Читать книгу Die ihre Seele töten - Wilfried Stütze - Страница 6
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ОглавлениеKnapp drei Monate zuvor war die Welt für Michael und seine Familie noch in bester Ordnung. Es lebte sich gut im Meinhardshof und auch in der freien Reichsstadt Braunschweig allgemein. Es herrschte eine friedliche und fast sorglose Stimmung. Der Krieg hatte die Stadt bisher verschont, Friede allenthalben.
Sein Vater Heinrich Schlachmann war ein angesehener Büchsenschmied, zuweilen etwas mürrisch und wortkarg. Aber das war nur die Oberfläche. Michael verstand sich mit allen gut: insbesondere mit seinem älteren Bruder Hinrich, Nesthäkchen Anna und schließlich seiner Mutter Sarah, die er innig liebte.
Seine Freundin Lena liebte er auch, natürlich anders, aber bis er dieses Gefühl wirklich erleben sollte, würde er noch viele Umwege auf seinem Lebensweg einschlagen müssen.
Michaels Onkel Alfonso gab ihm gelegentlich und bereitwillig Waffenunterricht. Seine Mutter sah das zwar nicht gern, letztlich nahm sie es aber immer mit einem tiefen Seufzer hin.
Michael und Alfonso nahmen das Kloster Riddagshausen, das in der Ferne eine schöne Silhouette abgab, kaum zur Kenntnis. Sie kutschierten ihr Fuhrwerk direkt auf den Wald, die Buchhorst, zu. Dort schleppte jeder seinen „Kartoffelsack“ bis zu einer großräumigen Lichtung. Don Alfonso transportierte so eine Muskete und eine Jagdbüchse. In Michaels Sack waren zwei Pistolen, zwei Degen und ein Kurzschwert. Mit der Ladung durch das Tor zu kommen, war nicht sonderlich schwer. Es war Sonntag und sie würden den Wachen auf dem Rückweg einen Siphon mit drei Litern Bier aus dem Gliesmaroder Turm und einen schönen Gruß vom Büchsenschmied Heinrich Schlachmann dalassen. Die Wachsoldaten wussten das. Wer wollte da noch kontrollieren, zumal es ja öfter vorkam, dass Michael und Alfonso sonntags mit dem Wagen unterwegs waren. Lieber nicht zu neugierig sein, dachten sie sich wohl.
Ganz ungefährlich waren diese Unternehmungen dennoch nicht. Es war den Schützen, die in Gilden organisiert waren, und allen anderen Bürgern natürlich auch bei Strafe verboten, an einem Sonntag Schießübungen durchzuführen, es sei denn, es fand ein offizielles Schützenfest statt. Wann aber sollten die beiden sonst üben? Im Sommer ging es manchmal auch alltags, da war es länger hell. Im Winter war nach der Arbeit daran jedoch nicht mehr zu denken. Ohnehin wurden die Stadttore bei einbrechender Dunkelheit geschlossen. Don Alfonso – Michael sagte schon seit den Kindertagen Don Alfonso zu seinem Onkel und so war es geblieben – war immerhin Prokurist und konnte die Druckerei nicht einfach früher verlassen.
Michael war gut im Gebrauch der Waffen. Sein Onkel konnte ihm schon lange nichts mehr beibringen. Irgendwie war er ein Naturtalent. Die wöchentlichen Übungen genossen sie, auch wenn Sarah wegen des Feiertages jedes Mal den Kopf schüttelte. In Michaels jüngeren Jahren unterrichtete Alfonso ihn auch in Geschichte und vielen anderen Fächern, obwohl Michael ohnehin die Lateinschule besuchte. Aber er war äußerst wissbegierig. Über die Jahre konnten sie sich auch in kaufmännischen Dingen austauschen, soweit es nicht die Geschäftsgeheimnisse ihrer Dienstherren betraf. Michael war beim Fernhändler Schrader und Alfonso in der Druckerei von Andreas Duncker beschäftigt. Das konnten sie jedoch gut trennen. Schade aus Michaels Sicht war lediglich, dass er so wenig zum Reiten kam. Auf dem Land waren sie nur ein- bis zweimal im Monat.
Michael legte die Waffen auf der Lichtung zurecht, ordnete sie in Reih und Glied an. Er kannte sich gut aus. Seine Lieblingswaffen waren die Jagdbüchse und die Radschlossreiterpistole. Es folgten das Kurzschwert und der Dolch. Don Alfonso wurde in seiner Jugend an all diesen Waffen ausgebildet. Das und vieles mehr gehörte zur Erziehung eines künftigen spanischen Grande dazu.
„Du wirkst heute etwas nervös, Michael“, bemerkte Alfonso.
Wieso kann ich das nicht vor ihm verbergen?, dachte Michael. Vor Mutter kann ich auch nichts verbergen, glaube ich.
„Ich möchte mit dir etwas besprechen, dich um deinen Rat fragen. Lass uns aber erst unsere Übungen durchführen.“
Michael nahm die Muskete, schüttete Zündkraut in den Lauf, schob, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte, eine mit etwas Stoff umwickelte Bleikugel hinterher und stopfte dann Kugel und Pulver mit dem Ladestock fest. Ein Gabelstock war für seine Muskete nicht mehr erforderlich. Sie wog nur noch knapp fünf Kilo. Die älteren Ausführungen hingegen wogen bis zu fünfzehn Kilo. Michael gab noch etwas Schwarzpulver auf die Zündplatte, spannte die Lunte in die Zündvorrichtung, legte an und feuerte. Alfonso und Michael hatten irgendwann einmal eine mannshohe Figur aus Brettern in etwa fünfundsiebzig Metern Entfernung als ständige Zielscheibe aufgestellt. Da so eine Muskete nicht besonders treffsicher war, würde sie noch lange halten. Zum Schluss übten sie sich noch im Kampf mit Kurzschwert und Dolch.
„Deutlich in die Knie gehen, Michael, und das Kurzschwert mit dem rechten Arm nach oben strecken. Der Gegner wird auf das Schwert schauen und du kannst mit dem Dolch in der linken Hand von unten in den Oberschenkel stoßen.“ Michael führte die Übung „trocken“ aus.
„Du bist ein Krieger, Michael, ein Krieger. Dieser Ernst in seinem Tonfall, dachte Michael. Er meint das wirklich so. Wieso ein Krieger? Es macht einfach nur Spaß, eine Waffe zu beherrschen.
„Also, was willst du mit mir besprechen?“
Michael brachte es einfach nicht heraus. Er hatte bisher mit niemandem über seine Pläne gesprochen.
„Du willst weg von hier. Fort, raus in die Fremde. Du willst dir den Wind um die Nase wehen lassen. Träumst von Abenteuern und hübschen Mädchen. Wann soll es denn losgehen?“
Michael starrte seinen Onkel aus wasserblauen Augen ungläubig an. „Woher weißt du, ich …“ stammelte er.
„Nun, viele junge Männer wollen in die Fremde“, lachte Alfonso. „Erzähl mir schon, was du vorhast!“
Michael, jetzt etwas ruhiger, setzte sich auf einen Baumstumpf und stützte seine Arme auf den Knien ab.
„Ich will Kaufmann werden.“
„Aber das bist du doch schon. Später wirst du bestimmt Prokurist wie ich“, kam es jetzt doch etwas erstaunt von Alfonso.
„Nein, nein. Der Handel hier ist interessant, aber irgendwie … wie soll ich sagen? … Zu klein, zu eng. Fernhandel will ich treiben, selbstständig, weißt du? Dazu muss ich aber noch viel lernen.“
Er sagt „will“ und „muss“. Das ist so gar nicht seine Art, dachte Alfonso. „Ja, viel Geld brauchst du für dein Vorhaben auch. Wie willst du dich sonst selbstständig machen?“
Ach, das ist noch weit hin. Ich habe da so meine Pläne. Vielleicht kann mir Vater mein Erbteil vorzeitig auszahlen? Vielleicht leiht mir auch Don Alfonso etwas oder beteiligt sich sogar am Geschäft? Vielleicht beteiligt sich auch Hinrich? Das wird sich alles finden, ging es Michael durch den Kopf.
„Ich schaffe das, Don Alfonso.“ Michaels Augenfarbe wechselten ins Stahlblaue. Es wirkte kalt.
Es war bestimmend und wie abschließend, keinen Widerspruch duldend. Er hat sich verändert, sinnierte Alfonso etwas verblüfft. Vielleicht hat er auch einfach nur einen Entschluss gefasst und will ihn jetzt umsetzen. Er ist eben ein Mann geworden, aber seine Augen … „Du musst mit deinen Eltern reden, Michael. Mach dir keine Sorgen: Sie werden es verstehen. Wo willst du überhaupt hin?“
„Nach Nürnberg. Ich hoffe, bei den Fuggern unterzukommen. Die Fugger handeln mit unglaublich vielerlei Waren und überall hin, sei es innerhalb oder außerhalb der Hanse. Man sagt, sie handeln auch mit Geld.“
Seine Augen sind wieder wasserblau, stellte Alfonso für sich selbst fest. „Von deinem Vorhaben bist du jedenfalls begeistert“, kam es lächelnd über seine Lippen. „Und die Fugger handeln auch mit Informationen. Darüber sollten wir später noch einmal sprechen.“
„Warum bist du eigentlich zuerst zu mir gekommen?“
Michael schaute Don Alfonso leicht abwesend an. Wie wird es Mutter aufnehmen?
Er wusste, dass er ihr Liebling war, obgleich sie sich immer alle Mühe gab, alle Kinder gleich zu behandeln. Er wusste auch, dass er sie über alles liebte wie sonst nichts und niemanden auf der Welt.
Hinrich und Anna bleiben ja zu Hause, versuchte er seine Gedanken wieder in den Griff zu bekommen.
„Es wird ihr wehtun, deinem Vater übrigens auch. Sie wissen aber, dass es der Lauf der Dinge ist. Sie werden dich ziehen lassen. Manche Menschen wollen nun mal hinaus in die Welt. Sie wollen wissen, was hinter den nächsten Bergen ist. Und wenn sie es gesehen haben, wollen sie wissen, was hinter den nächsten Bergen, den nächsten Wäldern, den nächsten Meeren ist. Du gehörst zu diesen Menschen, glaube ich. Erst war es deine Wissbegierde über die Lateinschule hinaus. Da konnte ich dir ein wenig helfen. Zusätzlich hast du dir von Camann Bücher geliehen.“
Ich muss mich auch von ihm verabschieden, schoss es Michael durch den Kopf.
„Dann wolltest du im Umgang mit Waffen unterrichtet werden. Und jetzt ist dir hier alles zu klein und piefig geworden. Auf zu neuen Ufern! Das bist du. Du willst dir deine Träume erfüllen.“
Ja, Träume, die nur ich kenne, dachte Michael.
„Vorher wollen wir aber mal zusammenpacken und nach Hause fahren.“
Wenig später fuhren sie, schweigsam geworden, der Stadt entgegen. Die Silhouette des Zisterzienserklosters glänzte in der Abendsonne. Sie beachteten es nicht.