Читать книгу Die ihre Seele töten - Wilfried Stütze - Страница 8
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ОглавлениеSarah schlug inzwischen das Buch zu. Sie kannte den Inhalt schon auswendig. Da waren die Informationen über die Führung eines Handelshauses, seine Struktur, Angaben über die Bearbeitung der Einnahmen und Ausgaben und vieles mehr. Dann kamen einige wichtige Texte zur Geschichte der Familie Don Miguel Francisco y Dominguez: etwa wie der Großvater für seine Verdienste um die spanische Krone die Hazienda und das Stadthaus bekommen hatte und in den Adelsstand erhoben wurde. Geschrieben stand auch, dass die Hazienda vererblich auf Ewigkeit der Familie Dominguez gehöre. An dieser Stelle hatte Sarah geflucht und keine Lust mehr, in dem Handelsbuch weiterzulesen.
„Paah, die Ewigkeit hat nicht lange gedauert“, stieß sie hervor. Sie beruhigte sich augenblicklich wieder und gestand sich ein, dass sie bisher keinen Grund zur Klage hatte.
Wie anders ist doch alles, wenn man jemanden liebt! Und es ist schön, geliebt zu werden, schmunzelte sie vor sich hin. Klar, ich denke schon manchmal an die unbeschwerte Kindheit, an die Sonne in Spanien und vor allem an die Pferde. Aber habe ich nicht eine prächtige Familie? Hinrich ist ein bisschen wild. Immer unterwegs und zu allerlei Unfug aufgelegt. Das legt sich bestimmt noch. Er wird mal ein guter Büchsenschmied und wird das Geschäft eines Tages übernehmen. Ein Tüftler wie Heinrich ist er allerdings nicht. Wieso der wohl schon seit Jahren an der Weiterentwicklung eines Verschlusses oder so ähnlich herumbastelt?, unterbrach sie sich selbst. Gut, wenn es ihm Spaß macht! Besonders die Jagdbüchsen haben es ihm angetan. Michael scheint sich bei Kaufmann Hermann Schrader auch wohlzufühlen. Er ist eher ein Denker. Na, und Anna schmeißt die Wirtschaft hier zu Hause mit mir, dass es eine wahre Freude ist. In letzter Zeit ist sie allerdings etwas durch den Wind.
In Sarahs Gesicht zauberte sich unversehens ein glückliches Lächeln.
Eine Schönheit mit ihrer schlanken Gestalt, den schwarzen Haaren, dazu die dunkelbraunen Augen, der bronzene Teint. Im Aussehen kommt sie wohl nach mir. Sarah errötete leicht. Im Wesen aber ist sie eher ruhig und kommt nach Heinrich. Eben eine natürlich wirkende junge Frau. Sie ist verliebt und denkt, ich merke das nicht. Heini hat jedenfalls noch nichts gemerkt. Männer!
Sarahs Gedanken schwenkten plötzlich wieder zurück zum Buch.
Das Geheimnis haben wir alle nicht herausbekommen. Als ob irgendetwas fehlt, kam es ihr in den Sinn. Sogar die schweren Holzdeckel haben wir an den Seiten aufgesägt, aber es war kein Hohlraum da. Es klang auch nicht hohl, wenn man in der Mitte auf den Deckel klopfte. Es muss wohl doch im Text verborgen liegen. Sei es drum! Wieso denke ich gerade heute so intensiv über alles nach?, sinnierte Sarah weiter. Es geht uns allen gut. Wir sind eine angesehene Familie. Heinrich gehört als Gildemeister zu den führenden Bürgern der Stadt, obwohl ihm das ziemlich egal ist. Auch dafür liebe ich ihn. Viele Frauen holen sich bei mir Rat, weil ich gelernt habe, mit Kräutern umzugehen. Manchmal kann ich bei Krankheiten helfen, dann ist die Freude groß. Sogar ein Pferd habe ich bei Freunden auf dem Land stehen. Na, und unser Haus hier am Meinhardshof kann sich sehen lassen. Die große Durchfahrt auf den Hof, die Fenster zur Gasse, nicht etwa mit Leinen oder Fischblasen ausgestaltet, sondern bleiverglast. Und …
Sarah unterbrach ihre Gedanken.
Die Zeitung AVISO, die wir seit Neuestem bekommen, hat von Krieg geschrieben. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich in der Vergangenheit grabe. Der ist aber hoffentlich weit weg.
Michael rauschte plötzlich in die geräumige Küche. „Du bist der reinste Wirbelwind“, mein Sohn. „Komm, hock dich hin. Es ist noch Suppe im Kessel.“
„Ich sehe und rieche es. Dieser Duft! Du benutzt unseren alten Kamin mit dem eisernen Suppenkessel.“
„Darin wird sie am besten.“
„Warum bist du überhaupt noch auf, Mutter?“
„Ach, mir war eben danach. Mir geht so manches durch den Kopf. Wo ist eigentlich Hinrich?“
„In der Stadt natürlich. Der vergnügt sich ein bisschen.“
„Vergnügt sich. Ich kann mir schon denken, wo der sich herumtreibt.“
„Er ist alt genug, Mutter.“
Beide schwiegen eine Weile, während Michael die Suppe löffelte und daran dachte, dass seine Mutter recht hatte. Hinrich ist tatsächlich im Bruch. Er wird es wohl mit einer Hübschlerin treiben.
Früher war die von Okerarmen umschlossene Gegend eine ziemlich sumpfige Angelegenheit. Inzwischen wurde das Gelände trocken gelegt, aber die berüchtigten Winkelkneipen gab es immer noch.
Er selbst war auch mal dort, aber irgendwie hatte er keinen wirklichen Spaß an dem Trubel dort finden können. Die Mädchen waren auch nicht nach seinem Geschmack, obwohl er gut ankam. Hinrich behauptete zwar immer, er sei dürr wie eine Bohnenstange, aber er selbst fand sich schlank für seine eins fünfundsechzig bestenfalls drahtig. Jedenfalls fanden die Mädchen seine langen blonden Haare und besonders seine wasserblauen Augen umwerfend.
Im Gegensatz zu Hinrich habe ich noch nie mit einer Frau … Hinrich ist da anders … „Ich gehe zu Bett, Mutter. Morgen wollen Onkel Alfonso und ich mit den Waffen trainieren.“
„Am Sonntag?“
„Wir gehen wie immer vor die Stadt, in die Buchhorst. Du solltest dich auch hinlegen. Vater kommt bestimmt auch bald. Ich bin nur vorweggelaufen.“
„Warum so besorgt, Sohn?“
„Weil ich dich gern hab.“
Michael drückte seiner Mutter Sarah einen Kuss auf die Wange und sprang die Stiege hoch zu seiner Kammer.
Ich muss mit den Eltern reden, dachte Michael und schlief bald den unbekümmerten Schlaf der Jugend.
*
Der Graf war heute sicher zur Jagd. Heute früh konnte man Schüsse aus Richtung des Elmwaldes hören. Ob das ein Vergnügen ist bei dem Wetter?, dachte Heinrich und stapfte durch den immer noch andauernden Regen in Richtung Burgplatz.
Er wollte auf direktem Weg nach Hause. Nur dem Löwen würde er noch seine Referenz erweisen. Der stand auf seinem steinernen Sockel, wie ihn Heinrich der Löwe im Jahre 1166 hatte hinstellen lassen, Sinnbild seiner Tapferkeit und seinen Feinden zur Warnung.
Heinrich betrat sein Grundstück am Meinhardshof durch die mächtige, mit eisernen Nägeln beschlagene zweiflüglige eichene Tür zur Diele.
„Du bist ja immer noch auf, Sarah!“
„Mir geht vieles durch den Kopf, wie seit Langem nicht mehr. Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen.“
„Übrigens, warum benutzt du eigentlich den Kamin? Wir haben doch schon lange gefangenes Feuer. Durch den Anbau hast du einen Herd mit Blick auf den Hof, mein Schatz“, versuchte er ein bisschen abzulenken. „Geh am besten zu Bett. Ich komme auch gleich.“
„Gibt es Krieg, Heinrich?“
Sarah schaute ihn mit ihren tief dunkelbraunen Augen an. Es waren wissende Augen. In Zeiten der Gefahr wurden sie stechend. Heinrich wusste das. Er musste dann unwillkürlich wie gebannt hineinschauen. In diesen Augenblicken hatte Sarah etwas Mystisches.
„Wir werden Braunschweig da möglicherweise heraushalten können, Sarah.“
Heinrich war klar, dass er ihr jetzt keine Ammenmärchen erzählen konnte und sollte. Seine Frau hatte nicht nur eine Höhere-Töchter-Ausbildung und -Erziehung im spanischen Elternhaus genossen, sondern sie war inzwischen auch eine gebildete Frau, die vielerlei wusste.
„Wir reden morgen darüber, einverstanden?“
Sarah ging nach einem kurzen Nicken die Stiege hoch in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Heinrich sah ihr mit zärtlichen Gefühlen hinterher. Sie war eine Schönheit mit ihrer bronzefarbenen Haut und den pechschwarzen Haaren.
Heinrich hatte damals bei ihrem Bruder Alfonso symbolisch um ihre Hand angehalten. Bei ihrem Vater konnte er es ja nicht mehr tun. Sarah war damals traurig und glücklich zugleich.
Der Brief Don Miguels und das Handelsbuch lagen noch auf dem Tisch. Heinrich las nach langer Zeit wieder die letzten Zeilen von Don Miguel y Dominguez an seine Kinder Sarah und Alfonso.
Nachdem Heinrich fertig war, verstaute er das Handelsbuch und den letzten Brief Don Miguels wieder in der Truhe auf der Diele. Dort gehörten sie hin. Wenn Don Miguel wüsste, dass er drei Enkel hat …, dachte er noch, während er die Stiege zur Schlafkammer hinauf ging.