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Echte Photographie

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Ich habe hier eine Karte vor mir liegen, eine Ansichtskarte – »Echte Photographie« heißt es neben weiteren Herstellerangaben auf der im übrigen unbeschriebenen Rückseite. Die Karte zeigt das Heim aus der Luft von schräg oben wie aus einer Wolke oder von einem hohen Baum herab.

Auf dem Bild gibt es sehr viele Bäume: sie umstehen das Heim in Gruppen, säumen Wiesen oder Straßen und Wege, die diese Wiesen durchschneiden. Man muß aber schon genauer hinschauen oder sich in dieser Landschaft etwas auskennen, um die Verbindungslinien unter den Bäumen nachziehen zu können. Nicht einmal zu ahnen ist die Landstraße, die von der Stadt her am Heim vorüberzieht. Man sieht von daher nur einen Weg kommen: das ist die Einfahrt, darüber spannt sich ein Holzbogen. Der Weg, ein Kiesweg, wird dann zum Heim hin zunehmend breiter und weitet sich immer mehr zu einem Hof, zu einem Freiplatz um das Heim herum aus.

Das ist aber alles so unbelebt und unbewohnt. Auf der Uhr über dem Haupteingang im zweiten Stock ist es sechs Minuten vor zehn. Eine weitere Uhr, eine Sonnenuhr, prangt in gleicher Höhe auf der Längsseite des Gebäudes über einem kleinen Balkon. Das ist das Zimmer des Heimleiters. Auf dem Balkon bin ich noch nie gestanden. Aber ich war natürlich schon ein paarmal in dem Zimmer drin, gleich am Anfang und dann nachher, um mir eine Versecklete abzuholen. An dem steinernen Geländer neben der Treppe zum Eingang lehnt ein einzelnes Fahrrad. An der vorderen Hausecke, unter dem Balkon mit der Sonnenuhr darüber, warten drei Leute – Buben, oder was sind das? Einer trägt eine Lederhose. Sie stehen da und blinzeln zu dem Fotografen herauf. Aber sonst ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Die Fenster des Hauses sind geschlossen, so als sei es verlassen oder würde in Kürze erst bezogen. Diese drei sind die letzten oder die ersten. Und wo bin hier ich? Aber dann paßt dieses Türmchen auf dem Dachfirst nicht dazu – oder es paßt doch: da drin hängt die Glocke, die zum Essen und zu dem Tischgebet ruft.

Aber nur Geduld: ich komme gleich, komme in der Oktoberhitze die Straße aus der Stadt herauf. Ich komme nicht allein. Es ist noch einer bei mir, auch ein Heimbewohner und mein erster Zimmergenosse, den ich zwischen Heim und Stadt getroffen habe. Wir hatten das gleiche Ziel: er kehrte dahin zurück und ich wurde dahin geschickt.

Der Sonderling

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