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ERÖFFNUNG OHNE POMP

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Über die Eröffnung des Seminars Reichenau Mitte Juni 1793 besitzen wir ein Inserat, das in den bei Deutschlands Gelehrten viel beachteten «Intelligenzblättern der Allgemeinen Literatur-Zeitung von Jena» erschien:

«Ohne alle Festivität und Gepränge hat nun die neulich angekündigte Erziehungsanstalt zu Reichenau in Graubünden ihren Anfang genommen; indem bereits der Herr Direktor Nesemann nebst einem katholischen und zwei reformierten Lehrern, so wie eine Anzahl reformierter und katholischer Zöglinge aus vornehmen und bürgerlichen Geschlechtern seit acht Tagen das dasige Schloss bezogen und diese kunstlose aber nützliche Anstalt eröffnet haben. Es wird nun an treuer Ausführung des Plans gearbeitet, und bei erwartender verhältnismässiger Anzahl von Zöglingen soll auch das katholische, so wie das reformierte Professorat ohne Verzug besetzt werden.»127

Dieser unspektakuläre Auftritt des Seminars steht in krassem Gegensatz zum Zirkus um die Verlegung des Seminars Haldenstein nach Marschlins im Jahre 1771, die begleitet von «einem mächtigen Tross, mit Ross und Wagen» stattgefunden und in einem dreitägigen Fest kulminiert hatte.128 Damals waren gegen achtzig Schüler mit Mobiliar und Schulmaterial umgesiedelt worden. Baron Ulysses von Salis, Herr von Marschlins, bevollmächtigter Minister Frankreichs, der grandiose Inszenierungen zu organisieren gewohnt war, hatte prominente Gäste eingeladen und kräftig die Propagandatrommel für seine Schule gerührt, auch ein weiteres Mal, als er sie 1775 in ein Philanthropin verwandelte.129

Seit jenen gloriosen Zeiten war mehr Demut in Bünden eingekehrt; das Selbstbewusstsein der Adelsgeschlechter war geknickt und ihr Reichtum, der sich aus drei Quellen spies – Pensionswesen, Handel und Untertanenlande –, hatte durch die Französische Revolution und die Entlassung der Bündner Regimenter eine beträchtliche Einbusse erlitten. Ohne Geld schwand auch der Einfluss auf die Politik. Bescheidenheit und Zurückhaltung entsprachen eher dem neuen Zeitgeist als der barocke Luxus des Salis-Marschlins.

Tscharner und Nesemann, die Gründer des Seminars Reichenau, achteten nicht auf die Meinung des Publikums, wenn sie etwas Neues an die Hand nahmen, ja sie scheuten geradezu die Öffentlichkeit und meldeten sich kaum zu Wort, wenn es nicht unbedingt nötig war. Davon zeugt auch der Prospekt vom 22. Mai 1793, der mit minimalen Veränderungen am 1. August neu aufgelegt wurde: Die Leistungen sollten für sich sprechen. Dabei blieb es für die nächsten anderthalb Jahre.

Als der Romanautor und Dramatiker Heinrich Zschokke im August 1796 nach Reichenau kam und Anfang 1797 die Direktion übernahm, änderte sich dies; er kritisierte die bisherige Werbepraxis und schlug eine verstärkte Propaganda vor, denn nur wenn von Zeit zu Zeit über die Fortdauer und Neuerungen des Instituts berichtet werde, bleibe das Interesse geweckt.

Was aber waren die Eigentümlichkeiten des Seminars Reichenau, die es verdient hätten, dass man darüber Worte verlor? Zunächst sah alles nach einer üblichen Internatsschule aus. Die wenigen Schüler und die geringe Zahl an Lehrern erlaubten es noch nicht, den vorgesehenen Plan ganz zu entfalten. Krisen, welche das Seminar erschütterten, stellten sich dem Ausbau weiter entgegen. In einem Prospekt und einem öffentlichen Brief vom 1. Februar 1795 ist erstmals von einem Schülertribunal beziehungsweise einer Schulrepublik die Rede.130 Es ist aber anzunehmen, dass diese Institution bereits seit Sommer 1794 bestand.

Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

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