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Sieben gen Stuttgart

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Und jetzt denke ich wieder an Zwiefalten und an Xaver – und nicht an das Heim, an Edda, an Paul und alle andern! Nur weil ich an die Toten gedacht habe, denke ich noch weiter zurück.

Eines Tages war Xaver richtig böse. Ich dachte erst, das liege am Wetter: weil gerade schien die Sonne, dann seichte es, und so ging es paarmal hin und her, auf und ab. Aber es lag nicht am Wetter. Xaver hatte etwas erfahren, das ihn aufregte, und er zeigte seine Aufregung offen vor mir.

»Du mit deinem Württemberg«, legte er los.

»Was denn?« fragte ich ganz verdattert: »Was ist mit meinem Württemberg?«

»Da hast du ja nochmal Glück gehabt, mein Lieber. Da, schau: die Burg Grafeneck!«

»Ja, und?«

»Schön, gell? Schön liegt sie da.«

»Ja, schön, sehr schön – direkt zum Reinbeißen.«

»Na, dann beiß doch! Schmeckscht niggs?«

»So verbrannt, stimmts?«

»Da hast du ja nochmal Glück gehabt, sage ich, daß du nicht auf dich selber gebissen hast – nein, nicht auf dich: auf deine Knochen! Auf die auch nicht: auf deine Asche.«

»Meinst du den da drüben mit seinem Kartoffelfeuer: es geht ihm immer wieder aus, aber er versucht es immer wieder.«

»Nein, den meine ich nicht. Ich meine das Feuer in den Öfen in Grafeneck; heben der Burg Grafeneck. Und da meine ich, daß du Glück gehabt hast.«

»Wieso Glück?«

»Über zehntausend von deiner Sorte – kannst du dir eine solche Zahl überhaupt vorstellen?«

»Wenn du Maikäfer sagen würdest oder Raben: das wäre ein ganzer Schwarm, und wenn sich der auf einer Wiese niederläßt, wird es dunkel.«

»Das waren keine Maikäfer oder Raben: das waren Kinder, Buben und Mädchen, auch Große, Erwachsene: Die hat man in grauen Omnibussen dahin gebracht und verbrannt ...«

»Graue Omnibusse: ja, davon habe ich gehört – wann war das?«

»Im Jahr 1940.«

»Im Jahr 1940 – warte mal, das war, da war ich – sechs Jahre alt.«

»Und vielleicht noch kein ganzer Dackel: das war dein Glück!« »Zehntausend« murmelte ich immer wieder vor mich hin, hockte mich auf den Boden und begann versunken Steine zu zählen. Ich weiß nicht, wie lange ich zählte; jedenfalls zählte ich und zählte ich und wußte schon nicht mehr, daß ich zählte. Doch dann meinte ich, auf siebentausend gekommen zu sein. Xaver war verschwunden. Ich mußte ihn aus der Hütte trommeln, und ich sagte ihm, ich hätte bis auf siebentausend gezählt.

»Wieso bis auf siebentausend?« fragte Xaver, immer noch ein bißle narret.

»Weiter bin ich nicht gekommen.«

»Was heißt weiter bin ich nicht gekommen?«

»Ich bin halt nicht weiter gekommen.«

»Wenn du bis auf siebentausend gekommen bist, dann kommst du auch noch bis auf zehntausend.«

»Ich will nicht.«

»Was heißt ich will nicht?«

»Ich will nicht, Xaver: wenn ich nur bis siebentausend zähle, dann sind die fehlenden dreitausend vielleicht noch zu retten.«

»Simpel, du bist ein echter Simpel – ein Dackel bist du! Da war mit Schweigen und Verschweigen nicht zu helfen. Da mußte man schreien. Und man hat ja dann auch geschrien; hat geschwätzt — unter sich zuerst-, und dann hat man auch Briefe geschrieben. Nicht zuletzt deshalb sind die Öfen schließlich verlöscht. Aber sieben – nicht siebentausend: da bringst du mich auf eine Geschichte, die man sich hier erzählt. Nachher waren ja auch noch Kinder da, wurden hergebracht, um hier Schutz zu finden vor den Bomben in den Städten. Und sie blieben bis zuletzt. Aber da war Grafeneck auch nicht mehr sicher. Tiefflieger haben die Kinder verschreckt.«

»Tiefflieger? Im Tal gabs keine Tiefflieger.«

»Aber auf der Alb!«

»Da sind die Berge links und rechts auch nicht so hoch.«

»Darum heißt es auch auf der Schwäbischen Alb und nicht in der Schwäbischen Alb. Das mußte ich auch alles erst lernen und verstehen – verstehen und selber sehen.«

»Drum!«

»Ja, drum! Drum sind sich die Kinder auch wie Ausgesetzte und Gefangene vorgekommen, hatten bald nichts mehr zu beißen und zu kauen. Zur Angst kam der Hunger. Wieviele es zuletzt waren, weiß man nicht. Man kennt nur eine Zahl: sieben! Diese Sieben – sieben Buben aus Stuttgart – sollen übriggeblieben sein, die anderen wurden zum Teil von ihren Vätern oder Müttern abgeholt. Die Eltern der Sieben aus Stuttgart lebten offenbar nicht mehr oder hatten sie vergessen oder konnten nicht kommen. Aber in ihnen wurde das Heimweh immer stärker. So machten sie sich eines Morgens auf den Weg, banden sich alle sieben – so wird erzählt – vor einen Kinderwagen und zogen los.«

»Aber dann müssen sie durch das Tal – dann müssen sie durch das Dorf gekommen sein?«

»Hast du sie gesehen?«

»Nein! Aber das wundert mich schon, daß ich die nicht gesehen hab – die Sieben Schwaben!«

»Glaubst du die Geschichte nicht?«

»Doch, doch, ich glaube sie schon. Ich frage mich nur ... Aber sie müssen durch unser Dorf gekommen sein.«

»Gibt es keine andere Strecke?«

»Freilich gibt es eine andere Strecke. Aber das ist die nächste.«

»Gerade darum sind sie die vielleicht nicht gegangen, oder liefen immer abseits im Wald ...«

»Das kann sein.«

»Zwei Tage lang sollen sie bis Stuttgart gebraucht haben.«

»Und haben sie ihre Eltern gefunden?«

»Ich weiß nicht. So wie Stuttgart damals ausgesehen hat, kann ich mir das schwer vorstellen.«

»Aber Berlin – in Berlin war es noch schlimmer?«

»Berlin – pah! Ein Vater eines Buben soll zu gleicher Zeit von Stuttgart nach Grafeneck aufgebrochen sein –«

»Zu Fuß?«

»Natürlich zu Fuß. Nach deiner Vorstellung hätte er ebenfalls durch das Tal – durch dein Dorf kommen müssen.«

»Da gingen Hunderte rein und raus. Wie soll ich von jedem gewußt haben, wohin er will, und fragen wollte ich auch nicht. Da wäre ich ja gar nicht fertig geworden mit fragen!«

»Dieser eine Vater – vielleicht gab es noch andere – fand Grafeneck leer und mußte verzweifelt umkehren. Da, schau nochmal hinüber, Karl, bevor es dunkel wird: die Burg hat Geld gekostet. Für die hat der Herzog Christoph mehr Geld ausgegeben als für die wichtigeren Festungen Hohentwiel und Hohenneuffen. Nur das Stuttgarter Alte Schloß war teurer, habe ich nachgelesen. Und der Wein, der da gesoffen wurde, die Göckele und die Hirsche, die da gefressen wurden bei den Festen nach 1765: wenn man das alles zusammenrechnet – und den Tod der Kinder und Dackel, dann kommt unterm Strich doch mehr heraus als beim Stuttgarter Alten Schloß. Der Bau ist ja jetzt nicht mehr der gleiche. Der ist neu. Die alten Gebäude – das war nicht nur ein Haus, sondern schon ein kleines Dorf aus Kasernen, Ställen und Kapellen – mußten vor über hundert Jahren abgerissen werden, weil alles zu schnell und zu leicht gebaut war.«

»Und jetzt? Halten die Mauern?«

»Du kannst ja mal dran wackeln.« Jetzt lachte Xaver wieder und ich mit ihm.

»Hast du keinen neuen Film?« fragte ich.

»Morgen wieder«, erklärte er, und das hieß ich mußte gehen.

Der Sonderling

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