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DER PÄDAGOGE NESEMANN UND DAS SEMINAR HALDENSTEIN

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Über Johann Peter Nesemanns Herkunft und Werdegang sind wir leider nur unzureichend unterrichtet, obwohl ihm gleich zwei Autoren – der Tscharner-Biograf Alfred Rufer und der Bündner Theologe und Historiker Benedikt Hartmann – eine biografische Skizze widmeten.95 Nicht einmal über sein Geburtsjahr sind wir im Bild; in der Literatur differiert es zwischen 1720 und 1726.96 Die sichersten Angaben finden wir im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle. Johann Peter Nesemann war Bauernsohn und offenbar sehr aufgeweckt, denn er trat am 13. April 1739 als Schüler in die Lateinische Schule in Halle an der Saale ein (eine Stiftung des pietistischen Theologen und Pädagogen August Hermann Francke). In diesem Archiv wird das Geburtsjahr 1726 angegeben, als Geburtsort Bahrendorf in der Magdeburger Börde.97 Sein Vater hatte dort einen eigenen Bauernhof. Der Name Nesemann (auch Neesemann oder Naesemann) war in Bahrendorf damals verbreitet.

1747 wurde Nesemann Informator (Lehramtskandidat), dann Lehrer, zunächst an der Mädchenschule, später an der Lateinischen und der Deutschen Schule des Waisenhauses in Halle. Für seine Tätigkeit an der Mädchenschule wurde ihm folgendes Zeugnis ausgestellt: «Er scheint nicht übel zu sein, hat mittelmässige studia, ziemlichen Vortrag und regimen.»98 Theologie an der Universität Halle, wie oft behauptet wird, studierte er nicht, 99 jedenfalls fehlt er in den Universitätsmatrikeln.100

Mit diesem Rüstzeug versehen, das ihm als Sprungbrett und Empfehlung für eine künftige Tätigkeit als Hauslehrer diente, wurde Nesemann im November 1750 an den Bündner Offizier Salomon Sprecher von Bernegg vermittelt, der früher selber das Pädagogium in Halle besucht hatte, zur Unterweisung von dessen zehnjährigem Neffen Anton Herkules Sprecher (1741–1827).101 Nesemann unterrichtete und betreute den Knaben zehn Jahre lang an wechselnden Aufenthaltsorten wie Davos, Chur und Como und begleitete ihn schliesslich zum Studium nach Genf und Basel.

Es war in vornehmeren Kreisen Bündens damals üblich, die Erziehung der Söhne einem Hauslehrer anzuvertrauen, 102 teils der abgelegenen Landsitze und des schlechten Rufs der Volksschulen wegen, teils wegen der Mobilität der Väter, die in verschiedenen Stellungen tätig waren und ihre Söhne unter ihrer Obhut behalten wollten, auch um ihnen die spezifischen Kenntnisse ihres Standes beizubringen. Man suchte die Lehrer mit Vorliebe auf Empfehlung unter jungen Universitätsabsolventen in Deutschland, die, je nach Anspruch der Eltern, vielsprachig und theologisch oder technisch-naturwissenschaftlich-praktisch ausgerichtet waren. Die Beherrschung des Lateinischen war dabei selbstverständlich. Zur preussischen Universitätsstadt Halle und den dortigen Schulen bestanden in den Drei Bünden ausgezeichnete Verbindungen, nicht nur in pietistischen Kreisen.103

Als sein Zögling nach Graubünden zurückkehrte, um eine Bildungsreise durch Italien und Frankreich zu unternehmen und dann sein erstes politisches Amt in einem Untertanengebiet anzutreten, war Nesemann seines Auftrags entledigt. Er hatte den Basler Aufenthalt gut genutzt und eigene Studien betrieben, obwohl er auch hier nicht an der Universität eingeschrieben war. So hatte er sich vermutlich ausgiebig mit Philosophie und Naturrecht befasst, das damals ein Modefach und unter fortschrittlich denkenden Dozenten und Studenten sehr beliebt war.104 Philosophie, Naturrecht und Universalgeschichte waren die Fächer, die Nesemann später seinen Schülern in den höheren Klassen am liebsten vermittelte, und wenn man dem jungen Lehrer noch vorgehalten hatte, er verfüge nur über «mittelmässige studia», konnte ihm das später nicht mehr nachgesagt werden; dass er sich bei den Schülern durchsetzen konnte, hatte man ja damals in seinem Zeugnis schon bemerkt.

Auch eine andere, von Benedikt Hartmann in die Welt gesetzte Zuschreibung, Nesemann und Martin Planta, die beiden Gründer des Seminars Haldenstein, seien ausgeprägte Pietisten gewesen, ist nach allem, was wir wissen, falsch.105 Zu Planta brauchen wir uns hier nicht zu äussern, aber Nesemann war ganz der aufklärerischen Philosophie Kants zugewandt, vertrat republikanische Ideen, die im grössten Teil Europas als politische Ketzerei abgetan wurden, und war bestimmt weder ein orthodoxer Asket noch ein bibelgläubiger Frömmler. Wie aus dem Tagebuch des ungarischen Grafen Joseph Teleki über seinen Aufenthalt in Basel hervorgeht, war Nesemann sinnlichen Freuden zugetan. Mit Gelehrten und den Mitstudenten seines Zöglings pflegte er geselligen Umgang, unternahm Ausflüge, spielte Karten und Schach und bewegte sich in einem Lesekränzchen, wo er auch Vorträge hielt, einmal über den preussischen König, ein andermal «über die Vorteile, welche den Männern aus dem Umgang mit dem weiblichen Geschlecht erwachsen».106 Nebenbei bahnte sich im Haus von Dr. Johann Thellusson eine Beziehung zur jüngeren Tochter Dorothea an, die er später ehelichte. Vorderhand konnte er allerdings an eine Heirat nicht denken, war er doch nach dem Weggang seines Schülers ohne Brotberuf.

Er reiste nach Bünden zurück, um sich nach einer neuen Stelle umzusehen, und besuchte in Zizers Martin Planta, den er 1751 oder kurz danach kennengelernt hatte, als die beiden Hauslehrer in Chur waren.107 Damals hatten sie sich schon überlegt, gemeinsam eine Schule zu gründen, aber es fehlte ihnen an Erfahrung, finanziellen Mitteln und Einfluss.

Der Beruf eines Hauslehrers oder Hofmeisters war für die meisten Theologen eine vorübergehende Tätigkeit. Wenn sie Glück hatten wie der geniale Mathematiker und Physiker Johann Heinrich Lambert (1728–1777), der zur selben Zeit wie Nesemann in Chur war und drei Knaben unterrichtete, bekamen sie es mit einem grosszügigen Auftraggeber zu tun, der sie förderte, ihnen eine gut ausgestattete Bibliothek sowie ein Studierzimmer zur Verfügung stellte und genügend Freizeit gewährte.108 Mit Pech gerieten sie an einen despotischen, knausrigen Hausherrn, eine zänkische Hausdame und ungeratene, lernunwillige Kinder, erkrankten vor Kummer oder Ärger und wurden vor die Türe gesetzt, wenn sie es nicht vorzogen, selber den Hut zu nehmen. Auf keinen Fall war es ihnen möglich, eine Familie zu gründen. Und auch die Verfolgung einer akademischen Karriere konnten sie auf einem Landsitz in einem abgelegenen Bündner Seitental vergessen. Umgekehrt nahmen auch die Eltern erhebliche Risiken in Kauf, wenn sie einen jungen Mann für ihre Kinder anstellten, frisch von der Universität, der seiner Erziehungsaufgabe charakterlich, wissenschaftlich oder pädagogisch vielleicht nicht gewachsen war. Es konnte also beiden Seiten zum Vorteil gereichen und eine Entlastung bedeuten, wenn der private Hofmeister durch ein Internat mit guter Schulleitung und bewährten Lehrkräften ersetzt wurde.

Es wird angenommen, dass Martin Planta, der sich bei einem längeren Aufenthalt in London verschiedene Privatschulen angesehen hatte, 1751 als Erster die Idee einer Privatschule einbrachte und Nesemann diesen Gedanken mit ihm weiterspann.109 Aber da sie beide noch in einem Anstellungsverhältnis standen, wurde die Ausführung vertagt. Beide waren sich indes einig, dass ein guter Unterricht die Verstandeskräfte anregen und nicht bloss das Gedächtnis der Kinder quälen sollte, denn, so Planta 1766 vor der Helvetischen Gesellschaft,

«den Verstand und die Denkungskraft in den jungen Leuten unbeschäftigt zu lassen, ist eine Marter, der sich Jünglinge nicht ganz mit Unrecht zu entziehen trachten. Sobald man ihnen aber was zum Denken gibt und durch die Annehmlichkeit und Leichtigkeit des Vortrages die Aufmerksamkeit ablocket, so entstehet eine Lust zum Lernen. Sie gehen gern in die Lektionen, sie hören mit Vergnügen zu, und weil sie das Angehörte begreifen und oft selbst zu erfinden glauben, so behalten sie es desto gewisser.»110

Diese Vorstellung war neu für Graubünden, auch wenn sie im Ausland schon längst zahlreiche Anhänger hatte. Bereits August Hermann Francke hatte in Halle Wert auf Anschaulichkeit und Verständlichkeit des Vortrags gelegt, ebenso der Ahnherr der europäischen Pädagogik der Neuzeit Johann Amos Comenius (1592–1670) in seiner «Grossen Didaktik» und mit dem bebilderten Schulbuch «Orbis sensualium Pictus».

Gewöhnlich war der Lehrerberuf für einen jungen Theologen eine Zwischenstufe, bis sich die Anwartschaft auf eine Pfarrstelle erfüllte. Aus den Biografien Martin Plantas wird nicht ersichtlich, was diesen, der seit 1753 Pfarrer in der Gemeinde Zizers war, 1761 bewog, den umgekehrten Weg zu gehen und mit Nesemann eine Schule zu leiten. Zwar hatte Planta eigenen Aussagen zufolge seit seinem 18. Lebensjahr und später immer wieder mit dem Gedanken einer Privatschule gespielt, aber mindestens ebenso wahrscheinlich ist es, dass Nesemann ihn bei ihrer erneuten Begegnung im Oktober 1760 darin bestärkte, den Plan jetzt zu realisieren.

Nesemann, zu diesem Zeitpunkt arbeitslos, konnte oder wollte während des Siebenjährigen Kriegs zwischen Preussen und Österreich (1756–1763), in den auch andere europäische Mächte verwickelt waren, nicht in seine Heimat zurück. Ausserdem drängte es ihn, eine Familie zu gründen. Ferner strebte er mehr Unabhängigkeit von einem Arbeitgeber an. Andererseits war es für ihn als Ausländer illusorisch, in Bünden eine Schule errichten und die erforderliche Anzahl Schüler finden zu wollen. Er war auf einen Bündner angewiesen, der nach aussen als Schulleiter auftreten konnte. Wer auch immer von beiden der Initiator des Seminars Haldenstein gewesen sein mochte: Nesemann brachte seine Erfahrung als Schullehrer ein, Planta seine Bündner Bekanntschaften und seinen Ruf als Mathematiker und experimenteller Physiker, der den Geisteswissenschaftler Nesemann hervorragend ergänzte. Es war ein gutes Team, das sich 1761 zusammenfand und das Seminar Haldenstein binnen zehn Jahren zu einer ungeahnten Blüte brachte.

Plantas Entschluss, seine Pfarrstelle im Februar 1761 zu kündigen, um sich ganz der Schule zu widmen, wurde dadurch erleichtert, dass in Bünden eine gehässige Kampagne gegen reformierte Pfarrer lief, die zum Herrnhutertum – einer protestantisch-pietistischen Glaubensrichtung – hinneigten. Falls man sie nicht aus dem Pfarrdienst entfernte, so verlangte man einen Offenbarungseid auf das orthodoxe Bekenntnis.111 Zweitens bot sich ihm die Gelegenheit, wie Nesemann den Neuanfang in einer Position anzutreten, die ihm mehr Freiheit gewährte, als wenn er sich als Pfarrer der Willkür der Gemeindegunst und -wahl aussetzte. Drittens mag er sich – ermutigt von Adligen wie Ulysses von Salis-Marschlins und Thomas von Salis-Maienfeld, dem Haldensteiner Freiherrn – vom Nutzen und den finanziellen Vorteilen einer Privatschule überzeugt haben. Vor allem Salis-Marschlins bestärkte Planta in seinen Plänen und war bereit, ihn über sein Beziehungsnetz zu unterstützen. Zudem konnte Planta sich ausrechnen, dass für ihn als Lehrer eine bessere Gelegenheit bestand, seiner Leidenschaft für Naturwissenschaften zu frönen denn als Dorfpfarrer. In Haldenstein richtete er sich ein physikalisches Laboratorium ein und in Marschlins plante er ein Observatorium.

Diese Angaben sollen vorderhand genügen. Zur Ergänzung noch so viel: Planta war bis zu seinem Tod (1772) Co-Direktor des Seminars Haldenstein und unterrichtete hauptsächlich Naturwissenschaften, Nesemann blieb bis 1775 in Marschlins und war für Sprachen, Philosophie und Geschichte zuständig. Sie vermochten die Schülerzahl bis gegen 70 zu steigern und mit ihrer Schule in der ganzen Schweiz, ja sogar im südlichen Deutschland Beachtung zu finden. Legendär wurde der Vortrag, den Planta an der Jahresversammlung der Helvetischen Gesellschaft im Frühjahr 1766 hielt.112 Im Rahmen des pädagogikgeschichtlichen Teils werde ich mich noch etwas ausführlicher mit den pädagogischen und kulturgeschichtlichen Implikationen der Seminare Haldenstein, Marschlins, Jenins und Reichenau befassen.

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