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Ein paar Wochen später begleitete Michael seinen Vater zum Stammtisch, wie er es in der letzten Zeit schon manchmal getan hatte.

Warum er das tat, konnte er sich nicht so richtig erklären. Vielleicht suchte er unbewusst die Nähe des eher verschlossenen Vaters, weil er bald die Familie verlassen würde. Die Mitglieder des Stammtisches hatten jedenfalls nichts gegen seine Anwesenheit, zumal er sich nur in die Gespräche einschaltete, wenn er gefragt wurde.

Sie hätten, an der Martinikirche angekommen, den direkten Weg zum Wirtshaus „Haus zur Hanse“ einschlagen können, aber den kleinen Umweg über den Altstadtmarkt nahmen sie trotz des Regens gern in Kauf. Besonders Heinrich liebte diesen Platz, so wie er die ganze Stadt liebte. Hier in Braunschweig war er zu Hause, genau wie seine Eltern es gewesen waren, bis die Pest sie viel zu früh dahingerafft hatte.

Der Altstadtmarkt zeigte sich wie immer prächtig. Halb auf der nördlichen Seite des Kirchenschiffes von St. Martini vorbei zeigte sich auf der linken Seite das größte und schönste Rathaus der Braunschweiger Weichbilder: das Altstadtrathaus. Ein paar Schritte weiter konnte Heinrich die Rechtwinkligkeit des Zweiflügelbaues erkennen. Als Büchsenschmied hatte er eine detaillierte Vorstellung von Genauigkeit und Schönheit, die daraus entstand.

Sie gingen schräg über den Platz, am vor Wasser triefenden Marienbrunnen vorbei in Richtung Kohlmarkt. Rechts von ihm tauchte jetzt schemenhaft das Gewandhaus auf. Die Tuchmacher hatten ihre Lager darin und wickelten auch teilweise ihre Geschäfte im und vor dem Haus ab. Gleichzeitig diente es ihnen als Gildehaus, genau wie den Büchsenschmieden.

Michael und Heinrich Schlachmann blickten sich noch einmal um. Der dünne Nieselregen überzog die ganze Szenerie mit einem diffusen Schleier und erzeugte eine eigenartige Stimmung. Zumindest Heinrich setzte seinen Weg noch nachdenklicher fort. Seine Gedanken waren bei Sarah, seiner Frau.

Warum nur hat Sarah nach so langer Zeit wieder das Buch und den Brief hervorgeholt? Heinrich grübelte darüber nach und spürte deutlich den Wind, der immer stärker wurde. Sie hat mich kaum wahrgenommen, als ich aus dem Haus gegangen bin. Tief versunken hat sie an unserem großen eichenen Küchentisch gesessen. Ja, früher, in den ersten Jahren unserer Ehe, da hat sie die Unterlagen häufiger studiert –zum einen sicherlich, um die Erinnerung an ihren Vater zu pflegen, zum anderen aber auch, um hinter das Geheimnis zu kommen: Das Buch des Handelshauses Don Miguel sollte Informationen erhalten. So hatte ihr Vater es in seinem Abschiedsbrief mitgeteilt, die es ihrem Bruder Alfonso und ihr ermöglichen sollten, seine Geschäfte fortzuführen. Es ist schon merkwürdig, dachte Heinrich, dass bisher keiner aus meiner Familie das Geheiminis lüften konnte. Immerhin ließ Sarahs Interesse nach, als unser Sohn Hinrich geboren wurde, und erlosch völlig, als zwei Jahre später Michael zur Welt kam. Heinrich Schlachmann versuchte trotz des jetzt unangenehmen Regens ein Lächeln. Und dann kam auch noch unser Nesthäkchen Anna.

Jetzt, nachdem ihr Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot war, beschäftigt sie sich plötzlich wieder mit der alten Geschichte. Warum nur?

Heinrich konnte sich keinen Reim darauf machen. Der Vater von Sarah und Alfonso, Don Miguel, war in Celle wegen angeblicher Zauberei verhaftet worden. Er wurde der sogenannten peinlichen Befragung unterzogen und starb während der Folter.

Ein jüdischer Kaufmann mit Namen Ibrahim Maintz hatte seinerzeit die schreckliche Botschaft und den letzten Brief des Vaters überbracht und berichtet, was er sonst noch wusste.

Am Anfang war es schwer für Sarah und Alfonso. Ihr Vater hatte Alfonso bei Andreas Duncker, der eine Druckerei betrieb, und Sarah im Hause des Büchsenschmiedes Heinrich Schlachmann untergebracht, beides solide, angesehene Familien in der Stadt.

Obwohl es nur vorübergehend sein sollte, denn ihr Vater wollte sie nachholen, hatte besonders der Büchsenschmied dieser Vereinbarung nur zu gern zugestimmt. Durchaus nicht zur Schwermut neigend, war er doch oft einsam in dem großen Haus. Seine Mitarbeiter in der Schmiede und das Gesinde waren kein Trost für ihn.

Mit der Nachricht vom Tod Don Miguels hatte sich alles für die Kinder geändert. Alfonso war es, der die Verantwortung spürte, die Initiative ergriff und letztlich eine Lösung herbeiführte. Er hatte vorgeschlagen, vorläufig in Braunschweig zu bleiben.

Sie saßen damals auf dem Rand des Marienbrunnens und hatten beratschlagt, wie es weitergehen sollte.

„Vater hat uns ausreichend mit Geld versorgt. Vielleicht können wir auch länger in unseren jetzigen Unterkünften bleiben und arbeiten. Ich habe mich schon immer für das Druckereiwesen interessiert, eine aufstrebende, moderne Technik.“

Sarah hatte einigermaßen irritiert geschaut. Du hast dich zeitlebens für Pferde interessiert und sonst für so gut wie nichts, dachte sie, sprach es aber nicht aus.

„Der Büchsenmacher hat sicher auch nichts dagegen, wenn du ihm die Wirtschaft führst.“

„Büchsenschmied“, korrigierte ihn Sarah. „Büchsenmacher ist was anderes.“

Jetzt war es an Alfonso, irritiert dreinzuschauen. „Wer weiß, ob uns nicht auch aufgelauert wird, wenn wir nach Hamburg zu unserem Onkel reisen!“, gab er etwas zusammenhanglos von sich. „Hier sind wir vorerst sicher. Wir bleiben auf alle Fälle zusammen.“

Sarah hatte den Vorschlag grundsätzlich vernünftig gefunden. Ihr war allerdings nicht entgangen, dass ihr Bruder „auch aufgelauert“ gesagt hatte. Sicher: Dass sie wegen der Inquisition aus ihrer Heimat fliehen mussten, war ihr bewusst. Dass sie in den deutschen Herbergen dauernd auf einen Mönch trafen, war ihr ebenfalls aufgefallen. Aber warum sollte dieser Dominikanermönch auch ihnen auflauern? Sarah beendete ihre Gedanken und stellte ihrem Bruder genau diese Frage.

Alfonso war nicht umhingekommen, Sarah den eigentlichen Grund für die Verfolgung zu erklären: dass Don Miguel an der Finanzierung der Kaperfahrer beteiligt gewesen war, die damals die spanische Silberflotte aufbrachten, wo immer sie gestellt werden konnte. Dringend benötigtes Silber war dem spanischen Hof dadurch verloren gegangen und den abtrünnigen nördlichen Niederlanden, den Feinden, zugutegekommen. Die spanische Krone hatte also allen Grund dazu, Don Miguel und seine Familie zu verfolgen.

Alfonso hatte seiner Schwester mitgeteilt, was er wusste. Ergänzt mit seinen Vermutungen ergab das für Sarah ein durchaus plausibles Bild, wenn es auch nicht ganz der Realität entsprach: Don Miguel hatte eine geheime Abmachung mit Königin Isabella getroffen. Das allerdings konnten beide nicht wissen.

„So hat es Sarah mir erzählt“, dachte Heinrich Schlachmann laut.

„Was hat dir Mutter so erzählt, Vater?“ Michael hatte mitbekommen, dass sein Vater intensiv nachdachte, und konnte jetzt einhaken.

„Ach, Mutter grübelt wieder über dem Handelsbuch – nach so langer Zeit. Warum nur?“

Heinrich war schon wieder in seinen Gedanken versunken. Diese Neuigkeiten hatten sie damals erstaunlicherweise kaum aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihr Vater war schließlich Fernhandelskaufmann und seiner Art nach alles andere als ein Politiker, hatte sie mit der Naivität der Jugend selbstbewusst verkündet. „Wahrscheinlich habe ich mich schon damals in Sarah verliebt“, hielt Heinrich wieder ein kurzes Selbstgespräch und stapfte weiter durch den Regen. Michael musste schmunzeln.

Sarah hatte tief in ihrem Innersten gewusst, dass ihr Vater nicht immer unbedingt legal gehandelt hatte. Sie redete sich aber ein, dass er triftige Gründe dafür gehabt haben musste. Sie wusste schließlich auch, dass die Juden seit Jahrhunderten in Südspanien drangsaliert wurden. Dass ihre Familie konvertiert war, hatte sie einfach verdrängt. Geärgert hatte sie sich im Wesentlichen nur deswegen, weil man sie als Kind angesehen und somit nicht eingeweiht hatte.

Zwei Jahre später haben Sarah und ich geheiratet. Wie das Leben eben so spielt. Heinrich lächelte still vor sich hin. Schade nur, dachte er, wieder ein wenig ernster, dass mein Schwager Alfonso weniger Glück gehabt hat.

Seine Frau war bei der Geburt seines Sohnes Antonio im Kindbett gestorben. Alfonso hatte von Schicksal gesprochen, kümmerte sich liebevoll um seinen Sohn und blieb als Witwer allein.

Im Geschäft hatte er gottlob mehr Glück. Prokurist in der Druckerei von Andreas Duncker ist ja keine Kleinigkeit. Tüchtig, tüchtig, konstatierte Heinrich. Na ja, der junge Herr Duncker hatte auch nie recht Lust auf das Kaufmännische. Genauso wenig wie unser Hinrich zum Büchsenschmieden. „Ein brauchbarer Geselle ist er trotzdem geworden“, brummte Heinrich Schlachmann und befand sich zusammen mit Michael, ohne es recht gemerkt zu haben, bereits vor dem Wirtshaus „Haus zur Hanse“.

Ratsherr Stender stand vor der Tür des Gasthofs und brüllte, sich schüttelnd vor Lachen, Heinrich Schlachmann zu: „Bist du auch schon da, Büchsenschmied? Hattest wohl einen Rohrkrepierer, was?“

Heinrich klopfte sich den Regen vom Umhang und seinem ledernen Hut. Der da hinten im Dunst das Weite sucht, hat einen Gang wie unser zweiter Geselle, dachte Heinrich, den Ratsherren ignorierend. Was aber sollte Otto in dieser Gegend zu suchen haben und dann noch bei diesem Wetter?

Michael, der die Gestalt ebenfalls wahrgenommen hatte, war sich sicher: Es war Otto.

„Was stehst du hier draußen, Kämmerer?“

Heinrich wartete die Antwort nicht ab und ging an ihm vorbei ins Wirtshaus. Michael folgte ihm auf dem Fuße.

Warum der zu unserem Stammtisch gehört, ist mir immer noch nicht klar. Ich war damals nicht dabei, als er dazukam, dachte Heinrich auf dem Weg durch die verqualmte Gaststube. Er soll sich ja förmlich aufgedrängt haben. Camann hatte damals jedenfalls ganz offensichtlich nichts dagegen. Verstehe es, wer will!

„Guten Abend, Heinrich und Michael“, kam es den beiden aus der Runde entgegen. Es waren schon alle da.

„‘n Abend.“

„Du kommst gerade recht“, eröffnete Andreas Duncker. „Wir haben die große Politik am Wickel. Hast Du den AVISO gelesen?“

Michael setzte sich ohne viele Umstände. Große Politik ist gut, dachte er. Das kann ein spannender Abend werden.

„Ja, habe ich, aber erst mal möchte ich ankommen, dann einen Humpen Mumme vor mir haben und dann bin ich bereit, mit euch die Welt zu retten.“

„Recht so!“, rief Camann in die Runde. „Wir wollen immerhin auch Spaß am Stammtisch haben.“

„Er hatte einen Rohrkrepierer“, mischte sich Kämmerer Stender ein, der gerade wieder hereingekommen war. Brüllend vor Lachen ließ er sich auf einen Stuhl plumpsen. Keiner der Anwesenden fand es wirklich lustig.

„Du hast zu viel getrunken, Kämmerer, schon bevor du hier eintrafst. Was gibt es denn zu feiern?“, fragte der Wallmeister sichtlich ungehalten.

„Geschäfte. Gute Geschäfte“, platzte es aus dem Kämmerer heraus. Unmittelbar nach diesem letzten Ausbruch wurde er plötzlich merkwürdig still.

Michael verlegte sich aufs Zuhören und Beobachten und machte sich so seine Gedanken.

Heinrich dachte sich nach dem ersten großzügigen Schluck Mumme seinen Teil. Wir sind schon eine illustre Runde. Da ist Camann, der Justiziar der Stadt Braunschweig. Er kommt auch manchmal zu uns nach Hause und Sarah und ich besuchen ihn auch hin und wieder. Dass er als Justiziar einem höheren Stand angehört, interessiert ihn nicht. Sonst wäre er ja auch nicht an diesem Stammtisch. Michael darf sich oft Bücher aus seiner Bibliothek leihen. Warum Ratsherr Stender als Kämmerer der Stadt so viel Wert darauf legt, dabei zu sein, weiß ich nicht. Ein unangenehmer Kerl! Er soll aber was können, wie man hört.

Heinrich Schlachmanns Blick traf auf Duncker.

Ja, unser Duncker. Verleger und Drucker seines Zeichens. Seine Geschäfte gehen gut. Unsere Familien sind befreundet. Alfonso arbeitet als Prokurist bei ihm.

Dann nahm Heinrich seinen Krug Mumme und prostete seinem Nachbarn, dem Wallmeister, zu.

Ein besonnener Mann, der aber auch mal ausrasten kann, wie eben bei Stender. Feine Pinkel sind nicht seine Sache und den Kämmerer sieht er als solchen an. Heinrich nahm einen weiteren Schluck Mumme.

Dass der Zeugherr Zacharias Boiling dabei ist, versteht sich von selbst. Schließlich ist er Mitbesitzer vom „Haus zur Hanse“, nachdem er die Wirtin und Witwe Haberland geheiratet hat. Ein integrer Mann, der wegen immer wieder drohender Kriegsgefahr nicht müde wird, auf die Schwächen unserer Geschütze hinzuweisen und überhaupt der veralteten Ausrüstung im Zeughaus. Ansonsten schweigt Boiling meistens.

Das war nun mal die Runde und so würde sie auch bleiben. Was ein Braunschweiger einmal entschieden hat, ändert er so schnell nicht wieder, schloss Heinrich seine Gedanken ab.

In der Gaststube war es warm, fast zu warm. Das Feuer prasselte nur so im Kamin. Tabakrauch hing in der Luft.

„Prost zusammen!“ Heinrich nahm den Faden wieder auf, den zuvor Andreas Duncker gesponnen hatte. „In der Zeitung war zu lesen, dass der niedersächsische Raum kaiserlich geworden ist. Nun, das wissen wir ja alle. Allerdings haben wir Braunschweiger uns bisher erfolgreich gegen eine kaiserliche Besatzungstruppe gewehrt. Wir sind weiterhin eine offene Stadt. Übrigens: Magdeburg auch!“

„Offen ist unsere Stadt schon – für die Katholischen“, warf der Wallmeister ein. „Die kaiserlichen Offiziere verkehren jedenfalls ungehindert in ‚Friedrich Ulrichs offener Schankstube‘“.

„Daher der Name ‚offen‘“ blubberte der Kämmerer Stender dazwischen. „Nach der Schlacht bei Lutter sind wir eben auch ‚offen‘ zu den Kaiserlichen übergegangen und seitdem gut katholisch – wie wir Braunschweiger sagen.“

Diesmal lachten alle.

Heinrich fuhr fort. „Es heißt im AVISO, dass Ferdinand – na ja, eigentlich Wallenstein da oben im Norden – die dänischen Truppen unter Christian IV. besiegt hat. Jetzt soll der Kaiser über ein Restitutionsedikt nachdenken. Es soll angeblich schon im März 1629 in Kraft treten. Dann müssten wir Braunschweiger die katholischen Kirchengüter zurückgeben, etwa das St. Ägidienkloster. Da gehören immerhin ziemlich große Ländereien dazu.“

„Also nächstes Jahr schon? Wenn das passiert, setzen sich wieder die Pfaffen bei uns fest“, kommentierte Duncker ohne besondere Leidenschaft. „Mir wäre das eigentlich wurscht. Wichtiger wären mir mehr Druckaufträge. Aber der Herzog lässt ja bei Julius Adolph von Söhne in Wolfenbüttel drucken.“

„Den Herzog lass mal ruhig in Wolfenbüttel bleiben“, schmunzelte Heinrich.

„Hast ja recht, aber den AVISO druckt er auch“, ließ sich Duncker noch einmal vernehmen.

„Da macht euch mal keine großen Sorgen“, mischte sich endlich Camann ein.

Augenblicklich wurde es ruhiger in der Runde. Wenn der Justiziar etwas zu einem ernsteren Thema beitragen wollte, war es immer wohl überlegt. Auch Michael spitzte die Ohren.

„Erinnert ihr euch noch an den Kanonendonner von Lutter am Barenberge? Man konnte ihn bis in die Stadt hören. Wir sind damals, Rat und Landesherr in trauter Eintracht, eben typisch braunschweigisch, offen zu den Kaiserlichen übergegangen. Haben dreißigtausend Taler gezahlt und Lebensmittel zum halben Preis für das Tilly-Heer geliefert. So sind wir allerdings einer Besatzung entgangen.“

„Komm endlich zur Sache“, drängte Duncker.

„Der Rat hat sich im Frühjahr schriftlich an den Feldherrn, Sieger von Lutter am Barenberge, Graf Tilly, gewandt und darum gebeten, Zeit zu gewähren, weil wir ein so wichtiges Thema mit den verbündeten Hansestädten erst besprechen müssten. Bis dahin möge es bei der freien Ausübung der Konfession gemäß Augsburger Ver…“

„Geht es auch ein bisschen weniger umständlich?“, grinste der Wallmeister.

„Schnell, Wirt, eine Runde Mumme, bevor die Vorlesung weitergeht“, mischte sich einmal mehr der Kämmerer ein.

„Gut, meine Herren. Wichtiger ist ohnehin etwas anderes. Aber noch mal schnell abschließend: Tilly ist Soldat und kein Politiker. Nach meiner Einschätzung wird er die Angelegenheit an die kaiserliche Kommission …“

„Camann, was ist wichtiger?“, schnaubte jetzt der Wallmeister.

„Hmmh, ja, ich will es mal so sagen:“

„Dann sag es“, forderte jetzt auch Heinrich.

Michael staunte ein wenig über seinen sonst so gelassenen Vater.

„Für einen dauerhaften Ausbau der Kaiserlichen – oder sollte ich sagen: der habsburgischen Macht“, (Geraune am Tisch), „ist es wichtig, sowohl Braunschweig als auch Magdeburg zu besitzen. Wir konnten uns bisher erfolgreich wehren wie schon fast immer auch gegen unseren Landesherrn und haben unsere Selbstherrlichkeit bis zum heutigen Tage behalten. Wie übrigens fast alle Hansestädte. Anders steht es um Magdeburg. Die Stadt wird schon seit Monaten belagert. Tilly muss erst Magdeburg einnehmen, bevor er an andere Überlegungen herangeht. Die Stadt ist für ihn eine feindliche Festung geworden. Sie haben sogar eine schwedische Besatzung in ihren Mauern aufgenommen, um sich zu verteidigen. Tilly kann nicht anders. Er muss Magdeburg einnehmen.“

Wir beliefern die Kaiserlichen sogar mit Waffen und Munition, ihr Besserwisser. Das sind Geschäfte. Gute Geschäfte, dachte Kämmerer Stender grinsend.

„Du siehst erstaunlich fröhlich aus bei so einem ernsten Thema“, brummte der Wallmeister wieder.

Michael erinnerte sich jetzt, den Kämmerer in letzter Zeit häufiger mit dem Zeugherrn gesehen zu haben. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, haben sie doch beruflich miteinander zu tun, dachte er. Aber jedes Mal war offenbar ein Streit im Gange. Zeugherr Boiling hatte dabei immer wild gestikuliert. Das war so gar nicht seine Art.

„Im AVISO stand auch, dass man ein Mönchlein im Bordell entdeckt hatte. In Prag soll das gewesen sein. Ob der auch einen Rohrkrepierer hatte“, schüttelte sich Stender vor Lachen.

„Lasst ihn doch. Er ist betrunken“, kam es mehrfach aus der Runde.

Etwas versöhnt ließ sich der Wallmeister wieder vernehmen: „Der Krieg geht schon seit 1618, seit dem Prager Fenstersturz. Wir sind zwar im Moment politisch gut katholisch, aber immer noch evangelisch und vor allem sind wir eine freie Stadt. Wir werden von den Kaiserlichen nicht mal belagert. Mit unserem Herzog hatten wir dagegen schon hin und wieder mal das Vergnügen, was ihm allerdings nichts genützt hat.“

„Der große Krieg kommt auch in den Norden. Verlasst euch darauf!“, bemerkte der Kämmerer relativ ernst.

„Ist er ja schon“, kam es von Heinrich.

Ihn machte das Gespräch langsam ziemlich nachdenklich.

„Bis jetzt hatten wir glückliche Tage. Wenn nur der Bruder des Herzogs, der tolle Halberstädter, nicht so ein Kriegstreiber gewesen wäre! Man sagt, er schwärmte damals für die Gattin des Winterkönigs und prompt zog er als neunzehnjähriger Dragonerhauptmann mit in die Pfalz, um König Matthias zu unterstützen.“

„Pass auf, dass du keinen Hochverrat begehst, sonst geht es dir wie seinerzeit Brabandt.“

„Papperlapapp, Kämmerer“, schimpfte Camann sofort los.

Der Bürgerhauptmann Brabandt hatte damals eine Gruppe unzufriedener armer Teufel angeführt. Man nannte es dann Anstiftung zur Aufruhr und Eingehung eines Bündnisses mit dem Teufel. Unter Folterqualen hatte Brabandt alles zugegeben. Er wurde bestialisch auf dem Hagenmarkt in den Tod geschickt. Erst wurde ihm der Schwurfinger abgehauen, dann entmannte man ihn mit glühenden Zangen. Schließlich schnitt man ihm den Bauch auf und riss ihm das Herz heraus. Der Körper wurde anschließend enthauptet und dann gevierteilt. Dass der Pastor von der Katharinenkirche der Hinrichtung einen Gottesdienst vorausgeschickt hatte, machte das Ereignis auch nicht erfreulicher.

Jeder in der warmen, verqualmten Schankstube kannte die Geschichte.

„Mein Bruder Johann war dabei“, setzte Heinrich Schlachmann an, „als der tolle Halberstädter, Herzog Christian, 1621/22 durch die hessischen und westfälischen Lande zog. Mehr raubend und plündernd als Krieg führend bis auf kleine Gemetzel. Johanns junge Frau, die im Tross als Marketenderin mitzog …“

„Als Marketenderin, so, so“, schnalzte der Kämmerer süffisant.

„Wenn du nicht endlich dein Schandmaul hältst, geht es dir wie Albrecht von Vechelde“, giftete ihn der Wallmeister an.

Das war lange her, aber auch diese Geschichte kannte jeder und dennoch wurde sie immer wieder gern erzählt. Von Vechelde wurde am Tag nach dem Andreasabend mit einem Weißbierkrug von einem gewissen Henning Hoppner erschlagen. Am Andreasabend, dem 30. November, fanden immer die Wahlen der neuen Bürgerhauptleute statt, die nun wiederum Einfluss auf die Zusammensetzung des Rates hatten. Da wollte wohl einer das Wahlergebnis auf seine Weise beeinflussen.

„Also der Tross wurde angegriffen: von Bauern. Sie waren die Einquartierungen, auf die Plünderungen und nicht selten Feuersbrünste und Vergewaltigungen folgten, leid und fingen an, sich zu wehren. Alle im Tross wurden erschlagen. Alle! Mit Dreschflegel und Sensen und was weiß ich noch. Später bei Stadtlohn, als Tilly den Halberstädter vernichtend schlug, hat Johann sich noch eine Kugel in den Unterschenkel eingefangen. Seitdem hinkt er. Unseres Herzogs Bruder, der tolle Halberstädter, wollte sich damals mit den Niederländern verbünden. Na, daraus wurde nichts – so viel zum Krieg, den wir alle nicht miterlebt haben. So sollte es auch bleiben.“ Aus der Stammtischrunde kam zustimmendes Gemurmel.

„Warum hat sich Johann damals eigentlich anwerben lassen?“, wollte Andreas Duncker wissen. „Er war doch Büchsenschmied wie du.“

„Du kennst die immer wiederkehrende Geschichte, Andreas.“

„Ihr kennt sie alle“, mischte sich Camann ein. „Der Ältere übernimmt das Geschäft und der Jüngere will nicht als Geselle unter ihm arbeiten. Also geht er in die Fremde.“

„Aber gleich in den Krieg?“, meinte der Wallmeister.

„Jedenfalls haben die Feldzüge des Herzogs Christian, auch Bischof und Administrator von Halberstadt, unseres Herzogs Bruder, der tolle Halberstädter genannt … “

„Caaamannn!!!“

„Jedenfalls haben seine Feldzüge seinerzeit den Niedersächsischen Kreis mit in den Krieg hineingezogen. Der Kreis musste schließlich zu einem erheblichen Teil für Waffen und Ausrüstung sorgen. Und genau das kann uns wieder passieren!“

Alle sahen Camann aus erstaunten Gesichtern an. Der setzte seine Justiziarmiene auf und fuhr auf die ihm eigene joviale Art fort.

„König Gustav II., Adolf von Schweden hat offenbar Lust, die Kriegswirren noch zu vergrößern. Er ist ja nicht aus Spaß bei Peenemünde vor der Pommerschen Küste mit dreizehntausend Mann gelandet. Der hat seine eigenen Interessen.“

Heinrich konnte nicht mehr an sich halten, sonst wäre er geplatzt. „Es kann mir keiner erzählen, dass es um den rechten Glauben geht, bestenfalls vordergründig. Dem Habsburger geht es um die Macht und um weiter nichts. Katholisch hin oder her. Er soll nur aufpassen, dass sein eigener Generalissimo Wallenstein ihn nicht unterbuttert. Man hört ja so einiges von den Fernhändlern. Gustaf Adolf ist auch nicht anders einzuschätzen, evangelisch hin oder her. Zu leiden haben immer die Bauern, Soldaten, Frauen und Kinder. Nein, wir alle!“

Heinrich war ein ruhiger, besonnener Mann. Wenn er etwas sagte, hatte es Hand und Fuß. Das wussten alle. Sein Äußeres verstärkte möglicherweise den Respekt, den man ihm entgegenbrachte: seine stämmige, etwas gedrungene Figur etwa. Wenn seine Glatze, die er vorzuweisen hatte, einen Hauch von Haarkranz bekam, ließ er ihn sofort von Sarah abrasieren. Manchmal übernahm das auch Michael. Das wusste natürlich keiner.

Der Ratsherr und Kämmerer Stender stolperte die Treppe vom „Haus zur Hanse“ herunter und stürzte fast, hätte ihn Camann nicht am Arm gepackt. „Was hast du eigentlich für Geschäfte, Ratsherr? Du bist doch unser Kämmerer. Geschäfte stehen da doch nicht an, oder?“ Stender riss sich los und meinte, deutlich nüchterner wirkend: „Ach was, war nur so ein Gerede. Habe wohl zu viel getrunken. Nichts für ungut, die Herren. Bis zum nächsten Stammtisch!“

Leicht torkelnd entfernte sich der Kämmerer. Heinrich sah Camann an, sagte aber nichts. Man würde später bei einem privaten Besuch darüber sprechen.

Die ihre Seele töten

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