Читать книгу Die ihre Seele töten - Wilfried Stütze - Страница 3

Prolog

Оглавление

Celle, im Jahre 1607

„Verbrennt ihn! Hängt ihn auf“, grölte es aus der Masse vor dem Gefängnis. Eigentlich war es ein dunkles, feuchtes Kellerverlies im Rathausgebäude mit einem kleinen vergitterten Fenster zum Marktplatz hin, auf dem sich der Pöbel zusammengerottet hatte.

Durch das kleine Fenster konnte Miguel fast alles hören. Besonders taten sich offenbar zwei Männer hervor. Deren Stimmen übertönten zuweilen die anderen, als ob sie die Menge noch anstacheln wollten. Jetzt wieder: „Die Juden haben unseren Heiland ermordet! Auf den Scheiterhaufen mit diesen Juden!“

Es waren zwei Fuhrknechte, aber das konnte Miguel, in seiner Heimat wurde er Don Miguel Francisco y Dominguez gerufen, aus der Fensteröffnung heraus nicht erkennen. Auch nicht, dass der Lärm fast vierzig Leute angezogen hatte – und es wurden immer mehr. Inzwischen waren auch Menschen aus den oberen Ständen, sogenannte ehrbare Bürger, stehen geblieben und unterbrachen eine Weile ihre Besorgungen. Keiner wollte sich offenbar das Spektakel entgehen lassen. Selbst Kinder johlten im Beisein ihrer Mütter: „Saujude! Hexenmeister! Saujude!“ Sie ließen sie gewähren. Ein ganz gewiefter Händler nutzte die Gelegenheit und schlug ein Fass Bier an. Es herrschte eine Art Volksfeststimmung vor dem Celler Rathaus.

Mein Gott, Vater im Himmel! So ein langer Weg liegt hinter uns, dachte Miguel. Die Flucht aus Cordoba, unserer südspanischen Heimat, die meine beiden Kinder und mich zuerst bis zu meinem Bruder Juan Salomon in die deutschen Lande nach Hamburg bringen sollte, dann weiter zu meinem Bruder Don Manuel Isaak nach Amsterdam in die Niederlande. Viele Juden, dachte Miguel weiter, hatten nach der großen Vertreibung am Ende des 15. Jahrhunderts ihre Heimat nach und nach verlassen. Für die verbliebenen „Neuchristen“ bedeutete damals die Inquisition mit ihren Scheiterhaufen eine ständige Gefahr, besonders, wenn sie im Verborgenen an ihren Bräuchen festhielten.

Das war auch mehr als hundert Jahre später noch so. Seine jüngeren Brüder waren deshalb schon vor vielen Jahren aufgebrochen. In Amsterdam, obwohl nur die calvinistisch-reformierte Glaubensrichtung zugelassen war, wurden Juden und Andersgläubige nicht verfolgt, aber auch hier durften sie ihren Glauben nicht öffentlich ausüben. Don Manuel Isaak, der sich wieder nur Isaak nannte, wollte eine Druckerei eröffnen, vielleicht sogar die erste hebräische Druckerei in Amsterdam überhaupt. Juan hingegen wollte Handel treiben. Er war eine Kaufmannsseele und wollte möglichst reich werden.

Miguel jedoch konnte oder wollte sich nicht von seiner spanischen Heimat lösen. Er dachte mit zunehmender Verbitterung darüber nach, ob er für den Tod seiner geliebten Frau Donna Inez letztendlich verantwortlich war. Die Häscher der Inquisition hatten sie ohne Vorwarnung als angebliche Hexe verhaftet. Die Gerichtsverhandlung und der Scheiterhaufen waren ihr gottlob erspart geblieben. Das Herz versagte noch im Kerker. Für diesen Umstand dankte er dem Herrn, aber seine Schuldgefühle wurde er nicht los. Die Anklage wegen Ketzerei war nur ein Vorwand, genau wie der Prozess in Celle eine Farce sein würde, sollte es denn dazu kommen.

Bis nach Celle habe ich es also geschafft, dachte er vor sich hin. Eine geraume Zeit waren Don Miguel und seine beiden Kinder dem uralten Pilgerweg nach Santiago de Compostela in umgekehrter Richtung gefolgt. So waren sie als Heimkehrer von einer Pilgerreise selten um eine Auskunft verlegen. Ab irgendeinem Zeitpunkt im Süddeutschen hatte sich dann ein Dominikanermönch an ihre Fersen geheftet. Er hatte eine fahle Gesichtshaut und dünne Lippen. Sie trafen ihn in fast jeder Herberge wieder. Offenbar funktionierte das Nachrichtensystem der europäischen Inquisition. Sie waren erleichtert, als sie ihren Verfolger im norddeutschen Braunschweig für kurze Zeit abschütteln konnten. Seine Kinder waren dadurch wahrscheinlich in Sicherheit. Sarah konnte er bei dem angesehenen Büchsenschmied Heinrich Schlachmann im Haushalt unterbringen und Alfonso im Geschäft des Buchdruckers Andreas Duncker. Beiden Kindern hatte er einen ansehnlichen Geldbetrag dalassen können, aus Sicherheitsgründen auch seinen Schatz, das Buch des Handelshauses Don Miguel. Die Informationen, die dieses Buch enthielt, waren die Grundlage für die Fortführung seines Handelshauses. Und mehr noch: Es würde sich die unbedingt erforderliche finanzielle Grundlage daraus ergeben. Plötzlich wurde Miguel etwas klar. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.

Ich habe meinen Kindern bisher nicht verraten, um welche Informationen es sich handelt und vor allem nicht, wie sie diese im Buch überhaupt entdecken können, erschrak er. Andererseits, je weniger sie wissen, desto sicherer sind sie, dachte er schon etwas beruhigter. Unseren Verfolger haben wir immerhin in Braunschweig abgeschüttelt. Sarah und Alfonso - mein Gott, sie sind erst sechszehn und zwanzig Jahre alt - sollten nachkommen, sobald sie Post von mir aus Hamburg erhalten.

Alles war geplant. Um nicht aufzufallen, hatte er die Kleidung eines Fuhrknechts angelegt. Einen jungen Burschen und eine junge Frau, die in den Gassen bettelten, hatte er gegen einen für sie horrenden Lohn angeworben, mit ihm zu fahren. Eine Stunde vor Dunkelheit war es gewesen, als er mit seinem Fuhrwerk auf der mit Kopfstein gepflasterten Gasse zum Wendentor hinausgerumpelt war. Der Hauptmann der Bürgerwache kontrollierte gerade seine Wache ein letztes Mal, bevor das Tor geschlossen werden sollte. Die Wachsoldaten wunderten sich noch wegen der späten Stunde und er gab ihnen gerne Auskunft, dass er es mit seinen „Kindern“ noch bis zum Gut Steinhof vor den Toren der Stadt schaffen wollte. Dort würden sie natürlich nie angekommen. Seine falschen Kinder hatte er in einer Herberge bald darauf zurückgelassen. Vermutlich soffen und fraßen sie dort, bis kein Heller mehr übrig war. Sein Verfolger von der heiligen spanischen Inquisition würde erst am nächsten Tag seine Spur wieder aufnehmen können. So war sein Plan.

„Mein Plan hat nicht funktioniert“, schrie er zum Fenster seines Gefängnisses hinaus. Dieser verdammte Mönch schien zu wissen oder zu ahnen, wo ich hinwollte und hat einfach auf eine gute Gelegenheit gewartet, um mich töten zu können. Im Namen Gottes, fluchte Miguel.

Der Mönch hatte ihn mindestens vom Süden Deutschlands an verfolgt, aber alles war bisher einigermaßen gut gegangen. Selbst mit der Sprache hatte es kaum Probleme gegeben. Durch sein Handelshaus hatte er Geschäftsbeziehungen bis in die deutschen Lande, in die nördlichen vereinigten Niederlande und auch in den Osten des Kontinents hinein. In seiner Familie sprach man spanisch, deutsch, niederländisch und auch einigermaßen hebräisch. Auch die Kinder waren mehrsprachig aufgewachsen. Hebräisch wurde nur noch selten gesprochen. Seine Vorfahren waren conversos (Konvertiten). Nach der Ermordung Tausender von Juden Ende des 14. Jahrhunderts legten viele ihren Glauben ab und traten zum Christentum über. Da das nicht so ganz freiwillig geschah, trauten ihnen ihre Mitmenschen schon damals nicht. Vielfach durchaus zu Recht. Don Miguel und seine Familie waren im Grunde halbherzige Christen und halbherzige Juden. Sein Bruder Manuel Isaak allerdings wollte Jude sein und konnte es jetzt wohl auch wieder in Amsterdam.

Dass der Dominikanermönch es geschafft hat, mich zu finden, grenzt an ein Wunder, nahm er seine Gedanken wieder auf. Vielleicht auch nicht. Mit seiner komplett schwarzen, sehr einfach gehaltenen Kleidung eines Mönchs und dem groben Holzkreuz, das auf der Kutte baumelt, ist er als Kirchenmann leicht erkennbar. Er braucht nur den Hinweis zu geben, dass er als Ermittler der Inquisition im Auftrag des Papstes arbeitet und schon öffnen sich bestimmt viele Münder, trotz überwiegend evangelischer Bevölkerung hierzulande. Einen Juden wie mich trotz fortgeschrittenen Alters mit noch immer schwarzem Haar, schwarzen Augen und brauner Haut, einen in Spanien geborenen Juden zu verfolgen, hat bestimmt seinen triftigen Grund, werden sich die Leute gesagt haben.

Einen Grund für seine Verhaftung zu finden wiederum war auch nicht schwer. Zwei Kinder waren angeblich in Celle gestorben, nachdem er ihnen Teekräuter zugesteckt hatte. Das war natürlich Unsinn. Sie sahen völlig abgemagert aus, vermutlich litten sie an Schwindsucht. Vielleicht waren sie gestorben, vielleicht auch nicht. Der Tee, den er mitführte, wann immer er ihn besorgen konnte, sollte seinen nervösen Magen beruhigen. Den Kindern hatte er bestimmt auch gut getan. Sie sollen jedenfalls durch sein Hexenkraut gestorben sein. Die Gerichtsbarkeit der Stadt Celle und vor allem die Geistlichkeit und der Magistrat hatten offenbar keine Einwände, aus welchen Gründen auch immer, ihn verhaften zu lassen. Dass er eigentlich Christ sei, wie er immer wieder betonte, nahm man ihm nicht ab, wollte es wohl auch nicht.

Der Mönch hat ganze Arbeit geleistet, dachte er und blieb stehen. Er war die ganze Zeit in der Zelle hin und her gegangen. Zumindest hat man eine Voruntersuchung angeordnet, aber keiner wird mir helfen können oder gar Partei ergreifen. Ich bin eben verdächtigt, ein Hexenmeister oder zumindest ein Zauberer zu sein oder beides.

Natürlich wusste er genau, worum es eigentlich ging, warum ihn die spanische Inquisition oder besser der König von Spanien so konsequent verfolgen ließ. Viele südspanische Familien, nichtjüdische und jüdische, hatten sich zusammengeschlossen und die in erster Linie von den Niederländern bezahlten Kaperfahrer mitfinanziert, die wiederum die spanische Silberflotte, schwer beladen mit Silber aus den südamerikanischen Kolonien, ausraubten, wo immer sie gestellt werden konnten. Das Geld aber brauchte die spanische Krone, um den Landkrieg gegen die nördlichen Niederlande zu finanzieren. Die Familie Don Miguel Francisco y Dominguez war natürlich ebenfalls stark engagiert, wollte sie doch wie alle anderen Familien die Unabhängigkeit der Niederlande vom katholischen Spanien erreichen. Eine Republik, mit der sich gute Geschäfte machen lassen würden.

Es gab unterschiedliche Motive. Don Miguel hatte seine. Die führende Schicht in Amsterdam hatte im Jahre 1602 eine Kompanie, ein neues, so nie da gewesenes Unternehmen gegründet. Eine Aktiengesellschaft, die „Niederländische Ostindische Kompanie“. Don Miguel hatte seinen Bruder Juan per Boten beauftragt, für ihn eine Beteiligung in erheblichem Umfang zu sichern. Nachdem die Organisatoren verraten waren, vielleicht hatte ja so ein elendiger Kaperfahrer, der sich zur Ruhe setzen wollte, den Verrat begangen, machte es sich die spanische Regierung zum Ziel, alle bekannten Rädelsführer und ihre Familien zu vernichten.

Die hallenden Schritte auf dem Gang und das Öffnen der Zellentür holten Miguel aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Es waren drei. Einer hatte eine schwarze Ledermaske über den Kopf gezogen. Die Mundpartie und das Kinn blieben frei. Der ganze Mann wirkte auf ihn wie zwei Kugeln, die man aufeinander geschraubt hatte. Oben die kleinere und unten die deutlich größere. Dazwischen, also zwischen Rumpf und Kopf war nichts. Er sah einfach komisch aus. Wie ein Clown eben. Irgendetwas in seinem Inneren sagte Miguel, dass gerade von diesem so merkwürdig aussehenden Mann Todesgefahr ausging.

„Gehen wir, Hexenmeister“, knurrte der Dicke. „Der Magistrat will dich verhören. Zeitverschwendung! Pure Zeitverschwendung“, kam es aus ihm heraus.

Auch noch eine Fistelstimme zu diesem Körper. Miguel musste unwillkürlich lächeln.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen, Jude. Du wirst brennen“, grinste der Maskenmann.

„Na, dann gehen wir zum Schafott. Worauf wartest du, Knecht?“ Er sagte es ganz im Ton eines spanischen Grande, eben eines Don Miguel Francisco y Dominguez.

Nach einer kurzen verdutzten Kunstpause schnappten die beiden anderen ihn, nahmen ihn in die Mitte und brachten ihn aus dem Rathausgefängnis. Schon nach wenigen Minuten konnte er in der Ferne das Celler Schloss erkennen.

„Wo bringt ihr mich hin?“, fragte er seinen Bewacher zur Linken.

„Ins Kanzleigebäude zum Verhör und dann kommst du ins Weiße Haus, dort …“

„Sei nicht so geschwätzig“, fistelte der Dicke.

„Ist ja schon gut, Meister Hans. Ich wollte ja nur …“ Meister Hans, dachte Miguel. Er ist sicher der Scharfrichter. Der wollte sich nur seinen zukünftigen Delinquenten einmal ansehen. Die anderen beiden hätten auch gereicht, um ihn zum Verhör zu bringen – und dann ins Weiße Haus. Was immer das auch ist.

Der Gerichtssaal war ziemlich geräumig, vermutlich wurde er auch für Versammlungen anderer Art benutzt. Hinter einem etwa vier Meter langen Tresen saßen zwei Mitglieder des Magistrats, ein Schreiber und ein weiterer Mann, der sich als Esaias Pufendorf, Syndicus der Stadt Celle, vorstellen sollte.

Der Mönch ist nicht zu sehen. Er hält es in diesem Stadium nicht mal für nötig, dabei zu sein, dachte Miguel.

Er nahm noch wahr, dass Meister Hans mit einem Kopfnicken zum Tresen den Raum verließ. Dann sprach der Magistrat ihn an: „Euer Name ist Miguel Dominguez und euren Beruf gebt ihr mit Kaufmann an.“

Miguel erwiderte in bewusst ruhigem Ton: „Mein Name und Titel ist Don Miguel Francisco y Dominguez, aber Don Miguel genügt. Ich betreibe in der Tat ein weitverzweigtes Handelshaus. Man zählt mich zu den Fernkaufleuten, wie man in deutschen Landen zu sagen pflegt.“

Sichtlich ungehalten nestelte der Magistrat an seinen Papieren herum, erwiderte aber nichts.

„Nun, Don Miguel, die Bürgerinnen Magda Bertrams und Sophia Dammann beschuldigen Euch, ihre Kinder Hans und Otto verzaubert und mit einem Kraut getötet zu haben. Daraufhin hat der Rat der Stadt Celle, der auch Richter in bürgerlichen Angelegenheiten ist, Ihre Verhaftung angeordnet, um die jetzt folgende Untersuchung durchzuführen. Es wird ihnen also nichts weniger als Kindstötung vorgeworfen, mit Zauberei und dergleichen möge sich fortan ein anderes Gremium befassen. Der Syndikus wird Sie jetzt zur Sache befragen.“

Klang zwar alles vernünftig und professionell, sagte sich Miguel, aber warum wurde ich durch einen Scharfrichter abgeholt? Es ist alles ein abgekartetes Spiel und ich werde es verlieren, verdammt.

Nachdem Don Miguel seinen Vers aufgesagt hatte, dass er den Kindern nur Teekräuter geschenkt hatte, er sie also nicht getötet haben konnte, zog sich das Gericht zur Beratung zurück und er wurde in das Weiße Haus unweit des Kanzleigebäudes gebracht. Das Weiße Haus, sicher durch seinen weißen Anstrich, auch des Gebälks, so genannt, war in Celle ein Ort der Marter und Verhöre. In seinen Torturkellern und Martergewölben ging der Scharfrichter Meister Hans seinem Gewerbe nach. Nicht selten des Nachts legte er die Daumenschrauben an, hantierte mit spanischen Stiefeln und Haarseilen und weiteren schrecklichen Folterwerkzeugen. All das konnte Miguel nicht wissen, aber er ahnte es bereits.

Das Untersuchungsgefängnis in diesem Haus wird also für die nächste Zeit meine Bleibe sein, dachte Miguel, kaum dass er in seine neue Zelle gebracht wurde. Das Stroh war tatsächlich frisch, aber Ratten und Mäuse raschelten und die Feuchtigkeit kroch langsam in den ganzen Körper. Wenn man nur lange genug in diesem Loch steckt, geht man unweigerlich an Lungenentzündung oder sonst was ein, schüttelte sich Miguel. Na bitte, ein kleines vergittertes Fenster gibt es auch wieder. Ich bin dem allen hier ausgeliefert, dachte er. Der Mönch hat alles organisiert und mit Sicherheit die Familien der Kinder bestochen, in einer Höhe, die ihr Gewissen praktisch neutralisiert hat. Und wer weiß, vielleicht war es ja doch ein Zauberkraut, werden die Mütter sich beruhigt haben und ihre Kinder haben nur Glück gehabt.

Am zweiten Tag nach seinem Verhör wurde die Zellentür aufgeschlossen.

„Schalom! Der Herr lässt die seinen nicht im Stich.“

Ich muss schon eine ziemliche Weile auf diesem wackligen Holzklotz gesessen haben. Nicht mal das Aufsperren der Tür habe ich so richtig mitbekommen.

„Ich bin der Kaufmann Ibrahim Maintz. Meine Familie ist schon in zweiter Generation hier in Celle ansässig“, sprudelte der Mann los.

„Was kann ich für dich tun, Don Miguel Francisco y Dominguez?“

„Schalom“, erwiderte Miguel einigermaßen erstaunt über seinen Besuch. „Sag einfach Miguel.“

„Also gut, Miguel. Wie kann ich deine Lage erleichtern? Ich könnte Dir nicht verfaultes Essen und Wein bringen lassen. Die Wachen sind bestochen und ich genieße ohnehin hohes Ansehen in der Stadt. Ich bin Tuchhändler. Viele Bürger haben Schulden bei mir, aber ich drangsaliere sie nicht besonders. Die Geschäfte gehen einigermaßen gut.“

„Woher weißt du von mir und warum bringst du dich in Gefahr, indem du mich hier besuchst, Ibrahim Maintz? Warum willst Du mir überhaupt helfen? Woher kennst Du meinen Namen?“

„Wir Juden helfen einander, überall auf der Welt, das weißt du und es ist offenbar auch notwendig. Alles andere später. Ich werde wenig genug für dich tun können.“

Ibrahim kleidet sich nicht wie ein Jude, eher wie ein hiesiger Kaufmann, schätzte Miguel ihn ab. Der will wohl so wenig wie möglich auffallen. Seine große krumme Nase allerdings verrät eindeutig seine Herkunft. Zu Hause, im Kreise seiner Familie, wird er vermutlich seinen langen Kaftan mit den weiten gemütlichen Ärmeln tragen. Ich sollte ihm nicht sagen, dass meine Familie schon seit Langem konvertiert ist.

„Mach Dir keine Sorgen, ich habe da meine Mittel und Wege“, sagte Ibrahim.

Juden haben immer Mittel und Wege, dachte Miguel. Fast immer.

„Kann ich dir also einen Wunsch erfüllen? Sie werden dich hier nicht mehr rauslassen. Der Mönch sorgt dafür, nach allem, was ich höre.“

„Ja, ich weiß. Ich habe da einen Wunsch Ibrahim, einen großen Wunsch. Ob du das hinbekommst?“

„Rede schon.“

„Bring Papier, ausreichend. Und Feder und Tinte. Tisch und Stuhl wären auch nicht schlecht, um besser schreiben zu können. Und vor allem, du müsstest den Schreiber spielen. Mein rechtes Handgelenk ist angebrochen, dabei hat der Prozess noch gar nicht begonnen. Der Folterknecht hat mich aber schon mal besucht, genau wie du“, grinste er.

„In deiner Situation noch Humor zu haben - alle Achtung. Du kannst deinen Don nicht verbergen. Da nützt auch deine Fuhrknechtskleidung nichts. Ich werde sehen, was sich machen lässt, Don Miguel Franc …“

„Sag Miguel zu mir. Da wäre noch etwas. Ich habe vor meiner Verhaftung beim Kaufmann Herziger, der auch die Geldgeschäfte hier in Celle betreibt, Dokumente hinterlegt. Weißt du, ich wollte sie nicht in der Herberge haben. Meine Kinder sollen sie zusammen mit dem Brief erhalten.“

„Schon gut. Wird erledigt. Mach dir keine Sorgen.“

Ibrahim hatte es tatsächlich geschafft. Wie ein Jude das eben schafft. Sie wählten immer den frühen Morgen zum Schreiben, um sicherzugehen, dass kein Verhör stattfand. Das hohe Gericht bemühte sich immer erst am Nachmittag. Er konnte den Brief also diktieren, seinen letzten Brief an die liebsten Menschen, die er noch hatte – Sarah und Alfonso. Seine Frau und seine Eltern waren tot. Vielleicht würden seine Brüder eines Tages von seinen Kindern benachrichtigt, wenn Gottes Wege es so wollten.

Am nächsten Tag kam der Syndikus und teilte ihm mit, dass man die Leichen der Celler Kinder durch den Amtsarzt öffnen werde, um festzustellen, ob sie tatsächlich vergiftet wurden. Zwei eingeschworene Zeugen, Barbiere, würden anwesend sein. Danach würde der Rat entscheiden, ob und in welchem Umfang es zum Prozess kommt.

Niemand konnte wissen, wie der satanische Mönch allen mit der Verfolgung der heiligen Inquisition gedroht und sie eingeschüchtert hatte und schließlich doch mit Geld ruhig gestellt hatte.

„Man gibt sich Mühe“, murmelte Miguel in seinen schon ziemlich langen Bart hinein.

Er selbst konnte es nicht sehen, aber mit seinen schwarzen Haaren und dem länger werdenden Bart sah er einem Zauberer immer ähnlicher.

Ibrahim wurde in die Zelle geführt und Miguel konnte seinen Brief weiter diktieren. Als sie sich für den Tag verabschieden wollten, druckste Ibrahim ein bisschen herum. „Was gibt es Ibrahim? Du willst mir doch etwas sagen.“

„Ja. Du fragtest mich am ersten Tag, woher ich deinen Namen und deine Umstände kenne. Nun, vom Syndikus Pufenberg höchstpersönlich. Wir pflegen einen persönlichen Kontakt. Er versorgt mich mit Informationen aus dem Rat und ich bessere sein mehr als klägliches Gehalt gelegentlich auf. Er hat sieben Mäuler zu stopfen.“

Unwillkürlich musste Miguel an Alfonso und Sarah denken. Sie sind auf sich alleine gestellt und

„Pufenberg hat mir die weitere Prozedur erklärt, soweit ich sie nicht ohnehin kannte. Er denkt auch, dass hier übelste Bestechung im Spiel ist. Die Obduktion der Kinder wird ergeben, dass die Kinder nicht vergiftet worden sind.“

„Na, dann wäre ja alles klar“, sprang Miguel verwundert von seinem Stuhl hoch.

„Eben nicht. Die Kinder sind ja angeblich tot, also hast du sie in den Augen des Gerichts durch einen Zauber zu Tode gebracht. Du wirst der Zauberei angeklagt werden.“

„Ein Hexenprozess", brüllt Miguel los. Dieser verfluchte Dominikaner leistet gute Arbeit für seinen König.“

„König?“

„Ach, vergiss es, Ibrahim.“

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und fühlte zum ersten Mal, dass er schwächer wurde, seelisch schwächer. Bisher konnte er viele seiner Ahnungen verdrängen.

„Ja, in diesem Fall wohl ein Hexerprozess mit allem, was dazugehört. Im Volksglauben tief verwurzelt ist ja die Meinung, wir Juden raubten christlichen Kindern das Blut. Pufenberg sagt, nachdem man Anklage erhoben hat, wird man dich zu einem Geständnis auffordern. Nachdem du nicht gestehen wirst, kommt die nächste Stufe.“

„Die wäre?“

„Man zeigt und erklärt dir die Folterwerkzeuge. Sie sind gleich hier nebenan im Martergewölbe. Sie nennen diesen 1. Grad Territion, die Androhung der Folter.“

„Stur nach Vorschrift, was?“

Miguel hatte seine Fassung wieder gewonnen. Jedenfalls gab er sich Mühe.

„Wo es einen 1. Grad gibt, gibt es auch einen 2.“

„Ja, und einen 3. Beim 2., der sogenannten Reaterrition, wirst du gefesselt und die Foltergeräte werden angelegt. Gestehst du immer noch nicht, beginnt der 3. Grad, die Folter.“

„Eine interessante Vorlesung Ibrahim, du wärst ein guter Dozent geworden“, klang es bitter.

„Es tut mir leid, Miguel, aber ich dachte, es ist besser, du weißt, was auf dich zukommt.“

„Mir tut es leid, ich war ungerecht. Ich möchte mich schon heute bei dir bedanken, Ibrahim. Wer weiß, ob ich noch dazu komme.“

„Das wirst du. Der Brief ist auch noch nicht zu Ende geschrieben.“

„In der Tat, wir müssen uns beeilen. Bereite zu Hause einen Schuldschein über fünfhundert Braunschweiger Taler vor. Ich werde ihn dann bei deinem nächsten Besuch unterschreiben. Dann bringen wir auch den Brief zu Ende. Meine Kinder werden den Schuldschein einlösen, wenn du ihnen den Brief und die Dokumente übergibst.“

„Das ist zu viel Miguel. Du weißt, ich würde auch so …“

Die weiteren Worte hörte Miguel nicht mehr. Er dachte, die Summe muss groß genug sein, damit Ibrahim den Brief auf jeden Fall besorgt. Es ging ihm schließlich nicht nur um seine letzten Worte und Gedanken an seine geliebten Kinder, sondern auch um die wertvollen Dokumente.

Der Tag der ersten Folter war gekommen. Der Ablauf war genauso, wie ihn Ibrahim „doziert“ hatte. Nur das Gericht war bei der eigentlichen Verhandlung um einen Geistlichen, den Pfarrer der Stadtkirche und einen fahlgesichtigen Dominikanermönch erweitert. Dessen ungewöhnliche Blässe war Miguel schon in den Herbergen aufgefallen. Der Mönch trug neben seinem Kreuz, das um seinen Hals hing, noch eine weitere Kette mit einem Anhänger daran. Ein kleiner Anhänger, aber Miguel erkannte ihn genau. Es war das Symbol der spanischen Inquisition. Ein Kreuz, aus zwei groben Ästen dargestellt, rechts davon ein Schwert mit dem Knauf auf dem Boden stehend, links dann ein kleines Olivenbäumchen. Den Text, der um das Amulett herum stand, konnte er zwar nicht lesen, aber er kannte ihn auch so. Exurge Domine Et Judice Causam Tuam – Psalm 73.

Meister Hans, sein Henkersknecht, holte ihn später persönlich ab. Sie gingen in das Martergewölbe. Die Foltergeräte und den Raum kannte er ja schon, aber heute war alles anders. Es hingen mehr Fackeln an den Wänden. In einem Feuerkorb glühten Kohlen. Zwei Gehilfen von Meister Hans hielten Eisenstangen in die Glut. Er war seinem Schicksal ausgeliefert. Was sollte er auch tun? Hexen, Brandstifter und Zauberer wurden nach ihrem Geständnis verbrannt. Gestand er nicht, das war bisher der Fall, würde man ihn foltern, bis er gestand. Ibrahim hatte ihn genau aufgeklärt.

„Na, Zauberer, dann nimm mal Platz“, fistelte Meister Hans.

Er würde alles an Willenskraft aufbieten, um nicht zu gestehen, nahm sich Miguel vor, während er auf die Folterbank gedrückt wurde. Ehe er sich versah, bekam er Daumenschrauben angelegt. Der Druck war kaum noch auszuhalten.

„Ihr elendigen Hunde“, schrie er. Nur um zu erreichen, dass die Schrauben von seinem dickwanstigen Henkersknecht noch weiter angezogen wurden.

Miguel versuchte, an seine Heimat zu denken. Das Leben in Cordoba. Es ging nicht lange.

„Aufhören! Aufhören!“ Er spürte nichts mehr in den Händen, vermutlich waren die Nervenbahnen durch das Zerquetschen der Finger abgetrennt. Ich kann noch denken, stellte er mit einem Mal erstaunt fest.

„Hast du die Kinder verzaubert und getötet? Gestehst du oder möchtest du zu den Daumenschrauben noch die Beinschrauben spüren? Es sind übrigens spanische Daumenschrauben, Jude. Die müsstest du doch kennen, oder?“

Der Henkersknecht arbeitet eindeutig mit dem Mönch zusammen. Woher sollte er sonst solche Details kennen, ging es Miguel durch den Kopf. Trotzdem, nicht aufgeben. Ibrahim hatte ihm gesagt, dass eigentlich nur eine Viertelstunde gefoltert werden durfte. Eigentlich. Er spürte das Blut aus den Fingern tropfen und dachte noch: Spanische Daumenschrauben. Welche Ironie.

Als Miguel die Augen aufmachte, sah er als Erstes Ibrahim. Irgendwie ist er immer dann da, wenn ich aufwache, dachte er und spürte sofort seine Schmerzen. Höllische Schmerzen, aber die Blutung hatte offenbar aufgehört.

„Komm, ich halte dir den Becher. Trink etwas. Und essen musst du auch. Ich habe Hühnersuppe dabei.“

„Wozu Ibrahim? Entweder ich brenne oder sie foltern mich zu Tode.“

Ich soll vermutlich zu Tode gefoltert werden, dachte er, sonst hätte schon längst der Scheiterhaufen gebrannt. Der spanische katholische Inquisitor in der Verkleidung eines Dominikanermönches fürchtet vermutlich doch politische Verwicklungen oder ein Scheitern seines Vorhabens. Immerhin sind wir hier im Herzogtum Braunschweig–Lüneburg, nach der Reformation überwiegend evangelisch, was den Rat der Stadt offenbar nicht davon abhält, wegen angeblicher Zauberei mit Todesfolge foltern zu lassen. Der Fürst jedenfalls hält es eher mit dem dänischen König, um mitzuhelfen, Norddeutschland vor dem Zugriff der katholischen Seite zu bewahren. Bestechliche Folterknechte aber werden das Werk schon vollbringen, egal ob katholisch oder evangelisch. Hans ist ja offenbar besonders eifrig.

„Miguel, höre, was Pufendorf sagt. Er war übrigens ganz erstaunt darüber, dass du nicht gestanden hast. Das kommt fast nie vor. Also, noch eine Vorlesung. Das Carolina, also das Strafgesetzbuch, schreibt vor, dass die Todesstrafe nur bei nachgewiesenem Schadenzauber zu verhängen ist. Wenn es also gelingt, die Folter zu überstehen, ist man vom Verdacht der Zauberei befreit.“

„Ibrahim, ich habe die Folter überstanden, wenn auch ziemlich lädiert.“

„Ja“, antwortete Ibrahim ungewöhnlich leise für seine Verhältnisse, „Pufendorf hat mir aber auch von einer Besprechung des Gerichts berichtet, in der genau dieser Umstand das Thema war. Er selbst hatte wahrheitsgetreu die Carolina zitiert, nicht zuletzt um dir zu helfen, oder mir. Du weißt ja, meine Zuwendungen. Der Mönch war es, der dann den Vorschlag machte.“

„Was für einen Vorschlag?“

„Man solle die Folter nur als unterbrochen ansehen, um den Angeklagten etwas zu schonen. Auf diese Weise gäbe es kein zweites Mal, sondern das erste Mal würde nur fortgesetzt werden.“

„Und?“

„Man hat es so beschlossen. Aber vielleicht schaffst du es ja. Du bist unglaublich stark gewesen, bisher. Eine dritte Folter wird es nicht geben.“

„Vielleicht Ibrahim, vielleicht.“ Ein kleiner Hoffnungsschimmer war da.

„Ibrahim, du besorgst alles wie besprochen. Es wird dein Schaden ja nicht sein, wie du weißt. Eine letzte Bitte, für den Fall, dass wir uns nicht wiedersehen: Sorge für meine Beerdigung und beschreibe meinen Kindern die Stelle meines Grabes. Und nun geh. Gott möge dich segnen. Schalom.“

„Schalom, Don Miguel. Gott möge dich segnen.“

Ibrahim ging mit Tränen in den Augen durch die Zellentür.

Miguel stank inzwischen wie das von einem Jäger im Wald liegen gelassene Gedärm eines Wildschweins. Seine Wunden waren mit eiterndem Schorf bedeckt. Die verkrusteten und verfilzten Haare hingen ihm bis auf die schmaler gewordenen Schultern. Schwarz wie früher waren sie nicht mehr, eher grau mit vielen weißen Strähnen. Die Augen waren fiebrig gerötet und seine Gliedmaßen übel geschwollen.

Habe ich noch eine Chance? Es muss doch eine Möglichkeit geben, marterte Miguel sein Hirn.

Er versuchte eine Weile, die Schmerzen zu verdrängen.

Sollte ich versuchen, den Mönch zu bestechen? Warum sollte er nicht schwach werden, wenn die Summe nur hoch genug ist?

Seine innere Stimme gab ihm jedoch sofort die passende Antwort. Unsinn. Dieser verteufelte Dominikanerpfaffe hat mich schließlich bis nach Celle verfolgt, um mich zu töten. Es gibt … keine Hoffnung mehr.

Miguel legte sich in das verkotete übel riechende Stroh. Das Rascheln der Ratten darin störte ihn schon lange nicht mehr. Die höllischen Schmerzen kamen wieder. Gedanken bahnten sich ihren Weg.

… Inez … Verzeih mir. Ich hätte auf dich hören sollen. Warum nur habe ich nicht auf dich gehört? … Wir hätten aus Cordoba weggehen sollen … früher weggehen sollen … gleich nach den ersten Anzeichen … weg … nur weg. … Die Hazienda, das schöne Stadthaus … Bist du es, Inez? Die Kinder, sagst du? Ja, die Kinder … Sarah und Alfonso … Pferde … Ich bin schuld an deinem Tod … Schuld an allem … Die Kinder … alleine in Braunschweig. Warum nur konnte ich mich nicht entscheiden? … Es war das Geld, nur das Geld. Wir hatten doch genug. … Inez, bist du es? Ja, die Silberflotte … die Kaperfahrer. Ich habe sie mitfinanziert … wollte mehr Geld … Geschäfte, Geschäfte mit der neuen Ostindischen Kompanie. … Du bist im Kerker gestorben, Inez. Durch meine Unentschlossenheit. Immer kam was dazwischen. Vaters Tod. Und dann … die Kinder waren so glücklich auf der Hazienda. Geschäfte. Die Königin … aber der Handel hat nicht geklappt. Jetzt bin auch ich im Kerker … Inez. … Vater? … Vater, was ist das für ein Geheimnis? Wer ist der Hüter des Geheimnisses? … Was bedeutet … Inez, bist du es? … Alfonso? … Sarah? …

Das trockene Knarren der Zellentür tönte in das Verlies. Es hörte sich an wie das Öffnen der Klappe eines Galgengerüstes.

Der Feuerkorb mit der Glut darin war wieder da. Sollte er nur irgendwie der Einschüchterung dienen? Heute Nacht war es ihm klar geworden. Sie werden mich zu Tode foltern. Auf nichts anderes zielte der Vorschlag des Dominikaners. Dadurch entfällt der Scheiterhaufen und öffentlich wird kaum einer Notiz von meinem Tod nehmen.

„Wie wäre es heute mit neuen Stiefeln, Jude? Braunschweiger Stiefel! Ich zeige sie dir.“

Die sehen aus wie Schraubstöcke, wie Schmiede oder Schlosser sie benutzen. Damit sie besser wirken, haben sie wohl diese großen gezackten Backenränder. Erst spanische Daumenschrauben und jetzt das. Die Ironie des Schicksals lässt mich wahrlich nicht im Stich. Na gut, ich war zeitlebens Optimist und ein lebensfroher Mensch. Damals in Cordoba. Wir hatten das Stadthaus und eine Hazienda etwas außerhalb am Fluss ... gelegen.

Während Meister Hans die „Stiefel“ weiter anzog, dachte er sich, schon halb ohnmächtig, in die Vergangenheit.

Es ist wunderschön mit Donna Inez auf der weitläufigen Veranda im Schatten. So friedlich. Sarah und Alfonso sind trotz der Hitze bei den Pferden. Sie sind doch immer bei den Pferden, lacht seine schöne Frau. Sie kommen auch ihren Pflichten nach, überlegte Miguel. Ihre Lehrer unterrichten sie in vielfältigen Fächern, wie … Alfonso mag am liebsten Fechtunterricht. Er ist sehr begabt. Ein Meister, trotz seiner Jugend.

Wieder etwas wacher werdend träumte Miguel weiter.

Ich werde bald bei dir sein, Inez. Vielleicht ist das hier Gottes Strafe dafür, dass ich in Spanien bleiben wollte. Das war dein Tod. In den Händen der Inquisition. Und mir wird es genauso ergehen. Vielleicht werden unsere Kinder uns eines Tages rächen.

„Passen die Stiefel gut oder soll ich sie noch etwas enger machen?“, feixte der Henkersknecht Meister Hans.

Ich habe höllische Schmerzen und spüre doch nichts. Wie geht das?

„Ich verfluche dich, Henkersknecht. Eines Tages wird man dich rösten, bei lebendigem Leibe. Der Auftrag ist bereits erteilt, Meister Hans. Schau dich nur um, jeden Tag, jede Stunde. Es wird dich ereilen und du wirst erst auf Erden brennen, bevor du in der Hölle auf Ewigkeit schmorst. Der Hexenmeister und Zauberer, Don Miguel Francisco y Dominguez verflucht dich und den Mönch ebenso. Mönch, bist du da? Man wird dich an einen Pfahl binden, bis du vertrocknet bist. So lange kannst du über deine Missetaten nachdenken, du Hundsfott von einem Pfaffen.“

Meister Hans war unter seiner Maske augenblicklich blass geworden. Wo der Glaube aufhört, fängt eben der Aberglaube an. Don Miguel konnte nicht mehr sehen, wie Hans mit dem glühenden Eisenstab auf ihn losging. Er bohrte ihm das Eisen direkt in die Brust.

Draußen mahlten eisenbeschlagene Räder eines Fuhrwerks und schwach nahm er das dazu klingende Stampfen von Pferdehufen wahr. Don Miguel dachte seine letzten Gedanken.

Wohin dieses Bauerngefährt wohl ziehen mag? Ich kenne den Willen seines Kutschers nicht. So bleibt mir als Gewissheit nur das Ungewisse, das Namenlose der Fernen, denen es entgegenzieht. Der weise Lenker wird sein Ziel kennen. Vielleicht … Vielleicht nimmt er ja meine Seele mit auf die Reise. Inez, Kinder, ich suche den Wagen, aber so sehr ich meine Augen auch anstrenge, ich sehe ihn nicht mehr.

Ibrahim war, gleich nachdem er die Nachricht erhalten hatte, aufgebrochen, noch in der Stunde des Todes von Don Miguel. Er benutzte seinen Bauernwagen, der eisenbeschlagene Räder hatte. Noch eine knappe Meile, dann würde er das Wendentor von Braunschweig erreichen. Er hätte Don Miguel gern geholfen. Er war sogenannter Schutzjude und als solcher einigermaßen sicher. Dennoch hatte er es für besser gehalten, sich sofort aufzumachen, seinen Auftrag zu erfüllen. Die Beerdigung würde sein Sohn besorgen. Am Tor angekommen, fragte Ibrahim den Wachhabenden nach dem Judenviertel und rechnete im Stillen damit, ein wenig angepöbelt zu werden.

„Nein, schüttelte der bedächtig den Kopf. Vor langer Zeit einmal, da gab es in der Jöddenstraße einige Judenquartiere. Wohl auch eine Synagoge, aber das ist lange her. Der Herzog, Heinrich Julius noch, hat alle vertrieben. Auch die in Melverode, sogar die Schutzjuden.“

Der Wachtmeister weiß Bescheid und ist erstaunlich höflich, dachte Ibrahim und traute sich deswegen etwas weiter vor. „Ist es ruhig in der Stadt?“

Der Wachhabende war pfiffig und roch den Braten.

„Also, Herr Jude.“

„Ibrahim. Nennen Sie mich ruhig Ibrahim.“

„Also, Herr Ibrahim. Braunschweig ist eine Stadt und Stadtluft macht frei. Schon mal gehört? Wir sind da nicht so pingelig. Eigentlich evangelisch-lutherisch. Aber wenn der Herzog es will und die Umstände es erfordern sollten, auch schon mal gut katholisch, wie man hier sagt. Gegen Juden hat auch niemand etwas, jedenfalls überwiegend.“

„Ich danke Ihnen für die Offenheit“, sagte Ibrahim schon deutlich entspannter.

Er fuhr also durch das Tor und schon bald begannen das Kopfsteinpflaster und der Gestank.

Warum nur müssen die Leute ihre Nachttöpfe auf die Straße ausleeren? Genau wie in Celle. Ich werde den Erstbesten nach dem Kaufmann fragen, um Alfonso zu treffen und meine Pflicht zu erfüllen.

Bei dem Gedanken überzog plötzlich ein leichtes, zufriedenes Lächeln sein Gesicht. „In das ehemalige Judenviertel fahre ich später“, schimpfte er aber sofort wieder weiter vor sich hin.

Ibrahim wurde vom Inhaber der Druckerei, Herrn Duncker, in das etwas schummrige Kontor geführt. Alfonso arbeitete an einem Stehpult, vertieft in unendlich lange Zahlenkolonnen. Er sieht aus wie sein Vater, dachte Ibrahim sofort. Groß. Hagere, zähe Gestalt und vor allem tiefschwarze Haare und Augen.

Dann berichtete er das Geschehen, soweit er es für richtig hielt und erledigte so seine traurige Pflicht. Alfonso war Don genug, wie sein Vater, und trug, zumindest nach außen, alles mit Fassung. Auch das Thema 500 Taler wurde nicht zur Peinlichkeit, sondern wurde am nächsten Tag erledigt. Die Aufgabe Alfonsos war es, seiner Schwester Sarah die schreckliche Nachricht zu überbringen. Ein kleiner Trost für beide war, dass sie wussten, wo ihr Vater begraben lag. Da der Gefängnisfriedhof, wie so oft in Celle, unter Wasser gestanden hatte, konnte Ibrahims Sohn Don Miguel sogar auf dem Kirchenfriedhof beerdigen, wenn auch am äußersten Rand. Später wollte er einen Findling dort aufstellen lassen. So würden Alfonso und Sarah eines Tages sein Grab finden.

Die ihre Seele töten

Подняться наверх