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Gewitter im Mai oder »Abgang«

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Herr Hofer – sind Sie noch da?

Ich bin noch da!

Wo sind Sie?

In deinem Kopf.

In meinem Kopf? Das kann aber nicht so bleiben: Entweder kommen Sie heraus oder ich komme hinein.

Das kommt ganz auf dich an.

Ja, soviel habe ich inzwischen begriffen. In der Burg habe ich nicht nur gesungen – gearbeitet, heimlich geraucht, Sport getrieben (Hallenhandball auf dem Hof zwischen Gefängnismauern). Da habe ich auch gelesen: Romane, Biografien. Vor allem im »Abgang«. Von Heuberg her wissen Sie doch, was »Abgang« ist? Das ist kein Abgang für Wasser; ein Abgang in die Tiefe oder so. Sondern das war in der Burg ein kleiner Gebäudeflügel, in den man verlegt wurde, bevor man entlassen wird. Und gegenüber ist der »Zugang«: da sind die Neuankömmlinge. Die kommen dann morgen oder übermorgen in unsere alten Zellen – Einzelzellen oder Gemeinschaftszellen, wenn sie Glück haben.

Und da, im »Abgang«, hat man ja Zeit; man muß nicht schaffen; nicht in die Werkstatt; nicht auf ein Kommando: da braucht man nur zu essen und dazuliegen. Und beim Liegen kann man schlafen – oder etwas lesen. Und an das letzte Buch, das ich da gelesen habe, erinnere ich mich sehr genau, das heißt an die Geschichte. Sie hat mich damals tief berührt.

Es ging da um einen Mann aus einem Dorf; er fahrt zur See, steigt vom Schiffsjungen auf zum Offizier der Handelsmarine und schwimmt über alle Weltmeere. Nach Jahren – Poldi heißt der Mann – kehrt er zu einem Urlaub in sein Dorf zurück – aber halt, halt, was hätte das mit mir zu tun? Ich bin doch hier nicht auf Urlaub, oder doch? Jedenfalls kommt der Mann wieder heim – statt Poldi könnte er auch Fritz oder Karl heißen, meinen Sie? Eins ist richtig: zur See – wenigstens bis zur See – wollte ich auch! Also: Im Dorf trifft Poldi das Dorle wieder, jenes kleine Mädle, das er einmal aus dem Wasser gefischt hat. Das ist inzwischen ein richtiges Fräulein geworden mit langen blonden Haaren und zwei geballten Fäusten unter der Bluse in Brusthöhe ... Es war im Mai. Und wie häufig im Mai gibt es ein Gewitter, das zerstört Blüten und Blütenträume. Das Schicksal nimmt einen ganz andren Verlauf, als der Leser nach den ersten Kapiteln ahnt. Ich habe das Buch damals verschlungen, und ich fühlte mich den beiden ganz verbunden.

Du also wärest auch Poldi – und wo wäre das Dorle?

Ja, das ist die Frage. Vielleicht gibt es sie schon, und ich weiß es nur nicht.

Wenn Sie erlauben, Herr Hofer, so mache ich einen zweiten Sprung ins Heim. Der Paul ist ja auch ein belesener Mann, und mit dem habe ich auch – an den genauen Anlaß erinnere ich mich nicht mehr – über das Buch gesprochen.

»Paul, kennst du >Gewitter im Mai<?«

»Mai – Juni, Juli, August! Es soll auch im Herbst Gewitter geben. Und im April.«

»Ich meine das Buch?«

»Was für ein Buch?«

»Das Buch >Gewitter im Mai< –«

»Das ist kein Buch. Das ist ein Roman. Ob ein guter oder ein schlechter – wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dir den Autorennamen merken. Der ist oft wichtiger als der Titel.«

»Ludwig Ganghofer! –«

»Also – was ist mit dem Roman?«

»Den habe ich gelesen.«

»So? Na ja ... Wohl sonst nichts zu tun gehabt.«

»Ein reiner Zufall ... Der Titel hat mir gefallen.«

»Und wo hast du ihn gelesen?«

»Im Abgang der Burg.«

»Im Abgang der Burg: in deinem ersten Heim?«

»Nein, in meinem zweiten.«

»Was willst du nun sagen? Willst du mit mir über den Roman >Gewitter im Mai< diskutieren? Dann bin ich nicht der richtige Partner. Ich halte nämlich nicht viel von Ganghofer.«

»Ich will doch mit dir nicht diskutieren, Paul. Da stände ich schön da.«

»Warum fragst du dann?«

»Nur so! Das Buch – den Roman von Ganghofer – habe ich gelesen.«

»Was hast du behalten?«

»Da war ein Gewitter im Mai ...«

»Hör auf! In jedem Monat gibts Gewitter.«

»In jedem? Bist du sicher? Aber doch nicht im Winter?«

»Ach, irgendwo in Afrika oder auf den Fidschiinseln.«

»Warst du da auch schon, auf den Fidschiinseln?«

»Wo soll ich denn schon überall gewesen sein?«

»Im Krieg kommt man viel herum, heißt es.«

»Aber nicht auf die Fidschiinseln.«

»Aber andere Inseln! Jetzt sag mir: gibt es wirklich in jedem Monat Gewitter?«

»Wozu willst du das wissen? Hast du da etwas erlebt?«

»Ich habe den Roman von Ganghofer >Das Gewitter im Mai< gelesen. Und da war ein Gewitter im Mai, sonst würde die Geschichte nicht so heißen. Ich habe noch mehr Bücher und noch mehr Romane in der Burg gelesen. Eine Geschichte spielte im Urwald oder in der Taiga ... Kennst du die Taiga?« »Taiga: die Pflanzenformation der osteuropäisch-sibirischen Waldgebiete zwischen mittlerer Wolga und Ochotskischem Meer; mit Nadelhölzern, Eschen, Espen, Birken –«

»Und Tiger! Tiger auf Felsen und auf Schleichwegen ...«

»Ach, was du bloß liest!«

»Was soll ich denn lesen?«

»Das Kochbuch!«

Was für ein Kochbuch, wollte ich fragen. Aber es hätte keinen Sinn gehabt: wenn Paul einmal zu einem Entschluß kam, dann blieb er dabei, egal was hintendrein kam. Doch was konnte im Heim schon hintendreinkommen – und bei diesen Gesprächspartnern? Es gab nur einen, der es mit ihm aufnehmen konnte: das war der Doktor, selber so etwas wie ein Geschlagener; mit der gleichen Ausbildung wie Paul, zudem noch abgeschlossen. Doch von alledem später, Herr Hofer. Mit diesem Ludwig Ganghofer habe ich mich inzwischen doch eingehender beschäftigt. Das ist ja ein Großschriftsteller – die Auflagen, die seine Bücher erreichten, alleine die von »Gewitter im Mai«, erschienen 1904: über achthunderttausend! Dem sein Geld möchte ich haben. Aber er hat ja nicht nur »Gewitter im Mai« geschrieben. Seine 18 Romane erreichten eine Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplaren. Das kann man sich nicht vorstellen, genauso wie man sich eine Million als Geldbetrag nicht vorstellen kann.

Ludwig Ganghofer, 1855 bis 1920, Vertreter der »Heimatkunst«, heißt es da. Was ist das – Heimatkunst? Es wird schon etwas sein, und ich werde es noch erfahren, indem ich mehr von Ganghofer lese – oder durch mein Schreiben? Denn über was berichte ich? Ich berichte über meine Heimat – und über meinen Zug dahin. Gleichzeitig berichte ich aber auch über meinen Drang weg von da. So ist das: man wird von ein und demselben Gegenstand angezogen und abgestoßen.

Fast wie bei Paul, wollte ich sagen. Aber das ist doch etwas anders. Zu seiner Anziehung gehört notwendig der Widerstand gegen diese Anziehung. Das hätte Paul selber so gesehen. Ich habe Paul auch meine ganze Geschichte erzählt – die mit dem Schlittenunfall, nach dem ich neunzehn Tage bewußtlos war und wegen dem ich nicht eingeschult wurde; auch die Geschichte mit dem Nazi-Bürgermeister und dem Ortsgruppenleiter der NSDAP, die ich 1948, wenige Monate vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in unseren Wiesen hier auf der Sommerseite des Tals erschossen haben soll, und ich habe ihm auch von dem Kommissar Maier in Stuttgart erzählt, der mich verhört hat, um herauszubekommen, ob ich bei der Tat normal war oder nicht; ob es Zufall war oder ob ich aus Rache gehandelt habe.

Rudolf Maier, wie der Stuttgarter Kommissar hieß, hat seine Arbeit sehr genau genommen – vielleicht zu genau! Das hat ihm in den folgenden Jahren zu schaffen gemacht.

Der Sonderling

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