Eifer betrieben, und in der Societät Einigkeit und Wahrsamkeit beibehalten wird. Die Convenienz unseres Hauses könnte darin bestehen, in Folge der Zeit dieses Effect ganz oder grösstenteils an sich zu ziehen. Mehrere Kinder könnten da ihr sicheres Brod finden.»39

Johann Baptista Bavier der Ältere, der die Spedition in Chur führte, also das Transportgeschäft, und sich nach Aussagen Tscharners um nichts sonst kümmerte, hatte keine Einwände gegen die Schule, ja er unterstützte die Idee sogar und platzierte im Laufe der Zeit zwei Söhne darin. Das Schloss mit seinen drei Stockwerken und dem ausgedehnten Seitenflügel bot reichlich Platz für ein Internat, selbst wenn man das Erdgeschoss für die Firma und den Warenbetrieb benötigte. Der jüngere Bavier dachte nüchterner, sprach sich aber nicht dagegen aus, insofern und solange die Schule ihre Kosten deckte und man der Reichenauer Gesellschaft Miete für die Räumlichkeiten bezahlte.

Am 3. Juli 1792, zwei Tage nach Übergabe des Objekts, regelten die vier neuen Eigentümer die Organisation und Pflichten in einem detaillierten Dokument, das sie als Fundamentalsatzung und Erbvertrag bezeichneten, weil es auch nach dem Tod oder Austritt eines Gesellschafters seine Gültigkeit behalten sollte.40 Die vier bildeten einen Herrschaftsrat, der sich einmal im Monat in der Ratsstube des Schlosses treffen sollte, um die anstehenden Geschäfte zu beraten und Entschlüsse zu fassen, die gültig wurden, wenn eine Mehrheit zustimmte. Bei Gleichstand der Stimmen entschied das Los. Johann Baptista Bavier der Ältere hatte den Vorsitz; Tscharner als der Jüngste führte das Protokoll.

Für die Aufgaben wurden drei Departemente gebildet, die von den Eigentümern unentgeltlich geleitet werden sollten. Johann Baptista der Ältere wurde davon ausgenommen, weil er weder Lust noch Interesse verspürte, sich mit Reichenau zu befassen. Dem ersten Departement oblag die Verwaltung der Herrschaft, des Schlosses, der Landwirtschaft und des Gasthauses. Der Verwalter war auch zuständig für die Ausübung der Herrschaft und für juristische Fragen, wozu er Instruktionen und eine Beglaubigung mit einem noch zu kreierenden Siegel erhielt. Dieses Amt übernahm zunächst Vieli, der es schon in der Herrschaft Rhäzüns ausgeübt hatte. Als er im Juni 1792 von Baron Cronthal wieder als Verwalter von Rhäzüns eingesetzt wurde, folgte auf ihn Aloys Jost.

Das zweite Departement war jenes des Handelsdirektors, der den Brückenzoll, die Spedition, das Fuhrwesen und den Handel leitete. Eigentlich hätte Johann Baptista Bavier der Jüngere diese Funktion wahrnehmen sollen, aber da er als Chef die Firma in Chur leitete, konnte er nur selten in Reichenau anwesend sein und schickte einen Beauftragten (Kommis) in die dortige Schreibstube. Als Angestellter erhielt dieser, anders als die Direktoren, ein Gehalt. Er war sicherlich nicht im gleichen Mass am Erfolg interessiert wie die vier Eigentümer und konnte seine Entscheidungen nur mit Anweisungen aus Chur treffen. Das warf verschiedene Probleme auf, etwa in der Frage, ob ihm die Direktoren der beiden anderen Departemente Weisungen erteilen dürften oder nicht. Zunächst war Johann Jakob Castelli in dieser Tätigkeit; im Mai 1796 übernahm Simeon Bavier, ein Sohn von Johann Baptista dem Älteren, das Amt.41 Schon früher hatte Simeon Bavier vertretungsweise die Verwaltung der Herrschaft geführt und Instruktionen für die Wirtschaft und die Aufsicht des Seminars erhalten.42

Das auf seine Person zugeschnittene dritte Departement leitete Tscharner.43 Er war zugleich Finanzinspektor der Reichenauer Gesellschaft und Kurator der Schule, hatte Bilanz zu führen, die Verträge mit Angestellten auszufertigen und war zuständig für die Schlosskapelle, für die Fisch- und Jagdrechte und führte die verschiedenen Geschäftsbücher der Herrschaft, die leider allesamt fehlen: das Goldene und Geschlechterbuch mit den Namen der Eigentümer und ihrer männlichen Nachfolger, das Urbar aller Liegenschaften und das Archiv, in dem die Akten und Verträge aufbewahrt wurden, in einem feuerfesten Gewölbe, das nur von jeweils zwei Eigentümern mit ihren Schlüsseln gleichzeitig geöffnet werden konnte.

Man kann sich die von Tscharner vorgeschlagenen Aktenbände nicht prachtvoll genug vorstellen, wie überhaupt viel Wert auf zeremonielle Aspekte gelegt wurde. Tscharner entwarf ein grosses und ein kleines Herrschaftssiegel und die Ausstattung des Goldenen Buches: «Kann in Folio in rotem Saffian mit göldenem Schnitt, von feinem hellen dicken Schreibpapier sein […]. Titel in generali:

Göldenes Buch

der Gesammtherrschafft von

Reichenau und Damins

errichtet 1793 d. …»44

Zum Einstieg in seine Tätigkeit vertiefte sich Tscharner in die alten Urkunden seit 1472, um die verbrieften Rechte und Pflichten der Herrschaft festzuhalten und daraus ein neues Urbar zu erstellen.45 Wichtig war es, die räumliche Ausdehnung der Herrschaftsrechte zu erfassen: dem Kunkelserbach nach aufwärts bis zum mittleren schwarzen grossen Stein unter der Vättiserbrücke, der Höhe nach hinauf bis zum Calandagrat, dem höchsten Grat nach hinein bis zur Felsberger Alp, dem Rosstobel nach hinunter und von der Vättiserbrücke einwärts bis zum Calfeisengletscher Sardona, «so dass, was diesseits durch inner dem Bach [liegt], unser ist».46 Genauer liess sich das Gebiet offenbar nicht beschreiben.

Eine Skizze, in der Tscharner die aktuellen Grundstücke und Gebäude von Reichenau eintrug, sollte den Überblick erleichtern.


2 — Nach der Übernahme der Herrschaft Reichenau machte Tscharner eine Bestandesaufnahme aller Besitzungen und Rechte. Hier eine erste Skizze der Grundstücke und Gebäude mit ihrem ungefähren Schätzwert.

Als Leiter des Finanzwesens hatte sich Tscharner mit der Erschliessung neuer Tätigkeitsbereiche zu befassen, die für die Herrschaft «von einigem neuen Vorteil» sein und als Geldquelle dienen konnten. Erwähnt wurden neben der Erziehungsanstalt die Inbetriebnahme stillgelegter Bergwerke oder das Münzregal, das immer noch ein verbrieftes Recht der Herrschaft war, obwohl es schon lange nicht mehr genutzt wurde.47 Der Kreativität Tscharners waren keine Grenzen gesetzt, und noch Jahrzehnte später, als er seinen Anteil an der Firma Bavier und der Herrschaft Reichenau längst verkauft hatte, entwarf er Pläne, was daraus hätte werden oder was man aus ihr noch hätte machen können, um einen grösseren Vorteil aus ihrem Besitz zu ziehen.48

Wie alle anderen Direktoren hatte auch Tscharner nur ein Vorschlagsrecht und musste die Treffen des Herrschaftsrats abwarten oder eine ausserordentliche Sitzung einberufen, wenn eine Entscheidung anstand. Das war ein schwerfälliges Prozedere, wenn Entschlüsse rasch gefällt werden mussten. Wenn die beiden Bavier, die sich fast nur in Chur aufhielten, in einer Sache miteinander übereinstimmten, Tscharner aber nicht damit einverstanden war, so kam im besten Fall ein Patt zustande, falls Tscharner Vieli oder später Jost auf seine Seite ziehen konnte. Eine Mehrheit war nicht zu erwarten, solange die Kosten den kommerziellen Nutzen überwogen, und einen Losentscheid zu erzwingen schuf eine unmögliche Situation: Man konnte doch einen Entscheid von grösserer Tragweite nicht dem Zufall überlassen.

Da die Bavier hauptsächlich ein geschäftliches Interesse an der Unternehmung oder «Entreprise» hatten, wie sie die Investition Reichenau auch nannten, gab es für Tscharner letztlich nur die Alternative, in der Opposition zu verharren oder sich das Einverständnis der beiden Bavier durch Einlenken in anderen Punkten zu erkaufen, falls er sie nicht von den Gewinnaussichten seiner Idee zu überzeugen vermochte. Auf keinen Fall durfte er die beiden Kaufleute verstimmen, wenn er etwas erreichen wollte.

Wie schon als stiller Teilhaber der Speditions- und Handelsunternehmung war Tscharner auch in Reichenau in einer unterlegenen Position, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich mit so grossem Eifer und Engagement an die Errichtung des Seminars machte, die Leitung übernahm und sie trotz wachsendem Druck der Bavier und politischer Feinde beibehielt. In seinen «Reichenauer Notanda», die eine Hauptquelle für unsere Kenntnis des Seminars sind, hielt er in Stichworten seine hauptsächlichsten Ziele als Direktor des dritten Departements fest. Daraus geht hervor, dass er sich viele Überlegungen über die zukünftige Gestaltung der Herrschaft machte, so etwa über die Einrichtung einer Grundschule für Taminser und Reichenauer Kinder, sofern sie nicht das Seminar besuchten oder noch zu jung dafür waren, oder die Errichtung einer Armen- und einer Kreditanstalt.49

Tscharner verband mit der Herrschaft Reichenau vorab ideelle Absichten, wollte Bildungs-, soziale und kulturelle Institutionen errichten, wie er sie auch für Chur gefordert und teilweise umgesetzt hatte.50 In Chur war er Mitglied des Schulrats und bis 1786 Schulpräsident gewesen, 1786 Gründer der Armenanstalt und bis 1794 deren Präsident. Freilich hatten solche Pläne in Reichenau und Tamins wenig Aussicht auf Erfolg. Aber Tscharner war Sozialreformer aus Leidenschaft, und wenn er soziale Not oder schlechte Schulen sah, so machte er sich prinzipielle Gedanken, wie dem abzuhelfen sei. Schon in Jenins, wo er einen grösseren Landbesitz besass und für seine Söhne und Bekannte eine Familienschule gegründet hatte, stellte er Überlegungen an, sie auch Kindern aus dem Dorf zugänglich zu machen, falls die Gemeinde sich daran finanziell beteiligen würde.

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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