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Erinnerungen – gute und schlechte
ОглавлениеIch habe Ihnen schon gesagt, und ich sage es nochmal: es tut gut, sich so zu erinnern, und zwar so genau wie möglich — an alles: an das Gute wie an das Schlechte! Das macht frei – für Neues.
Aufschreiba, haben Sie damals gesagt, Herr Kommissar, ich weiß noch sehr gut. Aber damals, 1948, nach dem Vorfall in den Wiesen, durch den wir im Stuttgarter Polizeigewahrsam zusammengekommen sind, konnte ich noch nicht schreiben. Die ganzen Jahre habe ich daran gedacht, und ich habe mir gesagt, irgendwann einmal werde ich alles aufschreiben – das, was nach unserer Begegnung passiert ist!
Doch das kannst du dir hundertmal sagen und tausendmal. Da muß noch einer oder eine dazukommen, die sagt: tus! Karl, tus!
Und die da dazukam und mir das sagte, heißt Lena – mit Betonung auf »e«, das »a« ganz dumpf gesprochen und kurz wie in ... aber auf Hochdeutsch fällt mir kein Wort ein. Lena ist eine jüngere Frau vom Ort; Fabrikarbeiterin – sie kommt öfters ins Haus, das heißt zu meiner Mutter, so wie früher schon ihr Vater unter dem Krieg ins Haus kam zum Schaffen, und so wie ich in ihrem Haus mehrmals war.
Lena brauchte bei uns nichts schaffen, der Haushalt mit Landwirtschaft war bei weitem nicht mehr so groß wie damals. Sie kam halt – aus Gewohnheit, aus Verbundenheit. Denn daß meine Mutter und sie Freundinnen waren, das möchte ich nicht sagen, dafür war der Altersunterschied doch zu groß.
Und dann, wenn Lena kam, setzte ich mich mit meiner Mutter zu ihr an den Tisch, oder Lena sah mich in der Zimmerecke hocken und lesen. Dann fragte sie: »Was machscht?«
»Lesen«, antwortete ich.
»Und das geht jetzt?«
»Ja«, sagte ich.
»Und schreiben auch?«
»Ja.«
»Und was liescht? Romane?«
»Nein, ich mag keine Romane.«
»Aber ich hab Romane gern; Liebesromane in so kleinen Heften. Soll ich dir eines ausleihen?«
»Ich mag sie nicht.«
»Wenn du die Geschichten nicht magst, dann schreib doch selber welche.«
»Wozu?«
»Oder du hast doch schon genug erlebt: schreib darüber.«
»Für was?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich hab nur gehört, daß man darüber schreibt, wenn man etwas erlebt hat und Talent hat zum Schreiben.«
»Ich hab aber kein Talent zum Schreiben.«
»Das weiß man vorher nie. Aber mach, was du willst, Karl. Jedenfalls hättest du jetzt Zeit, solange es mit dem Geschäft nicht klappt.«
Ob Sie es glauben oder nicht – Herr Hofer, Herr Maier: das hat gezündet! Seitdem sitze ich da und schreibe. Tatsächlich habe ich auch schon an Romane gedacht – auch an Liebesromane aus fernen Ländern. Aber das ist jetzt dringender. Und wenn ich wieder ins Geschäft gehe, dann habe ich sowieso weniger Zeit.
Schon im Heim habe ich mir Notizen über alles gemacht – das habe ich der Lena natürlich nicht gesagt. Das sollte auch keinen großen Zusammenhang geben sällmals. Nein, das waren einfach meine Gedächtnisstützen, so wie man einen Apfelbaum mit Stangen stützt, wenn seine Äste voller Äpfel hängen und herabzubrechen drohen. Dann gibts nämlich im nächsten Jahr nichts.
Vieles habe ich schon verbrannt, weggeworfen, und wer weiß, was ich am Ende mit diesen Aufzeichnungen mache. Die muß mir schon jemand aus den Händen reißen, damit sie ganz sicher weitergereicht werden. Weitergereicht werden an wen und wozu? Weitergereicht an meine Mutter – vielleicht! Sie fragt mich kaum, wie es war und was geschah. Das läßt ein so großes Schuldgefühl in mir aufkommen. Doch von selber möchte ich auch nicht reden – aus Scham! Und wenn sie mich dann eines Tages wirklich fragt, dann reiche ich ihr die beschriebenen Blätter.
Und wozu? Daß sie sieht, und daß es auch andere nachlesen können, wie sehr sie mir geholfen hat in meinem Leben: auch und gerade durch ihr Schweigen – durch ihr stummes Erdulden.