Читать книгу Die ihre Seele töten - Wilfried Stütze - Страница 9
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ОглавлениеDie Glocken von St. Andreas waren an diesem Sonntagmorgen klar zu hören. Zum Gottesdienst würden sie heute nicht gehen. Oft gingen sie ohnehin nicht, aber das nahm ihnen keiner wirklich übel. Heinrich streichelte Sarah sanft über ihre schwarzen Haare. Das war ihr stummes Ritual. Wenn Sarah sich daraufhin zu Heinrich umdrehte, würden sie sich gegenseitig streicheln, bis sie es nicht mehr aushalten konnten. Ihr gegenseitiges Verlangen war über all die Jahre geblieben. Sie spürten es vielleicht nicht mehr so häufig, aber wenn, dann war es immer schön. Sarah drehte sich nicht um.
Heinrich stand ohne Groll auf. Soll sie ruhig noch ein bisschen dösen. Ist ja Sonntag.
Michael und sein Vater saßen schon an dem großen eichenen Küchentisch, als Hinrich und Onkel Johann fast zeitgleich die Stiege herunterkamen. Nesthäkchen Anna und die Magd Erna machten sich am Herd zu schaffen. Der lange Tisch wirkte sonntags ziemlich leer. In der Woche dagegen aßen alle zusammen, die ganze Hausgemeinschaft. So war es Brauch. Vor allem Sarah war das wichtig. Anna machte sich daran, noch vor dem sonntäglichen Familienfrühstück Karl, dem Altgesellen, und Otto, dem zweiten Gesellen, ihr Essen zu bringen. Magd Erna machte sich ebenfalls auf den Weg und nahm für sich, ihren Mann Alwin und den Lehrling Fritz das Frühstück mit.
„Wie gut es uns doch geht!“, kam Sarah lächelnd die Stiege herunter.
So richtig wusste vermutlich keiner, wie sie das meinte, aber jeder nickte und murmelte irgendetwas. Nur Heinrich wurde nachdenklich.
Später saßen beide im Hof auf der Holzbank unter der mächtig ausladenden Eiche. Die war zwar andauernd im Weg, aber keiner brachte es übers Herz, sie zu fällen.
„Wie lange steht der Baum schon, Heini?“
Wenn Sarah ihren Mann gerade besonders lieb hatte, nannte sie ihn Heini.
„Mein Großvater hat ihn vor langer Zeit, vielleicht vor fünfzig oder sechzig Jahren, gepflanzt. Ich bin als Kind schon darauf herumgeklettert.“
„Was der Baum schon alles erlebt hat, allein seitdem wir uns kennen … die Nachricht von Vaters Tod …“ Sarah schwieg eine Weile. „Weißt du noch, dass wir uns unter der Eiche zum ersten Mal geküsst haben?“
„Wie könnte ich das vergessen? Die Kinder haben in ihrem Schatten gespielt“, fuhr jetzt Heinrich fort. „Auch die Zeitläufe sind über sie hinweggegangen. Katholische, Evangelische und vorerst wieder Katholische. Was quält dich nur so, mein Schatz? Der Krieg wird, glaube ich jedenfalls, an Braunschweig vorüberziehen. Camann sagt …“
„Vielleicht ist es ja nicht der Krieg. Ich habe das Gefühl, alles verändert sich und nicht unbedingt zum Guten. Ich habe so gewisse Ahnungen, Mutter hatte auch oft Ahnungen. Erklären kann ich das nicht. Alles verändert sich. Es gibt auch Zeichen dafür.“
„Was für Zeichen?“
„Zum Beispiel, dass unsere Tochter Anna verliebt ist.“
„Verliebt?“ Heinrich war ehrlich erschrocken. „In wen?“
„Das ist eine positive Veränderung. Leider gibt es mehr weniger gute.“
„In wen ist sie verliebt, um Himmels willen?“
„In Karl, du Träumerli. Hast du das immer noch nicht gemerkt? Aber lass uns später darüber reden.“
„Aha, deswegen schaut Otto so grimmig durch die Gegend“, bemerkte Heinrich. „Der hatte sich wohl auch Hoffnungen gemacht!“
„Später, Heinrich, später.“
„Na, und unser Hinrich ‚tobt sich aus‘, wie Michael sagt. Gut, er ist jung. Ich finde aber, dass er sich ein bisschen zu viel austobt.“
„Dann werde ich dem einen Riegel vorschieben“, polterte Heinrich, nicht gerade glaubwürdig.
„Ach, Heini, da steckt mehr dahinter. Er wird die Büchsenschmiede übernehmen müssen. Ein guter Büchsenmacher ist er schon jetzt, stimmt`s?“
„Ja, schon. Die Tüftelei an neuen Dingen ist zwar nicht seine Sache – aber sonst …“
„Weißt du auch, ob er das wirklich will? Vielleicht will er ja was ganz anderes. Trotzdem: Er ist unser Sohn und wird seine Pflicht tun. Geradlinig wie ein Braunschweiger eben“, spöttelte Sarah ein wenig und stieß Heinrich sanft in die Seite.
„Hmmh.“
„Da ist noch mehr. Michael. Er hat nichts gesagt, aber ich spüre es. Es geht was in ihm vor.“
„Ich dachte immer, dass er sich bei Kaufmann Hermann Schrader wohlfühlt. Eine tüchtige Familie. Hermann ist auch im Rat, wie du weißt.“
„Ich glaube, dass er mehr will. Viel mehr!“
„Du und deine Ahnungen …“
„Hast ja recht, Heinrich. Sieh, wie schön wir es hier haben im Meinhardshof.“
Sarah dachte über ihr Heim nach. Sie ging in Gedanken durch die Diele. Dann hatte sie die große Küche zum Hof hin vor Augen, dachte an das Federvieh, das von Magd Erna versorgt wurde, an die Schlafkammern im Anbau für die Gesellen und das Gesinde gleich über der Werkstatt. Ihr besonderer Stolz aber waren die bleiverglasten Fenster im Erdgeschoss.
„Weißt du noch, wie die Leute sich das Maul zerrissen haben wegen meiner kupfernen Badewanne?“
„Na, na, redet so eine Dame aus gutem Hause?“
„Ach was! Mit dem Pferd war es genauso. ‚Hat die Dame doch ein Reitpferd auf dem Lande stehen! Ein Reitpferd! Man stelle sich das einmal vor!‘“
Heinrich musste jetzt herzhaft lachen. Bei einem befreundeten Bauern hatten sie ein Pferd in Pflege. Dafür erledigte Heinrich manchmal ein paar Schmiedearbeiten für ihn – natürlich kostenlos.
„Allerdings, mit der Hochzeitstruhe hast du alle Damen zum Verstummen gebracht.“
„Das stimmt“, lachte jetzt auch Sarah.
Es war eine rote Truhe. Die Farbe war eigentlich für ihren Stand nicht erlaubt. Niemand traute sich allerdings, wohl aufgrund des Ansehens der Familie Heinrich Schlachmann, die Angelegenheit öffentlich zu verfolgen.
„Und der Inhalt erst“, prustete Sarah los. „Ich glaube, da ist so manche Dame vor Neid erblasst.“
„Na also, mein Schatz. Du kannst wieder lachen.“
„Du bist ein Schuft! Übrigens, Heinrich, wir wollen nächstes Wochenende schlachten. Es ist wieder so weit. Das heißt, dein geliebter Stammtisch fällt für dich aus.“
„Wieso?“
„Es ist der erste Samstag im Monat Februar.“
„Na ja, macht nichts. Ich wollte ohnehin erst mit Camann reden.“
„Mit Camann? Worüber denn?“
„Ach, so dieses und jenes. Männergespräche eben.“
Niemand konnte es wissen, aber das Schicksal hatte begonnen, einen unheilvollen Sud zu brauen.