Читать книгу Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen - Wiebke Friese - Страница 18

Die Macht des Orakels

Оглавление

Schon im 5. Jh. v. Chr. wusste der griechische Historiker Herodot von mehr als 30 Fällen zu berichten, in denen das delphische Orakel in das innen- und außenpolitische Geschehen Griechenlands eingriff. Nur wenige derer, die in den Jahrhunderten der großen Kolonisation seit dem 8. Jh. v. Chr. aus dem überfüllten griechischen Kernland auszogen, um an den Ufern des Mittelmeeres und an der Schwarzmeerküste nach neuen Lebensräumen zu suchen, vergaßen zuvor die Pythia um Rat zu fragen. Was in einem solchen Falle der Missachtung der apollinischen Meinung passieren konnte, beweist das Beispiel des Spartaners Dorieus (Hdt. 5,42). Dieser führte eine Gruppe von Siedlern ohne Konsultation Delphis nach Libyen. Zwar konnten sie dort eine Kolonie gründen, doch schon zwei Jahre später wurden sie von den Einheimischen, die sich mit den Karthagern gegen sie verbündet hatten, wieder vertrieben. Weitaus glücklicher traf es die Auswanderer aus Korinth. Die Pythia weissagte dem oikisten (Anführer) Archias auf seine Frage, wohin sie ziehen sollten: „Ortygia liegt im dämmrigen Meer. Über Trinakria, wo des Alpheios Mündung aufsprudelt. Sich mischend mit den Quellen der schön fließenden Arethusa“ (Paus. 5,7,3). Sie fanden diesen Ort im Westen (dämmrig, da dort die Sonne untergeht) auf einer kleinen Insel direkt vor Sizilien (Trinakria, die „Dreieckige“) an dem Ort, wo sich in der Mythologie die beiden Flussgötter Alpheios und Arethusa vereinten. Von dieser strategisch äußerst günstig gelegenen Insel eroberten die Korinther nach und nach große Teile Siziliens.

Auch im Krieg gab Delphi Rat. In den so genannten Perserkriegen (490–479 v. Chr.) riet Delphi zunächst zur Aufgabe und schlug sich damit auf die Seite der Mehrheit der griechischen Stadtstaaten, denn nur etwa 5 % von ihnen, darunter Athen und Sparta, nahmen eine aktive Gegenposition zu der übermächtigen persischen Bedrohung ein. Auch den Bürgern der kleinasiatischen Stadt Knidus empfahl das Orakel ihre Maßnahmen zur Verteidigung einzustellen (Hdt. 1,174). Den Argivern gab die Pythia gar den Rat, sich aus den Kampfeshandlungen völlig herauszuhalten: „Bleib du still zu Hause und lass nur ruhen deinen Wurfspeer! Halte das Haupt dir geschützt! Das Haupt wird den Körper dir retten“ (Hdt. 7,148). Doch wie die Geschichte beweist, überließen sich nicht alle griechischen Stadtstaaten dem persischen Ansturm kampflos. Und auch diesmal hatte Delphi seine Finger im Spiel, denn als die Athener nach einem ersten pessimistischen Orakel die Pythia auf Anraten eines delphischen Bürgers ein zweites Mal befragten, riet ihnen die Priesterin: „… ist das Übrige alles von Feinden genommen … dann gibt die Mauer aus Holz der Tritogeborene weitschauende Zeus unbezwungen allein, dir und deinen Kindern zunutze. Doch erwarte du nicht der Reiter Schar und das Fußvolk ruhig auf festem Boden! Entweiche dem drohenden Angriff, wende den Rücken ihm zu! Einst wirst du ja dennoch sie treffen. Salamis, göttliche Insel …“ Die Gesandten schrieben den Rat auf, kehrten nach Athen zurück und diskutierten lange, wie er auszulegen sei. Die älteren Stadträte plädierten dafür, sich auf die Akropolis zurückzuziehen, die in früherer Zeit mit einer Hecke umgeben gewesen war. Schließlich setzte sich Themistokles durch, der die im Orakelspruch erwähnte hölzerne Mauer als eben jene Flotte deutete, die er in den Jahren zuvor unter beträchtlichem steuerlichen Aufwand hatte bauen lassen. Nicht alle der attischen Verbündeten glaubten ihm. Dennoch wurden Frauen, Kinder und Alte auf die Insel Salamis gebracht und die Stadt den Persern scheinbar kampflos überlassen. In der darauffolgenden Seeschlacht vor Salamis jedoch wurde fast die gesamte Flotte der Perser versenkt und ihr Führer Xerxes in die Flucht geschlagen. Die Pythia hatte wieder einmal recht behalten.

Wie aber kam es, dass die Stimme einer alten Frau über das Schicksal eines ganzen Staates entscheiden konnte? An der Historizität vieler dieser berühmten Orakelsprüche mag gezweifelt werden. Wie archäologische Funde nachweisen, wurde Syrakus bereits im 8. Jh. v. Chr. besiedelt. Hinweise auf ein Mitwirken Delphis finden sich aus dieser Zeit nicht. Viele Forscher nehmen daher an, dass die Sprüche erst im Nachhinein entstanden sind, um das Ansehen einer Stadt durch das Wohlwollen eines Gottes zu erhöhen. Auch die delphischen Weissagungen im Kriegsfall dienten vermutlich eher einem solchen legimitatorischen Zweck als einer tatsächlichen Entscheidungshilfe.

Die meisten der Antworten sind zudem in einer eher zweideutigen Art und Weise formuliert. Manche Historiker behaupten, dass Delphi ein weitgreifendes Netz von Geheimagenten besaß, die vor allem politisch relevante Fragen im Vorfeld ausspionierten. Nachweisen lässt sich dies natürlich nicht. Glaubhafter ist es dagegen, dass die Priester die Art der Antworten bewusst mystisch verklärten. Um also sicherzugehen, dass die Priesterin bzw. der durch sie sprechende Gott eine passende Antwort gab, wurden die bewusst unartikulierten Laute der Pythia vermutlich durch die Priesterschaft „übersetzt“ und in passende Reime gebracht. Eine perfekte Orakelantwort war dabei alles andere als klar verständlich und ließ dem Kunden damit genügend Platz für persönliche Interpretationen. Sollte sich diese im Anschluss als falsch erweisen, blieb Delphi immer noch die Möglichkeit, die Schuld dem Kunden selbst in die Schuhe zu schieben. Genau dies geschah mit dem großzügigen Lyderkönig Kroisos. Vorsichtig wie er war, hatte er zunächst durch eine Testfrage die Macht der bedeutendsten Orakel seiner Zeit erprobt. In einem versiegelten Korb schickte er die Frage, was er zu dem Zeitpunkt der Fragestellung gerade täte. Nur Delphi und das Inkubationsorakel des Amphiaraios von Oropos antworteten richtig: nämlich dass der König eine Schildkröte und ein Kind gemeinsam in einem bronzenen Topf koche. Als dieser nun dem Orakel von Delphi die eigentliche Frage stellte, ob er seine Nachbarn, die Perser, angreifen solle, antwortete die Phytia mit dem berühmtem Spruch: „Wenn du über den Halys ziehst, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Natürlich hielt der Lyderkönig dies für eine positive Antwort und zog in die Schlacht. Als er diese jedoch verlor und sich im Anschluss daran beim delphischen Orakel beschweren wollte, belehrten ihn die Priester, dass er schließlich tatsächlich ein großes Reich, nämlich sein eigenes, zerstört und die Pythia deshalb die Wahrheit gesprochen habe. Wenn er klug gewesen wäre, hätte er eine zweite Gesandtschaft nach Delphi geschickt, um zu fragen, um welches Reich es sich gehandelt hätte (Hdt. 1,91). Pech für Kroisos – Glück für die Delphier, denn während babylonische Tempelchroniken beweisen, dass Kroisos vermutlich von den Persern gefangen und getötet wurde, erlebte das Orakel mit seinen unfehlbaren Antworten einen regelrechten Boom – der natürlich auch Nachahmer und Konkurrenten auf dem Plan rief.

Die Kunst vom Wahn- und Wahrsagen

Подняться наверх