Читать книгу Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen - Wiebke Friese - Страница 15

Das Orakel der Pythia

Оглавление

Dem griechischen Historiker Diodor zufolge soll lange vor der Besiedlung Delphis an diesem Ort ein Hirte seine Ziegen geweidet haben. Als die Tiere sich einer tiefen Erdspalte näherten, verfielen sie plötzlich in einen tranceartigen Zustand. Der Hirte, der dieser Sache auf den Grund ging und sich über die Erdspalte beugte, geriet in denselben Zustand, soll aber zugleich die Kraft der Weissagung erhalten haben. Als sich dies herumsprach, kamen immer mehr Menschen, um sich selbst und anderen weiszusagen – doch war dies mit bestimmten Gefahren verbunden, denn nicht selten stürzten die in Trance befindlichen in die Erdspalte hinab. Angeblich allein aufgrund dieser Gefahren (und bar jeglichen wirtschaftlichen Hintergedankens) beschlossen die Anwohner, die Stätte nicht mehr frei zugänglich zu machen, sondern die Sprüche durch eine von ihnen erwählte Frau geben zu lassen, für die sie einen Dreifuß konstruierten, auf dem sie über dem Erdspalt sitzen konnte (Diod. 16,26).


Abb. 5: Omphalos. Römische Kopie. Museum Delphi.

Ob sich die Gründung Delphis tatsächlich so oder so ähnlich abgespielt hat, ist nicht zu klären. Fest steht, dass hier spätestens seit dem 6. Jh. v. Chr. eine Priesterin namens Pythia im Namen des Apollon weissagte. Ihren Namen hatte sie von dem alten Begriff für Delphi übernommen – Pytho, denn der Sage nach lebte hier lange bevor Apollon das Orakel für sich beanspruchte, eine riesige menschenfressende Schlange (python), die der jugendliche Gott im Kampf besiegte (Hom h. 358–364). Bei der Priesterin handelte es sich dabei zunächst um eine eher junge Frau, die abgeschlossen von der Außenwelt im Heiligtum ein sehr einsames Leben verbrachte. Als sich einer der Orakelklienten jedoch an der keuschen Jungfrau vergriff, entschied man sich von nun an nur noch eine Priesterin jenseits des gebärfähigen Alters einzusetzen.

Ob und wie die Priesterin gewählt wurde, ist nicht bekannt. Doch war die Aufgabe sicherlich mit einem gewissen Prestige verbunden. Aus der römischen Kaiserzeit weiß man, dass viele der Pythien aus sehr einflussreichen delphischen Familien stammten. Viele Delphier berichten auf Inschriften stolz davon, von einer Pythia abzustammen. Sie besaß ein eigenes Haus und Bedienstete auf dem Heiligtumsgelände. Wurde zu Beginn nur an einem einzigen Tag im Jahr, dem siebten des Monats Bysios, geweissagt, war der Andrang bald so groß, dass an jedem siebten Tag im Monat Fragen entgegengenommen wurden. In den Wintermonaten, die Apollon einem Mythos nach bei den Hyperboreern verbrachte, blieb das Orakel jedoch geschlossen.

Mehrere Tage vor dem festgesetzten Befragungstermin begann die Phytia sich auf dieses Ereignis vorzubereiten, indem sie nächtelang wachte, fastete, sich verschiedenen Reinigungszeremonien unterzog und schließlich zur heiligen Quelle ging, um darin zu baden. Auch der Orakelklient hatte sich mit dem Wasser derselben Quelle zu reinigen. Danach musste er erst auf dem großen Hauptaltar vor dem Tempel und dann im Tempel ein Opfertier schlachten lassen und sein pelanos (Orakelgebühr) entrichten. Der Betrag war genau festgesetzt und richtete sich nach dem Status des Fragestellers sowie nach dessen Verhältnis zur delphischen Amphiktyonie (Städtebund zum Schutz des Heiligtums). So überliefert eine Inschrift aus dem Jahre 400 v. Chr., dass ein Privatmann aus Phaselis im südlichen Kleinasien vier Obolen zahlte, während für eine offizielle Anfrage derselben Gemeinde sieben delphische Drachmen und zwei Obolen verlangt wurden – umgerechnet etwa das Sechsfache.

Wenn der Fragesteller das adyton betrat, hatte die Pythia bereits auf ihrem Dreifuß über der Erdspalte Platz genommen. Es ist anzunehmen, dass er die Priesterin nicht direkt ansehen konnte, sondern in einem Nebenraum wartete, von wo er diese aber sicherlich hören, vielleicht auch undeutlich sehen konnte. Vermutlich befand sich das Medium zu diesem Zeitpunkt bereits in ritueller Trance. Der augenscheinlich rein psychische Akt war dabei sicherlich mit enormen physischen Belastungen verbunden. So war eine Pythia allein nicht in der Lage, mehr als einmal im Jahr den Gott zu empfangen, weshalb bei steigender Nachfrage mehrere Priesterinnen eingesetzt wurden. Wie kräftezehrend das Ritual gewesen sein muss, beweist auch ein Vorfall aus der Zeit des Priesteramtes Plutarchs. An diesem Morgen hatte man es gewagt, die delphische Priesterin zur Weissagung zu zwingen: „Die Pythia stieg zwar zur Orakelstätte nieder“, berichtet Plutarch über dieses Ereignis, „widerstrebend, wie man erzählt, und unwillig; sogleich aber bei ihrer ersten Antwort merkte man an der Rauheit ihrer Stimme; dass sie wie in einem Wogenschwall fortgerissenes Schiff nicht wieder aufkommen konnte und von einem stummen und bösartigen Hauch erfüllt war. Und schließlich stürzte sie sich völlig außer sich und mit furchtbarem unartikuliertem Geschrei in fliegendem Lauf zum Ausgang, so dass nicht nur die zur Befragung Gekommenen, sondern auch der Prophet Nikandros und die anwesenden Geweihten davonliefen“ (Plut. de def. Or. 51,438B). Als man sich in das Allerheiligste des Tempels zurücktraute, lag die Priesterin immer noch ohnmächtig am Boden. Man trug sie aus dem Tempel in ihre Gemächer, doch sie war nicht mehr zu retten. Nur wenige Tage nach diesem Ereignis starb sie.

Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen

Подняться наверх