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Ich habe wieder mal das Haus verlassen – nein, nicht zu einem Spaziergang! Sondern um etwas zu suchen; nur was ich suchte, das wußte ich nicht. Vielleicht wollte ich insgeheim zu Lehrer Hofer. Ich hatte auch schon die Richtung eingeschlagen. Doch dann schwenkte ich zmal ab und landete auf dem Kirchhof. Und da – was zog mich dahin? Laß die Toten den Toten, heißt es. Ach, wenn das so einfach wäre. Tot ist doch nicht bloß tot. Auf eine Art leben alle Toten weiter – in der Erinnerung; in ihren Taten, die sie zu Lebzeiten vollbracht haben. Alle, wirklich alle? Auch die Tausende, die Millionen von Grafeneck und sonstigen Lagern? Ja, das glaube ich! Und eine Zeitlang leben die Toten sogar auf ihren Grabsteinen, die ihnen freilich Lebende gesetzt haben.

Ach, wenn das immer so leicht wäre, zu unterscheiden, wer lebt und wer wirklich tot ist. Man kann auch vor dem Tod tot sein und dann nur noch auf das Datum warten. Zwiefalten zum Beispiel: Da siehst du Leute, die fegen Jahr um Jahr immer die gleiche Stelle im gleichen Flur. Mit dem gleichen Besen. Nur der Besen nutzt sich allmählich ab und wird irgendwann einmal ausgetauscht, und vielleicht sind eines Tages auch die Leute ausgetauscht. Aber das merkst du nicht, weil die alle gleich aussehen, den gleichen Gesichtsausdruck haben – und die gleiche Freude am Leben. Ja, das glaube ich auch: die haben alle Freude am Leben, nur können sie es nicht so offen zeigen wie wir andern. Wir? Andere?

Dann stehe ich plötzlich auf dem Burgberg und schaue hinab, schaue hinab auf das Dorf im Tal und hinüber auf das kleine Dorf von meinem Ähne und meiner Ahna. Wenn es für mich Unvergängliches gibt – jenseits von Leben und Tod, dann ist es das: diese beiden Dörfer; dieses Tal, diese Berge und Wälder, und es ist die Kirche, und es ist das Rathaus. Und es ist auch die Schule, obwohl ich sie nie besucht habe. Wie frei und selbstbewußt sie neben der Kirche steht! Ja, sie darf das; sie darf sich als einzige erheben neben der Kirche. Nicht die Fabriken; nicht ihre Kamine, die frechen!

Das ist die Zeit, in der man etwas ungeduldig wird: die Kirschen sind verblüht, es dauert aber noch, bis die ersten – »balde Kiischa«: Frühkirschen – reif sind. Jetzt ist noch alles grün: die Blätter, das Gras und die Kirschen. Die Kirschen sind hart und so groß wie nachher allein die Kerne. Der Feldschütz? Nein, der kommt auch erst später.

Mein Blick fallt wieder auf die Schule – Adolf-Hitler-Schule oder wie sie in dieser Zeit geheißen hat-, und ich erinnere mich an einen Tag im Jahr 1947 oder 1948. Ich trottle über den Schulhof. Da fliegt ein Flügel der schweren Holztür über dem steinernen Treppenaufgang auf, und eine Horde von Buben springt heraus, wirft ihre Schulranzen die Staffel hinab und rennt selber hinterher. Als sie mich bemerken, ruft einer:

»Komm, Karl, jetzt bischt du uss dr Schual.«

»Waa bee i?« frage ich.

»Du bischt uss dr Schual! Ond miar älle gange jetzt uff da Burgbärg ...«

»Ond waa do dua?« erkundige ich mich, werde aber schon in die Mitte genommen und über die Straße gedrängt. Ein Mordsgeschrei entsteht.

»Do mache miar a Fuiar!« heißt es.

»Waa mache miar do?«

»Dackel! A Fuiar, hosch et ghaert?«

»Jao! Ond waa isch no mit damm Fuiar? Waa kommt do nei?«

»Do kommst du nei, Simpel!«

»Noi; do kommat onsre Schualsacha nei, onsre Hefter ond onsre Biachr. Dia brauch mr jetzt älle nemme. Ond do schmeischt du de deine ao nei.«

»A Biacherverbrennung?« keuche ich den Berg hinauf. »I hao dees Wort amool ghaert. En Berlin hant se so äbbas dao. Ond no hant se ao Leid verbrennt; Juda ...«

»Du Dackel! Haet wand doch koine Juada mae verbrennt; der Krieg ischt aus.«

»Gott sei Dank!«

»Was Gott sei Dank – do nemm dees Schbruchbuach!«

»Ond mei Aufsatzheft«, schreit ein anderer.

Das Feuer brennt, wir stehen drum herum, und allmählich werde ich von der Begeistung angesteckt.

»Flamme empor«, rufe ich und übergebe das erste Heft dem Feuer.

»Halt dei Gosch!« zischt es neben mir.

Ich rieb mir die Augen. Stimmte das oder bilde ich mir das alles nur ein? Sie haben mich aus der Schule entlassen, ohne daß ich je da rein ging, und ich habe für Augenblicke selber daran geglaubt. Und dann habe ich alle meine Unterlagen verbrannt, so daß ich nachher mit leeren Händen dastand. Dann konnte es also wahr sein oder nicht. In keinem Fall war mir geholfen. Aber wie dem auch sei: sie haben mit mir wieder das Michele getrieben. Damit ist es heute aber vorbei.

Der Sonderling

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